Titelthema
Wie böhmisch ist die Wiener Küche?

Es gibt immer weniger Lokale, die die Vergangenheit kulinarisch bewahren. Aber hier und da bekommt man noch Liwanzen, Powidltatschkerln oder Skubanki
Kann man Integration und kulinarische Symbiose perfekter formulieren als in dem Nostalgie-Ohrwurm, mit dem einst Peter Alexander brillierte? Tatsächlich ergoss sich spätestens seit dem Bau der ersten Eisenbahnlinien ab 1840 ein unaufhörlicher Strom von Arbeitssuchenden aus dem Königreich Böhmen in die Reichshauptstadt Wien. Schätzungen gehen in die Hunderttausenden – die Ärmsten wanderten die Gleise entlang. Die meisten verdingten sich als Bauarbeiter („Ziegelböhmen“), Dienstleistende, Kellner und vor allem in Haushalten. Der Startvorteil der legendären böhmischen Köchinnen, die oft aus Mähren kamen und manchmal in den Grand Hotels der Kurorte gelernt hatten: Sie konnten meist Deutsch, wenn auch mit „böhmakelndem“ Akzent, und sie hatten häufig einen Kochbuchklassiker im Gepäck, der sie auf die mitteleuropäischen Standards gehobener K.-u.-k.-Küche einstimmte: Magdalena Dobromila Rettigovás (1785–1845) Domácí kuchařka oder Die Hausköchin. Das 1842 erstmals gedruckte Werk erlebte 36 tschechische und fast 20 deutsche Auflagen und wurde auf Märkten in Olmütz, Brünn oder Znaim günstig verkauft.
Doch anders als heute stand die böhmische Einwanderung in die deutsche Reichshälfte unter dem von Franz Werfel geprägten Motto „sacrificium nationis“. Der Verzicht auf das Herausstellen der eigenen Nationalität in der Diaspora ist nicht nur sprachlich, sondern auch kulinarisch spürbar. Die Scharen von Dienstmädchen, die in bürgerlichen Haushalten kochten oder sich erfolgreich mit Beisln selbstständig machten, bestanden nicht auf Flecksuppe, gespicktem Svičková-Rindsbraten und Serviettenknödeln, sondern passten sich an, indem sie die Anforderungen der Dienstgeber oder Stammkunden nach einer allgemeingültigen Kost erfüllten. Auch wenn der Merian Böhmen 1971 die Wiener Küche „als Geheimnis von tschechischen und slowakischen Mädchen“ definiert, ist in den Lokalen der Kaiserstadt weniger von strikter böhmischer Regionalität spürbar als gern propagiert. Der slawische Háček äußert sich eher in Nuancen und Aromen, im Mut, die Speisen mit Knoblauch und Kümmel abzuschmecken, in einer mitteleuropäischen Aura der Gastlichkeit und Gemütlichkeit, im weichen Akzent der Außenbezirke, vielleicht in der Begeisterung für Krautfleckerl, Martinsgansl und Backkarpfen. Und im Kult der Würstelstände mit ihren selten werdenden Burenwürsten, die immer noch auch tschechisch als Klobassa angepriesen werden. Sogar das goldgelbe Wiener Schnitzel könnte eine jüdisch-böhmische Komponente haben, wenn man dem mährischen Jazzpianisten und K.-u.-k.-Nostalgiker Joseph Wechsberg (1907–83) glauben darf, der berichtet, dass in seiner Heimatstadt Ostrau die Juden sonntags Schnitzel und die Christen Schweinebraten speisten.
In einem Bereich schlug die böhmische Kochkunst in Österreich voll durch: bei Knödeln, weiter gefasst bei den berühmten Mehlspeisen, die die katholische Fastenabstinenz versüßten. Genuin böhmisch sind Obstknödel, aber auch Backwaren, gefüllt mit Mohn oder Powidl, der „böhmischen Krönungsschmiere“ aus Zwetschken-Latwerge. Man denke nur an die legendären Mitternachtsbuchteln, die Josefine Hawelka jahrzehntelang in ihrem Café buk! Für eine gelungene Symbiose mit der Gegenwart stehen die Eismarillenknödel von Tichy. Die Eismanufaktur lockt Generationen von Wienern, darunter viele islamische Pärchen, in den Arbeiterbezirk Favoriten, der mit dem schlichten Böhmischen Prater ein Stück Immigrationsidentität bewahrt hat.
Die böhmische Küche hat ein Imageproblem
Auch in Wien ist die Küche der sprichwörtlichen Tante Jolesch auf dem leisen Rückzug. Böhmische Lokale werden wie in Deutschland seltener, nur der Publikumsmagnet Schweizerhaus im Prater verwöhnt Scharen heimischer Stammgäste mit schaumgekröntem Budweiser, gebackenen Stelzen und die Mutigeren mit Prager Kuttelflecksuppe. Die Popularität der in der Steiermark erfundenen Käsekrainer zeugt von einem schleichenden Paradigmenwechsel: Österreich entdeckt kulinarisch seine (alpinen) Bundesländer. Die Wiener Küche, die ein gelungenes Konglomerat aus reichsstädtischen Rezepten, ungarischem Gulasch, italienischem Risipisi und ganz viel böhmischen Aromen ist, ist nicht mehr wie noch in den 1970er Jahren das Maß aller Dinge.
Dazu kommt, dass böhmische Küche als Symbol der guten alten Dienstbotenzeit angeschwärmt wird, aber im gesundheitsbewussten Alltag ein Imageproblem hat. Die fetten Würste, die Fleisch- und Schmalzlastigkeit der Rezepte und dass Köchinnen die Kerne in Obstknödeln durch mit Marillenschnaps oder Sliwowitz getränkte Zuckerwürfel ersetzten, zeugen von einer Üppigkeit, die nicht mehr en vogue ist. Außerdem gibt es ein Sprachproblem. Die böhmische Köchin, 1958 hinreißend gespielt von Annie Rosar in der Werfel-Verfilmung Der veruntreute Himmel, galt als Slawin mit Deutschkenntnissen. Sudetendeutsche betonten gerne, dass sie deutsch kochen. Doch der Begriff Böhmen existiert im heutigen Tschechien praktisch nicht mehr. Während Mähren als Morava und Tschechisch-Schlesien als Slezko für deutsche Zungen erkennbar bleiben, heißt das böhmische Gebiet des Staates schlichtweg Čechy. So fühlen sich weder Deutschösterreicher noch Tschechen eindeutig berufen, das Erbe dieser einst weltberühmten, nun „verwaisten“ böhmischen Küche mutig weiterzuführen, anstatt sie zur nostalgischen Erinnerung verblassen zu lassen. Wäre „Neue Böhmische Küche“ eine Marktlücke? Immerhin, in München hat ein Lokal unter dem neutralen lateinischen Namen „Bohemia“ aufgemacht. Kurzum, nicht nur in Wien ist tschechisches Bier kein Problem, mährischer Wein schon schwieriger, aber wer auf einem Heurigenbuffet Liwanzen, Powidltatschkerln oder Skubanki entdeckt: sofort zuschlagen! Köstliche Raritäten! Für nicht heimatvertriebene deutsche Leser: Skubanki sind Mohnschupfnudeln, die sich selbst genügen, aber leise nach Zwetschkenröster, kurz Powidl, als Beilage rufen.
Peter Peter

Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.
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