Peters Lebensart
Die Ästhetik des Essens

Was zieht Touristen nach Japan? Da stehen an erster Stelle nicht Shinto-Tempel und Ikebana, Fujiyama oder Mangas, sondern der Wunsch, die Küche Nippons zu erleben.
Ein gewaltiger Imagewandel, war doch japanische Gastronomie hierzulande bis vor 20 Jahren exotische Mangelware. Ausgelöst durch den aus Kalifornien herübergeschwappten Sushi-Boom. Der altväterliche Ratschlag „Iss, was gar ist“ wurde auf einmal durch rohen Fisch abgelöst. Zum Erfolg trug das Versprechen leichter schneller Kost, das Angebot von Billiglachs durch die Fischindustrie und moderne Kühltechnik bei. Auch Suppenküchen wie das Londoner „Wagamama“ brachten den Charme Japans in die westliche Hemisphäre: Mögen Sie lieber Udon oder Soba, dicke Weizennudeln oder Buchweizenpasta als Ramen-Einlage? Und schließlich wachten die Gourmets auf, als der Michelin Tokio mit mehr Sternen bedachte als Paris. Was erwartet den Reisenden im Kaiserreich der aufgehenden Sonne? Eine faszinierend ausdifferenzierte Gastronomie: Kaiseki-Restaurants, die ein Gesamtkunstwerk zelebrieren und sogar die Essschalen auf die Jahreszeit abstimmen, versus Automatenbars mit stärkenden Suppen. Izakaya-Bierkneipen, Teppanyaki-Grills mit glatter Herdplatte und Imbisse, die sich auf von portugiesischen Missionaren übernommenes Tempura (lat. tempora – die Fastenzeiten), frisch geschöpften Tofu, grüne Teenudeln, Aal oder buddhistische Klosterküche spezialisieren. Gaststätten, die Sumo-Ringer mit Kraftrezepten aufpäppeln und Adressen, die Fugu oder Kugelfisch zubereiten dürfen. Nicht zu übersehen die Wunderwelt der Bento-Boxen an den Bahnhöfen und Patisserien im französischen Stil, die Matcha-Baumkuchen backen. Und dann ist da noch die Frage Stuhl, Schemel oder Sitzen auf Tatami-Matten?
Mit den Bohnen reden

