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Alles hat seine Zeit

 - Alles hat seine Zeit
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Wie die gedruckten, elektronischen und digitalen Medien unser Zeitbewusstsein beeinflussen – Reflexionen zum Jahreswechsel

Walter Hömberg18.12.2024

"Zeitenwende" – wenige Begriffe sind im vergangenen Jahr so häufig strapaziert worden wie dieser. Nur drei Tage nach dem militärischen Überfall auf die Ukraine begründete Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung im Bundestag mit diesem Ausdruck die radikale Neuausrichtung der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik. Der Begriff hatte jedoch schon früher Konjunktur: Auch nach der Auflösung der kommunistischen Herrschaftssysteme in Mittel- und Osteuropa vor drei Jahrzehnten und nach dem Ende der Ersten Weltkriegs in der Weimarer Republik wurde oft von Zeitenwende gesprochen. 

In weniger emphatischem Sinn ist jeder Jahreswechsel eine Zeitenwende. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass wir am Beginn eines neuen Jahres ein Medium ins Visier nehmen, das sonst eher beiläufig unseren Alltag begleitet: den Kalender. Die Produktion solcher "Zeitweiser", die das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft synchronisieren sollen, lässt sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Die Einblattdrücke der Frühzeit wurden bald ergänzt durch umfangreiche Almanache, die auch Geschichten, Gespräche und Ratgebertexte enthielten.

Heute gibt es ein riesiges Angebot von Wand- und Tisch-, Taschen- und Terminkalendern in gedruckter und inzwischen auch in elektronischer Form. Sie informieren uns über gesellschaftliche Zeitmarken wie Werk- und Sonntage, Feier- und Gedenktage. Und sie helfen dabei, den Fluss der Zeit zu strukturieren und für die Zukunft zu planen.

Die Zeit fließt nicht immer und für alle gleich schnell. Bei monotonen Tätigkeiten kriecht sie wie eine Schnecke, abwechslungsreiche Stunden dagegen können wie im Fluge vergehen. Unangenehme Gefühle, Trauer, Schmerz, Schuld und Ermüdung bremsen das Erleben des Zeitablaufs. Auch das Warten kann das Zeiterleben verlangsamen. Wie viele (gefühlte) Jahre haben wir schon vor Bahnschranken und roten Ampeln, vor Supermarktkassen oder in Wartezimmern von Ärzten und Ämtern verbracht? Und wie zäh verliefen die Wochen und Monate unter den Einschränkungen der Pandemie? Für ältere Menschen läuft die Zeit schneller ab als für jüngere. Wir erinnern uns an die eigene Kindheit: Wie lang war die Zeit von Weihnachtsfest zu Weihnachtsfest! Und mit zunehmendem Alter galoppieren die Jahre …

Albert Einstein soll seine Relativitätstheorie in einem Gespräch so erläutert haben: "Wenn Sie zwei Stunden mit einem netten Mädchen zusammensitzen, denken Sie, dass es nur eine Minute ist; aber wenn Sie eine Minute auf einem heißen Herd sitzen, denken Sie, dass es zwei Stunden sind."  

Die individuellen Unterschiede in der Wahrnehmung der Zeit verlangen nach einer gesellschaftlichen Synchronisierung. Einer der wichtigsten sozialen Zeitgeber in entwickelten Gesellschaften sind die Massenmedien. Um diese These zu entfalten, möchte ich zu einer kurzen Zeitreise in die Geschichte der Medien einladen.

Massenmedien als soziale Zeitgeber

In sogenannten primitiven Gesellschaften stehen die Zeitbezeichnungen noch unverbunden nebeneinander. Es fehlt das Bewusstsein der Folge und der Kontinuität. Erst im Laufe der sozialen Entwicklung wird die zunächst vorherrschende Orientierung an Zeitpunkten erweitert durch eine Orientierung an Zeiträumen. Ähnliches lässt sich auch in der Entwicklung der Medien beobachten.

Die frühen gedruckten Nachrichtenmedien galten primär einzelnen Ereignissen. Neben den Haupt- und Staatsaktionen, den Schlachten und Kriegen, den Niederlagen und Siegen schienen den Verfassern, Herausgebern und Druckern vor allem die Ereignistypen "Katastrophe", "Menetekel" und "Mirakel" nachrichtenwürdig. Die Flugblätter und Flugschriften der beginnenden Neuzeit erschienen sporadisch, fixiert auf aktuelle Anlässe, und ich möchte sie deshalb als Zeitpunkt-Medien bezeichnen.

