Titelthema
Abruzzen statt Toskana
Korbflasche war gestern: Das Weinland Italien erfindet sich neu. Auch hier spielen autochthone Rebsorten eine wachsende Rolle
Früher war alles besser? Für Sparfüchse in Sachen „vino italiano“ schon. „In einfachen Trattorien wird der Wein nicht berechnet“, konstatierte hoch erfreut ein Sizilien-Reiseführer aus den frühen 1970ern. Angesagt war Hauswein, „vino della casa“ oder „vino sfuso“, egal ob er schon ganz innovativ aus den ersten Tetrapacks kam oder ein ehrliches Winzerprodukt war. Oder gar in einer der Weintankstellen, die Genossenschaften manchmal heute noch in Süditalien betreiben, aus der Säule gezapft wurde. Günstiger weißer Soave machte manche glücklich, und der Kalterer See floss trotz des Spotts, dass so viel Wasser gar nicht in dem Südtiroler Gewässer drin sein könne, in Strömen über Tiroler Tresen.
Ein ordentlicher Rausch mit süßem schäumendem Lambrusco aus dem Supermarkt gehört zur kollektiven Erinnerung einer Generation von Studentinnen und Studenten: Einstiegswein mit Kopfwehverdacht.
Flaschenweine mit Etikett waren selten und oft von den Alpen bis zur Stiefelspitze die gleichen „market leader“. Wer sich etwas leisten wollte, griff zu Orvieto (wollen Sie trocken oder „abboccato“, sprich: fast dolce?) oder Verdicchio aus den Marken in der typischen ikonischen Fazi-Battaglia-Flasche. Rotweintrinkerinnen hatten die Auswahl zwischen sizilianischem Corvo, der schon Kaiser Wilhelm II. begeistert hatte, oder Chianti Ruffino. Der Fiasco, die anderthalb Liter fassende Korbflasche, die mit Stroh gegen Transportschäden gepolstert war, wurde meist geöffnet auf den Tisch gestellt und nach Verbrauch berechnet.
Angelo und die Barolo-Boys
Natürlich gab es auch schon vereinzelt Qualitätsleuchttürme für Connaisseure, die selbstbewusst – damals in Italien ziemlich ungewöhnlich – den Jahrgang aufs Etikett druckten. Pioniere waren der Eichenfass-Sangiovese von Biondi-Santi in Montalcino, der Pomino-Chardonnay aus dem toskanischen Nipozzano, alkoholreicher Amarone aus der Valpolicella und aus dem Süden schwerer roter irpinischer Taurasi.
Ende der 1970er, Anfang der 1980er setzte ein umfassender Imagewandel ein. Italien, die Nation, die bisher gefühlt eher arme Gastarbeiter in die Bundesrepublik entsandt hatte, wurde auf einmal zu Bella Italia, zum Stilvorbild. Campari und Ferrari, Gucci und Valentino, die Polit-Schwärmerei der Toskanafraktion trugen indirekt ebenso zum Aufschwung italienischer Weinkultur bei wie die immer intensivere Klassifizierung nach DOC und DOCG-Kriterien („di origine controllata/e garantita“). Ein früher Wendepunkt ist die Weinmesse Vinitaly, die seit 1967 jährlich in Verona abgehalten wird. 20 Jahre später erschien kurz nach dem Methanol-Skandal erstmals die Bibel italienischer Önophiler, der nach einer Pinocchio-Osteria benannte Guide Gambero Rosso.