Gemeinsam ist all diesen Formeln der Wille zur Ästhetisierung des Essens. Es muss nicht immer ein Kranich sein, der aus hauchdünnen Scheibchen vom Kugelfisch auf dem Teller gemalt wird. Jede pralinenschachtelhafte Bento-Box folgt dem Prinzip, Speisen verlockend zu arrangieren. Meist umfasst ein Mahl neben Reis mehrere Leckerbissen in handgetöpferten Schälchen. Während chinesische Küche zu Knoblaucheinsatz und bewusster Vermengung neigt, folgt Japan einer additiven Idee, die subtil die Kostbarkeit der einzelnen Zutaten feiert – und deswegen manchmal überraschend ungewürzt schmeckt. Die tieferliegende Geisteshaltung ist Achtsamkeit gegenüber dem Essen – und dem Essgeschirr. Wer einmal eine japanische Teezeremonie mit ihren Verbeugungen miterlebt hat, kann das bezeugen. Die Schmiedekunst der Messer, die jahrelange monotone Ausbildung eines Sushi-Kochs zur Meisterschaft, die Präzision der Schnitttechnik, die zenhafte Konzentration erfordern Disziplin und kulinarisches Arbeitsethos und machen die Essenszubereitung zum Ritual: Im Idealfall soll der Gast persönlich verwöhnt werden, als ob man im Tempel eine Speise opfere. „Du musst mit den Bohnen reden“ – Filme wie Kirschblüten und rote Bohnen oder Das Zen-Tagebuch, wo ein Witwer Erfüllung darin findet, selbst geerntetes Gemüse zuzubereiten, vermitteln einen Eindruck dieser Mentalität. In der Gesellschaft herrscht Konsens, dass auf japanischer Erde gewachsene Produkte kostbar sind, auch wenn sie manchmal grotesk teuer erscheinen, etwa in Manschetten gehüllte weiße Fukushima-Pfirsiche oder quadratische Yubari-Wassermelonen, eine züchterische Bravourleistung. Das Beharren auf in Japan geernteten Reis ist ein wirtschaftspolitisches Thema.
Japan, Land der Tütensuppenpioniere und der Delikatessen. Die Thunfischauktion in der Tokioter Tsukiji-Markthalle mit Fantasiesummen bis zu drei Millionen Dollar für das prächtigste Exemplar ist ein Prestige-Event der landesbesten SashimiLokale, die die aus dem weniger umweltbelasteten Mittelmeer stammenden Fische in köstliche Teile wie den milden Bauch („toro“) zerlegen. Längst hat sich auch der Ruf von marmoriertem Kobeund Wagyu-Rind weltweit verbreitet. Dabei war das Kaiserreich bis zur erzwungenen Öffnung durch die Amerikaner 1854 ein pescetarischer Staat: der Verzehr von Fleisch war verpönt, der von Fisch und Meeresfrüchten nicht. Ob die Geschichten der Rinderfütterung mit bayerischem Bier und Massage stimmen, sei dahingestellt, fest steht, dass schon Mengen um 50 Gramm, die so viel kosten wie hierzulande ein T-Bone-Steak, unvergesslich schmelzende Geschmackserlebnisse hinterlassen. Nach oben offen ist auch die Preisskala für den „Reiswein“ Sake, der gerne aus Lackkästchen („masu“) geschlürft wird.
Die japanische Hochkultur der Küche hat unsere verändert. Mit Umami hat ein fünfter würziger Geschmack in unsere Sensorik Eingang gefunden. Immer mehr Menschen wissen, dass man Sushi mit der Hand essen darf und dass das Eintunken in Sojasauce die Gefahr des Zerfalls der kleinen Kunstwerke und damit eine Beleidigung des Kochs mit sich bringt. Der durch das Noma in Kopenhagen propagierte Usus, Porzellan durch Keramik zu ersetzen, ist allgegenwärtig in unserer Gastronomie zu beobachten. Ich bewundere den japanischen Begriff „kintsugi“. Er bedeutet, zerbrochene Bowls mit Goldkitt zu heilen und weiterzuverwenden – durch diese Nichtwegwerfmentalität ergibt sich auch der Brauch, keine einheitlichen Sets, sondern unterschiedliche Schalen einzusetzen.
Rochenhaut raspelt Wasabi
Japanische Köstlichkeiten, die bei uns zunehmend ausprobiert werden, sind betörende Agrumen wie Yuzu oder Sudachi, salzige Umeboshi-Aprikosen, fermentiertes Miso aus Sojabohnen, Kombu-Seetang und mit Reiswein oder Zitrusfrüchten aromatisierte Sojasaucen wie Teriyaki oder Ponzu. Auffallend ist unser sprachlicher Zugang. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass wir kaum ein Gericht aus dem Reich der Mitte mit chinesischem Namen bezeichnen, sondern lieber von „Acht Schätzen“ reden? Mit Japan läuft das anders. Wie Japaner deutsche Lehnwörter wie „ryukkusakku“ und „arubaitu“ verwenden, so eignen nicht nur unsere Gourmets sich ein wachsendes Glossar japanischer Termini an: Können Sie Sushi von Sashimi unterscheiden, wussten Sie, dass Daikon weißer Rettich ist und frischer Wasabi stilecht mit einer Reibe aus Rochenhaut geraspelt wird?
Tipp:

Japan-Bildband 4
Rinko Kawauchi
Illuminance
Wie keine andere Fotografin gelingt Rinko Kawauchi die Verbindung von japanischer Philosophie und zeitgenössischer Fotografie. In ihrem Schlüsselwerk Illuminance erzählt sie in Bildern ihre innere Wahrnehmung mit dem Bild unserer heutigen Welt.
Aperture 2011, 160 Seiten, über Online-Händler und Antiquariate, englische Ausgabe

Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.
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