Zeitsprung
Die vergessene "Königin der Lüfte" – Käthe Paulus

In der Kaiserzeit war die Ballonfahrerin und erste deutsche Fallschirmspringerin Käthe Paulus ein Star. Vor 90 Jahren starb die vergessene "Königin der Lüfte".
Zehntausende Menschen jubelten Käthe Paulus bei ihren spektakulären Auftritten zu. Sie erfand auch den Paketfallschirm, auf dessen Grundlage Fallschirme noch heute beruhen.
Sommer 1893: Ein Mann und eine Frau steigen in einen Ballonkorb. Sie lösen die Seile, die den Ballon am Boden halten und steigen auf. Auf 1200 Metern Höhe bremst Hermann Lattemann den Ballon ab. Käthe Paulus steigt über die Brüstung. Sie wirft Lattemann einen letzten Blick zu. Dann breitet sie die Arme aus und springt. Nach einigen Sekunden im freien Fall öffnet sich über ihr ein selbstgenähter Fallschirm. Ruckartig bremst sie ab — und gleitet als erste deutsche Fallschirmspringerin sanft zu Boden.
Katharina "Käthe" Paulus wurde am 22. Dezember 1868 in Hessen geboren. Sie wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Nach dem Besuch der Volksschule ließ sie sich zur Näherin ausbilden. Mit 20 Jahren lernte sie den professionellen Ballonfahrer Hermann Lattemann kennen. Seine Ballonaufstiege und die anschließenden waghalsigen Absprünge mit selbstgenähten Fallschirmen hatten ihn berühmt gemacht.
Diese Begegnung öffnete Käthe die Tür zu einer völlig neuen Welt: "Nie hatte ich mich um die Luftschifffahrt gekümmert. Aber dieser Mann hatte mir großen Eindruck mit seinem Mut gemacht. (…) Wir kamen ins Gespräch, und auf einmal fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, einmal mit ihm aufzusteigen. Es durchfuhr mich heiß, und ich antwortete ohne Zögern: 'Ja!'"
Käthe und Hermann Lattemann wurden ein Paar. Während er seine spektakulären Flugmanöver vorführte, nähte und flickte Käthe sein Material. 1891 wurde ihr gemeinsamer Sohn geboren.

Im Juli 1893 stiegen sie in Nürnberg erstmals gemeinsam auf. Außer den beiden an Bord: ein Stadtrat — wohl, um zu kontrollieren, dass es in der Luft zwischen Paulus und Lattemann nicht zu "unsittlichen Berührungen" kam.
Nachdem Lattemann, wie geplant, mit seinem Fallschirm abgesprungen war, vergaß Käthe Paulus zunächst, ein Ventil zu öffnen, um den entstandenen Gewichtsverlust des Ballons auszugleichen. Anstatt zu sinken, stieg der Ballon von 900 Meter auf rund 3.500 Meter. Hektisch betätigte sie das Ventil. In der Folge sank der Ballon so schnell zu Boden, dass Paulus und der Stadtrat unsanft in einem Hopfenfeld landeten: "Ich schlug mir den Schädel blutig. Aber was tat das alles gegen das Bewusstsein, dass im großen Ganzen die Sache geklappt hatte." Wenige Tage später wurde Käthe Paulus die erste deutsche Frau, die einen Fallschirmsprung wagte.
Fortan traten Lattemann und Paulus gemeinsam im ganzen Land auf – bis es im Juni des folgenden Jahres zu einem Unglück kam, das Käthe Paulus' Leben für immer veränderte. Anstatt mit einem separaten Fallschirm aus dem Ballon zu springen, wollte Lattemann den Ballon mit einem speziellen Mechanismus in einen Fallschirm verwandeln und damit landen.
Doch das riskante Kunststück misslang: Hilflos musste die zuvor abgesprungene Käthe Paulus mitansehen, wie Lattemann abstürzte und verstarb. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch und wandte sich vom Fallschirmspringen ab. Auf Lattemanns Tod folgte ein zweiter Schicksalsschlag: 1895 starb ihr vierjähriger Sohn an Diphtherie.
Dennoch gelang es Käthe Paulus, unerwartete Kraft aus den Unglücken zu schöpfen. Sie setzte ihre Karriere als Akrobatin fort: Mit weiten Hosen, Lederstiefeln und einer Matrosenmütze auf dem Kopf trat sie von nun an als "Miss Polly" auf. Besonders spektakulär war ihr "Doppelfallschirmabsturz": Nach dem Sprung aus dem Ballon öffnete sich dabei zunächst ein Fallschirm. Kurz darauf schien die Leine zu reißen, sodass sie ungebremst Richtung Erde fiel. Während das Publikum den Atem anhielt, öffnete sich schließlich ein zweiter Fallschirm, mit dem sie sicher landete.
"Miss Polly" wurde zu einem internationalen Star: Bei ihren Auftritten in Berlin, Wien, London und Amsterdam jubelten ihr Zehntausende begeisterte Zuschauer zu. Die Zeitungen beschrieben sie als "die Sensation des anbrechenden Jahrhunderts" und "Königin der Lüfte".
Unterdessen tüftelte sie unentwegt an der Verbesserung ihrer Fallschirme. Bislang ließen sich die Schirme nicht verpacken. Daher drohten sich die Leinen zu verknoten — beim Absprung ein lebensgefährliches Risiko. Käthe Paulus' Lösung: der Paketfallschirm. Dabei wurden der Stoff und die Seile sorgfältig zusammengefaltet und in einer Hülle verpackt. Beim Absprung warf man das Paket in die Luft und zog an einer Leine, sodass sich der Fallschirm sicher öffnete — ein Prinzip, das bis heute verwendet wird.

Paulus meldete ein Patent an und bot ihre Erfindung dem Militär an. Im Ersten Weltkrieg erhielt sie den Auftrag, 7.000 Paketfallschirme zu produzieren. Der Fallschirm der Marke "K.P." rettete vielen Soldaten das Leben.
Nach dem Krieg begann das Zeitalter der motorisierten Luftfahrt. Das öffentliche Interesse an Ballons und Fallschirmsprüngen nahm ab. Käthe Paulus, die ihr Vermögen in Kriegsanleihen investiert und verloren hatte, geriet in Vergessenheit.
Sie starb am 26. Juli 1935 im Alter von 66 Jahren.

Leonhard Dihlmann widmet sich in seinem historischen Newsletter "Zeitsprung" jeden Sonntag einer historischen Persönlichkeit, an die sich nur wenige Menschen erinnern. Die prägnanten Lebensgeschichten überraschen, inspirieren und bewegen.
Copyright: A. Hufnagl
Weitere Artikel des Autors
Die vergessene Klimaforscherin
Der britische Schindler
Der Vater der Tiefkühlkost: Clarence Birdseye
9/2025
„Zeitsprung” von Leonhard Dihlmann
Mehr zum Autor