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Und ewig tanzt die Republik

Österreich ist berühmt-berüchtigt für seine vielen, vielen Bälle. Zahlreiche Berufsgruppen feiern sich und das gute Leben – natürlich auch die Rotarier.
Der Kongress tagte und tanzte vom September 1814 bis zum Juni 1815. Die Staatsmänner der europäischen Großmächte, Kleinstaaten, Fürstentümer waren nach Wien geladen worden, um dort eines zu vereinbaren: dass nach den Wirren der napoleonischen Kriege der Absolutismus die herrschende Staatsform Europas bleibe. Es ist zwar eine historische Tatsache, dass der Wiener Kongress unter der Regie des habsburgischen Außenministers Metternich Europa eine rundum reaktionäre Ordnung verpasste, die den Aufstieg des Bürgertums behindern, verzögern, zurückschlagen sollte. Glaubt man hingegen den staatsfrommen Legenden zahlreicher Memoiren, Filme, Operetten, Schmonzetten, war aber etwas anderes viel wichtiger, nämlich dass „der Kongress tanzt“, wie der Titel eines deutschen Films aus dem Jahr 1931 und ebenso von dessen österreichisch-patriotischer Adaption von 1955 lautet.
Tatsächlich hatte die Welt noch nie so viele Bälle, Bankette, Manöver gesehen wie in diesen neun Monaten, in denen es zudem jeden Abend Konzerte und Theatervorstellungen gab und Wien, übrigens, zur europäischen Metropole der Prostitution hochgerüstet wurde. Den 300 Staatsmännern, ihren Diplomaten, Beamten, der Tausendschaft ihrer Entourage galt es eben alle Tage was zu bieten! Und so wurde der Mythos in die Welt gesetzt, dass Österreich seine bedeutendste und schönste Aufgabe darin hat, in der ernsten Lage heiteren Charme, im anstrengenden Alltag die Kunst des Genießens zu lehren.
Der Kongress musste also tanzen, und er hat in gewissem Sinne damit nie aufgehört. Heute schafft es die Republik mit zwei winterlichen Ereignissen, das Fernsehpublikum auf allen Kontinenten daran zu erinnern, dass es Österreich gibt und dass es seine Begabung wie sein Auftrag sei, Schönheit, Charme, Musik und Leichtigkeit in die Welt zu bringen: mit dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker und dem Opernball, der jedes Jahr am letzten Donnerstag vor Aschermittwoch um 20.15 Uhr eröffnet wird.
Vorläufer des Opernballs gab es in Wien viele, aber der erste sich regulär so bezeichnende Ball fand 1935 statt. Damals war gerade das Parlament ausgeschaltet, die Sozialdemokratie verboten und der „christliche Ständestaat“ errichtet worden, der sich an Mussolinis Faschismus orientierte und als Alternative zum gottlosen Nationalsozialismus präsentierte. Je bedrohlicher die Krisen, je heftiger die Konflikte, umso inniger der Wunsch, sich in Fest und Feier zu retten.
1945 wurde die Wiener Oper nahezu völlig zerstört, es dauerte bis 1955, dass sie im alten Glanz neu erstand. Alt und neu, dabei blieb es, denn zur glanzvollen Wiedereröffnung stand Fidelio auf dem Programm, dirigiert von Karl Böhm, der einst von den Nationalsozialisten zum Staatsoperndirektor ernannt worden war. Heute ist der Opernball der offiziöse Ball der Republik, für die Präsidenten und Bundeskanzler ist er eine Pflicht, von der Bruno Kreisky einst sagte: „Das ist die Rache der Geschichte an jungen Revolutionären, dass sie später mit Frack und Orden zum Opernball gehen müssen.“
Mit den Zeiten hat sich der Opernball stetig ein bisschen verändert, doch seine staatsfolkloristische Inszenierung zeigt prächtig, dass sich hoch über die Niederungen der Politik etwas Unwandelbares erhebt: die luftig leichte Muse, das ewige Amüsement. Selbst die großen Demonstrationen, die seit Mitte der 80er Jahre vor dem Opernhaus stattfanden und auf denen die Ballgäste wüst als Meute des Wohlstands beschimpft zu werden pflegte, konnten ihm auf Dauer nicht viel anhaben. Während beim Ball der Dresdener Semperoper drinnen die gute Gesellschaft tanzt und auf dem Platz davor Tausende ausgelassen feiern, standen sich in Wien die in Ingrimm skandierenden Demonstranten und die an diesem Tag ziemlich schlagbereite Polizei gegenüber. Aber irgendwann ging alles doch seinen ös ter reichischen Weg: Die Opernball-Demo entwickelte sich, ähnlich wie das Objekt ihres Protestes, zu einer Art von folkloristischem Treffen, auf das Verlass ist. Fast, dass die Demo gegen den Ball schon zu diesem selbst gehörte und beidem zusammen der Status eines nationalen Kulturerbes zuerkannt worden wäre.
Der Opernball ist wohl der berühmteste Ball der Welt, doch gibt es in Österreich Aberhunderte Bälle, die ihr treues altes und auch ihr begeistertes junges Publikum finden. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung besucht in der Faschingszeit mindestens einen Ball, was ein zumeist recht kostspieliges Vergnügen ist. Eine Sendung im Fernsehen erteilte den weniger betuchten Ballbesuchern daher kürzlich Rat, wie man sich ohne viel Geld auf teurem Parkett behaupten könne. Für die jeweils erforderliche Garderobe – vom Frack und vom großen Abendkleid zur verpflichtenden Tracht – gibt es selbst in kleinen Städten einen Kleiderverleih und längst auch die Möglichkeit, online zu bestellen. Die komplette Herrenausstattung zum einmaligen Gebrauch, inklusive Manschettenknöpfe und Schnupftuch, ist etwa um unübertreffbar günstige 390 Euro zu haben und anderntags zu retournieren. Da alkoholische Getränke auf Bällen meist nicht gerade günstig gereicht werden, haben die Lebensberater aus dem Fernsehen daran erinnert, dass man ja bereits zu Hause ein paar Gläser leeren könne, ein Vorgang, den Jugendliche gemeinhin als „Vorglühen“ bezeichnen.
Bälle werden von diversen Berufsgruppen organisiert, sodass einander im ganzen Land Zuckerbäcker-, Fischer-, Jäger-, Offiziers-, Techniker-, Ärzte-, Floristen-, „Finanzer“-Bälle abwechseln; natürlich haben auch Feuerwehr, Rotes Kreuz und andere Ehrenämter ihre renommierten Bälle, von den Festen der politischen Parteien und geselligen Vereine gar nicht zu reden. Der Ball der Rotarier findet in Salzburg übrigens alljährlich im renommierten Hotel Sacher statt, und einer seiner beliebtesten Programmpunkte ist die LiveSchaltung zu Rotariergruppen anderer Länder und Kontinente.
Wo aber Gefahr ist, dort wächst das Rettende auch, schrieb der deutsche Dichter Hölderlin. Für Österreich, das sich politisch an einem Scheideweg Europas befindet, könnte man hingegen sagen: Wo der Abgrund am nächsten, dort tanzen wir am liebsten.

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