Diese punktuelle Orientierung änderte sich mit der Einführung der Periodizität. Der Nachrichtenstoff wird jetzt kontinuierlich gesammelt, verarbeitet und weitergegeben. Für die Bezieher und Leser ist damit eine regelmäßige Unterrichtung sichergestellt. Das Zeitpunkt-Medium wird zum Zeitraum-Medium.

Das älteste periodische Druckwerk ist der schon eingangs erwähnte Kalender. Wenige Medien erreichen so hohe Auflagen, weshalb autoritäre und totalitäre Systeme bis heute Kalenderzensur betreiben. Die Reichsschrifttumskammer in Deutschland richtete 1937, als die Gesamtauflage der Kalender dort bei 25 Millionen Exemplaren lag, eine sogenannte "Kalenderberatungsstelle" ein. Moniert wurde etwa, dass in einem Kalender der 20. April als Geburtstag Mohammeds ausgewiesen sei; an diesem Tag hatten die Kinder schulfrei – aber nicht Mohammeds, sondern "Führers Geburtstag" wegen. Die Rolle des Kalenders zur Synchronisierung gemeinsamer Lebensvollzüge, aber auch zur Herstellung und Festigung von Traditionslinien kann man kaum überschätzen. Ebenso den Beitrag zur Gruppenbildung, wie ihn Bauern- und Lehrerkalender, Kirchen­ und Freimaurer-, Jäger- und Feministenkalender und viele andere Typen in je eigener Weise leisten.

Die Periodizitätsfolgen der Medien wurden bald kürzer: So ist schon am Ende des 16. Jahrhunderts eine Monatsschrift nachgewiesen. Kurz darauf erschienen dann in Straßburg und Wolfenbüttel wöchentliche Zeitungen, und nur wenig später kam in Leipzig das erste Tagblatt heraus.

Dass sich in der Geburtszeit der Moderne das periodische Erscheinen so schnell durchgesetzt hat, hatte viele Gründe: Der Ausbau des Post- und Nachrichtenverkehrs, die Verbesserung der Drucktechnik, die steigende Bevölkerungsdichte, die wachsende Zahl der Gewerbe und Berufe, die Expansion des Handels – all dies kam zusammen. Aus sozialen und aus wirtschaftlichen Gründen waren immer mehr Menschen auf regelmäßige, verlässliche und schnelle Information angewiesen. Die periodische Erscheinungsweise war ein wichtiges Instrument der Kommunikationsrationalisierung.

Die periodischen Veröffentlichungen repräsentieren ein zyklisches Zeitbewusstsein. Die Folgen entsprechen dabei im Wesentlichen den Zyklen der astronomischen Zeit: Jahr, Monat, Tag – diese Zeiteinheiten folgen der Bewegung der Himmelskörper, konkret: von Erde, Mond und Sonne. Und die Medien sind die gesellschaftlichen Zeitmesser.

In unserem Kulturkreis hat das zyklische Zeitbewusstsein schon früh Konkurrenz erhalten durch lineare Zeitvorstellungen. Am deutlichsten zeigt sich dies in der industriellen Revolution. Benjamin Franklin hat es 1848 in seinem "Advice to a Young Tradesman" auf den Punkt gebracht: "Zeit ist Geld" – damit war die neue Leitformel der Moderne geboren. Und die Zeitungen und Zeitschriften taten alles, um diese Formel populär zu machen.

Seit Einführung der Periodizität verändert sich das Aktualitätsverständnis immer mehr in Richtung der Erscheinungsintervalle. Ein Blatt des französischen Karikaturisten Daumier zeigt eine Zeitungshändlerin, die einem Passanten ein Zeitungsexemplar anbietet. Dieser beschwert sich: "Ich habe Ihr Journal gekauft, und ich finde nicht die neuesten Nachrichten von heute." Die Händlerin erwidert: "Mein Herr, die Nachrichten von heute, die waren in dem Journal von gestern."

Heute ist nichts so alt wie die Zeitung von gestern. Mit den Telemedien Hörfunk und Fernsehen haben wir inzwischen längst die Gleichzeitigkeit erreicht. Über die Periodizität hinaus hat sich eine neue Dimension der Medienzeit aufgetan: die Simultaneität.