Waren bisher beträchtliche Mengen italienischen Rebensafts als Verschnittwein nach Frankreich geflossen, so begann man zumindest nördlich Roms bewusst die Grande Nation nachzuahmen und verstärkt selbst zu vinifizieren und auf Flaschen zu ziehen. Markantestes Ergebnis war der Aufschwung des Barolo aus den piemontesischen Langhe. War bisher das Gros der Nebbiolo-Ernte als junger süßer Schaumwein weggetrunken worden, erkannte man jetzt das Reifungspotenzial dieser Rebe. Winzer wie Angelo Gaja und die sogenannten Barolo-Boys bauten in wenigen Jahrzehnten ein Image absoluter Weltklasseweine auf, auch wenn die modische Entdeckung, statt großer Holzfässer wie beim Bordeaux Barriques zu verwenden, etwas exzessiv eingesetzt wurde. Konjunktur hatte auch die Idee, französische Reben anzupflanzen. Längst sind Supertuscans wie die Cabernetbombe Sassicaia keine Epigonenweine mehr, und prickelnde venetische Proseccos haben Konkurrenz durch lombardische Franciacorta-Sekte, die nach Champagnermethoden ausgebaut sind, bekommen. Daneben etablierten sich neue Modeweine wie der bei gardaseesüchtigen Münchnern beliebte Lugana. Italy sells: Pinot grigio aus dem Friaul verdrängt badischen Ruländer oder Grauburgunder.
All das führte dazu, dass vor allem norditalienische Weine teurer wurden. Der Konsument, der in einem italienischen Lokal nördlich der Alpen ein Glas ordert, merkt das häufig daran, dass toskanische Tropfen kaum noch offen erhältlich sind. Spätestens um die Jahrtausendwende setzt die Entdeckung der zunächst noch preisgünstigeren Weine aus dem Süden der Apenninenhalbinsel ein. Ein Verkaufsschlager wurde roter Primitivo aus dem Salento, der seinen Namen von der Frühreifung der Trauben trägt und der in apulischen Metzgereien mit angeschlossenem Grillstübchen gern gut gekühlt in der Literkaraffe hingestellt wird. Sein sizilianischer Konkurrent, der „schwarze“ Nero d’Avola, dürfte in deutschen Landen mittlerweile zu den bekanntesten Rebsorten zählen.
Dieser Aufschwung lief Hand in Hand mit der touristischen Erschließung Süditaliens, dem Ausbau anspruchsvoller Beherbergungsmöglichkeiten und der Ergänzung volkstümlicher „dieta mediterranea“ durch Sterneküche. Nicht mehr Mafia- und Taschendiebeangst, sondern Sehnsucht nach unbelasteten Blutorangen, Biobauernhöfen und fangfrischen Schwertfischsteaks prägt das neue touristische Image des Mezzogiorno. Dazu passt, dass zum Beispiel das Ätnagebiet zu einer großen Weindestination mit gewaltigen Preissteigerungen avanciert ist.
Gefördert und ideologisch unterfüttert wurde dieser Paradigmenwechsel durch den Welterfolg einer Bewegung, die im Piemont begann und bald die ganze Nation mitriss. Slow Food setzte auf radikalen Regionalismus und kleine Handwerksbetriebe und publizierte den Guide Osterie d’Italia, der sofort an die Spitze der Verkaufszahlen schnellte, da er die italienische gastronomische Mentalität traf.
Regionaler, ja lokaler Wein zu regionalem Essen. Diese Formel verwirklicht das Zauberwort der önologischen Gegenwart, das da lautet: autochthon. Ein einst hochgelehrter Begriff aus der Herkunftsdebatte früher griechischer Stämme ist zum Werbeargument und zum Auslöser einer intensiven Recherche nach alten, heimischen Rebsorten geworden.
Dazu einen Becher, nur kein Stielglas!
Denn Italien kann hier gewaltig punkten. Im Gegensatz zum auf relativ wenige Rebsorten konzentrierten Weinbau in Frankreich oder Deutschland hat die historische Vielstaaterei der Apenninenhalbinsel samt ihren kulturellen Verflechtungen mit Griechenland und dem Balkan zu einer verschwenderischen Fülle lokaler Varietäten und seltener Bestände geführt. Kenner schwärmen auf einmal von Raritäten wie goldgelbem kalabresischem Pecorello, sardischem Nasco, weißem triestinischen Vitovska oder kernigem rotem Terrano aus dem Karst. Angesagt sind Steillagenweine, für die der griffige Begriff „viticoltura eroica“ geprägt wurde. Solche „heroischen“ Tropfen liefern das Aostatal mit seinen Montblanc-Weinen, die Nebbiolo-Destination Veltlin, die Cinque Terre und der schmale Küstenstreifen zwischen Scilla und Reggio di Calabria, nicht zu vergessen Südtiroler Blauburgunder aus Montan.