Zeitmesser und Zeitfresser

Die Simultanmedien setzen besonders nachdrücklich Zeitmarken in unserem Alltag. Sie strukturieren den Tageslauf und synchronisieren die Medienzuwendung. Sie sind aber nicht nur Zeitmesser, sondern vor allem auch Zeitfresser. Etwa sechseinhalb Stunden wenden wir uns durchschnittlich jeden Tag den Massenmedien zu. Der Löwenanteil entfällt auf die elektronischen und digitalen Medien, wobei das Internet und die Mobilkommunikation in den letzten Jahren die größten Zuwächse erzielt haben. Wenn man die Nutzungszeiten hochrechnet, dann verbringt der Durchschnittsbürger hierzulande mehr als 21 Jahre seines Lebens mit Medienkonsum.

Mit ihren unterschiedlichen Erscheinungsintervallen gliedern die Massenmedien den Tag, den Monat, die Woche, das Jahr. Und sie beeinflussen unsere Wahrnehmung: Film und Fernsehen stehen unter dem Diktat der Bewegung. Der schnelle Reizwechsel durch Raum- und Zeitsprünge, die unvermittelte Aufeinanderfolge von Schwenks, Zooms und Kamerafahrten, von Schuss und Gegenschuss, von Totale und Ausschnitt – all dies vermittelt den Eindruck rasanter Dynamik. Mit dem technischen Fortschritt beschleunigte sich auch die Kommunikation. Über den Tod Napoleons am 5. Mai 1821 berichtete die Londoner "Times" als erste Zeitung erst zwei Monate später. Heute werden relevante Ereignisse schon nach wenigen Sekunden als "Breaking News" übermittelt.

Gegenläufige Zeitkonzepte

Wohl nicht zufällig trug die älteste der sogenannten "Zeitgeist"-Zeitschriften den Titel "Tempo". Mit dem Zerfall des Fortschrittskonsenses wurden allerdings zunehmend gegenläufige Zeitkonzepte propagiert: Etwa die ruhende Zeit der Meditation, wie sie in asiatischen Religionen beheimatet ist, oder die "Entdeckung der Langsamkeit" als ästhetisches Programm, wie es im gleichnamigen Roman von Stan Nadolny und in manchen Büchern von Peter Handke und von Botho Strauss zum Ausdruck kommt. Für die Durchlauferhitzer-Dramaturgie der Audiovision kann man sich keine größere Provokation denken als Andy Warhols Film "Sleep", der sechs Stunden lang nichts anderes zeigt als einen schlafenden Mann. Noch mehr Zeit muss man für ein Orgelwerk von John Cage aufbringen, das seit dem 5. September 2001 in der Burchardikirche in Halberstadt aufgeführt wird. Nach 639 Jahren, konkret am 4. September 2640, soll es beendet sein.

Auch Psychologen, Pädagogen und Philosophen wenden sich heute immer mehr gegen die Gleichsetzung von Schnelligkeit und Fortschritt. Zeitökologie statt Zeitökonomie heißt die Devise. Selbst Kurse zum Zeitmanagement empfehlen inzwischen die Langsamkeit als Heilmittel gegen den Geschwindigkeitsrausch und die Sucht, Zeit zu sparen. In Klagenfurt wurde im Herbst 1990 sogar ein "Verein zur Verzögerung der Zeit" gegründet. Vor einigen Jahren habe ich dort um Informationsmaterial gebeten. Die Antwort kam postwendend. Nach diesem eklatanten Verstoß gegen den Vereinszweck habe ich von einer Mitgliedschaft abgesehen – wobei mir die wunderbare Geschichte von Roda-Roda über den "Postwender" eine Warnung war: Der Protagonist dieser Erzählung pflegte alle Briefe sofort zu beantworten, bis er selbst auf einen Postwender traf. In der Folge wurden dann Briefe beantwortet, die noch gar nicht geschrieben waren.

Wie auch immer sich die Zeitvorstellungen wandeln – tröstlich bleibt eine alttestamentarische Weisheit aus dem Buch Kohelet, die in verkürzter Form manchmal in Todesanzeigen zitiert wird: "Es gibt im Leben für alles eine Zeit: eine Zeit der Freude, eine Zeit der Stille, eine Zeit der Trauer und eine Zeit der dankbaren Erinnerung."

Walter Hömberg
Prof. Dr. Walter Hömberg, RC München, Kommunikationswissenschaftler und Publizist, war Professor für Journalistik an den Universitäten Bamberg und Eichstätt und lehrte als Gastprofessor an der Universität Wien. Er ist Herausgeber des Almanachs "Marginalistik" , von dem bald ein dritter Band erscheinen soll.