Der Weinkosmos Italien ist spannend wie nie. Terroir und Rebsorten, Lage, Landschaft und Winzerpersönlichkeiten spielen eine emotionale Rolle, die im traditionellen Bewertungssystem, den allerbesten Wein bei Blindverkostungen herauszufiltern, außen vor blieben. Zugleich gibt es vergleichbar mit dem Fermentierungsboom in der Küche eine Wiederbelebung alter, ja antiker Ausbautechniken wie großes Holzfass oder Amphore. Kult im heißen Süden ist das uralte System am Boden dahinkrüppelnder Alborello-Reben. Natur- und Orangeweine spielen hingegen nicht unbedingt die erste Geige und überzeugen am ehesten aus der kalkigen Karstregion.
Angesichts des Regio-Hypes und der önologischen Vitalität, die in Zeiten des Internets auch kleinen Winzern Direktvermarktung statt bloßem Traubenverkauf ermöglicht, tun sich etablierte Weinregionen manchmal schwer.
Bringen wir es auf den Punkt: Was aus der Toskana kommt, mag prestigereich und exzellent und seit Generationen erprobt sein. Aber kann es mit der Entdeckerfreude und der Überraschung mithalten, wenn man in der Basilikata, der neuen Boom-Region Abruzzen oder auf der Insel Salina einen unbekannten Lieblingswein ausfindig macht?
Wer bei all den neuen Namen, all den gehypten Rebsorten den Überblick verliert – es gibt auch noch den guten, günstigen offenen Wein. Ausgerechnet in der Kapitale Rom hat sich diese Tradition erhalten. Ich weiß es durchaus zu genießen, nach all den Fachsimpeleien eine traditionelle dickwandige beschlagene Karaffe mit Frascati oder Vino del Castelli zur Porchetta oder zum Pecorino zu leeren. Dazu bitte einen Becher, ja kein Stielglas!
Gastliche Lieblingsplätze
La Lanterna di Diogene
In diesem Gartenlokal wird man zum Lambrusco-Jünger. Via Argine 20, I-41030 Solara di Bomporto (Modena) lalanternadidiogene.org
Do Mori
Altehrwürdige Trinkstube am Rialto-Markt. Mein Favorit: weißer Fragolino aus hybriden Reben. S. Polo 429, I-30125 Venezia Il Secco (Fast) alle Schaumweine Italiens glas- oder flaschenweise ausgeschenkt. Via Angelo Fumagalli 2, I-20143 Milano
ilsecco.com
Hibiscus
Der idyllische Familienbetrieb auf der Lavainsel nördlich von Palermo keltert alte Rebsorten. Contrada Tramontana, I-90051 Ustica
agriturismohibiscus.com
Cantine Benvenuto
Giovanni hat den vergessenen kalabresischen Zibibbo di Pizzo wiederbelebt. Contrada Ziopà, I-89815 Francavilla Angitola
cantinebenvenuto.it
20,8 Milliarden Euro
wird der Umsatz im italienischen Weinmarkt im Jahr 2024 betragen
10,08 Euro
kostet durchschnittlich eine Flasche italienischer Stillwein im Jahr 2024
34,11 Euro
kostet durchschnittlich eine Flasche italienischer Schaumwein im Jahr 2024
Quelle: Statista
Buchtipp
Peter Peter
Blutorangen: Eine Reise zu den Zitrusfrüchten Italiens
Verlag Klaus Wagenbach 2024,
144 Seiten, 22 Euro
Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.
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