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Der Vater der Tiefkühlkost: Clarence Birdseye

Zeitsprung - Der Vater der Tiefkühlkost: Clarence Birdseye
© Congra Brands

Tiefgekühlte Lebensmittel haben die Essgewohnheiten von Milliarden von Menschen und den globalen Handel revolutioniert. Zurückzuführen ist dies auf eine Beobachtung des Naturliebhabers Clarence Birdseye.

Leonhard Dihlmann27.08.2025

1912 in Labrador, Nordamerika: Der 25-jährige Naturliebhaber und Studienabbrecher Clarence Birdseye hat seinen Bürojob beim US-Landwirtschaftsministerium aufgegeben, um in die Wildnis zu ziehen. Im äußersten Nordosten des Kontinents will er eine Fuchsfarm aufbauen — und entwickelt sich zu einem kulinarischen Abenteurer, der alles isst, was der menschliche Magen verdauen kann: Er kocht Feldmäuse und Streifenhörnchen, brät Klapperschlangenscheiben und probiert Stachelschwein, Biber, Stinktier und sogar Eisbärenfleisch.

Akribisch führt er Tagebuch über seine Experimente und hält fest: "Die Krönung war Luchsfleisch. Eine der köstlichsten Mahlzeiten, die ich je gegessen habe. Einen Monat lang in Sherry eingelegt, in der Pfanne geschmort und in einer braunen Bratensoße serviert." Doch noch wichtiger als seine Vorliebe für Wildfleisch wird eine Beobachtung, die Jahre später das Essverhalten von Milliarden von Menschen für immer verändert.

Clarence Birdseye wurde am 9. Dezember 1886 in Brooklyn als sechstes von neun Kindern eines Anwalts geboren. Schon als Kind zog es ihn in die Natur. Besonders Wildtiere faszinierten Clarence. Er brachte sich das Ausstopfen von Vögeln und Nagetieren selbst bei. Nach seinem Schulabschluss begann er ein Biologiestudium, das er jedoch nach zwei Jahren aus finanziellen Gründen abbrechen musste. In der Folge begann er für das Landwirtschaftsministerium zu arbeiten. Als Naturforscher reiste er durch die USA. Er beobachtete Insekten und unterstützte Farmer bei der Bekämpfung von Raubtieren.

1912 zog Clarence Birdseye nach Labrador, im Nordosten des heutigen Kanadas. Er kaufte ein Stück Land und begann, Polarfüchse zu züchten. Nebenbei begann er seine kulinarischen Abenteuer. Er sammelte lokale Wildrezepte und entwickelte auf Basis seiner Kochversuche neue Rezepte. Außerdem publizierte er in Magazinen: 1915 schlug er im Newfoundland Quarterly vor, Frontsoldaten in Frankreich mit Wal- und Robbenfleisch zu versorgen. Zwar verstehe er die "Absurdität" der Idee, jedoch sei das Fleisch der jungen Sattelrobbe dem jeder anderen Wildart vorzuziehen. Sein enthusiastisches Werben war vergebens: Die Generalität der britisch-kanadischen Armee ging nicht auf seine Idee ein.

Abseits seiner ausgefallenen kulinarischen Experimente machte er in Labrador eine Beobachtung, die aus heutiger Sicht — in Zeiten von Iglo Rahmspinat und Ristorante-Fertigpizza — kaum erwähnenswert erscheint: Die in Labrador lebenden Inuit fischten, indem sie Löcher ins Eis schlugen. Zog man einen Fisch aus dem Wasser, gefror er bei Temperaturen von bis zu -40 Grad Celsius schockartig. Später aufgetaut, schmeckte der Fisch wie frisch gefangen — ganz im Gegensatz zu dem gefrorenen Fisch, den New Yorker Geschäfte verkauften.

1917 kehrte Birdseye in die USA zurück, um für einen Fischerei-Lobbyverband zu arbeiten. Inspiriert von der Beobachtung bei den Inuit begann er, mit Gefriertechniken zu experimentieren: Er erkannte, dass das Geheimnis in der Schnelligkeit des Gefrierens lag. Bisherige Gefrierverfahren kühlten die Lebensmittel langsam, teilweise über Stunden hinweg, sodass sich große Eiskristalle bildeten. Diese Kristalle zerstörten die Zellstruktur der Lebensmittel — und führten dazu, dass die Lebensmittel nach dem Auftauen wässrig und wenig geschmackvoll waren.

Birdseyes Antwort auf das Problem: der Plattenfroster. Zunächst wurde der Fisch filetiert. Anschließend wurde er in Schalen aus Wachskarton verpackt, zwischen zwei Platten geschoben und bei -43 Grad Celsius schockartig tiefgefroren. Das Konzept funktionierte und konnte bald für alle möglichen Waren von Beeren bis Würsten verwendet werden.

1929 verkaufte Birdseye sein Unternehmen für 23,5 Millionen Dollar — eine Summe, die heute mehr als 300 Millionen Dollar entspräche. Im März 1930 gingen in Springfield, Massachusetts die ersten tiefgekühlten Produkte unter dem Namen "Birds Eye Frosted Foods" über den Ladentisch. Damit war der Grundstein für die moderne Lebensmittelindustrie gelegt, die das Leben von Milliarden von Menschen nachhaltig veränderte:

Das Schockfrosten löste das Pökeln, Räuchern, Einlegen, Einmachen, Fermentieren und Zuckern allmählich ab und sorgte für Frische und Lebensmittelsicherheit das ganze Jahr hindurch. Ende der 1950er Jahre waren 96 Prozent der amerikanischen Haushalte mit einem Tiefkühler ausgestattet. Auch in Deutschland begann zu dieser Zeit der Siegeszug der Tiefkühltruhe.

Laut dem Tiefkühlfachmagazin TK-Report aßen die Deutschen pro Kopf jährlich zuletzt 49,4 Kilo tiefgefrorene Lebensmittel. Garnelen aus Thailand, Himbeeren im Winter, Mini-Magnums, oder pazifischer Thunfisch sind heutzutage Alltagsprodukte.

Und Clarence Birdseye? Neben seinem Tiefkühlverfahren erfand er unter anderem eine rückstoßfreie Harpune und einen Infrarot-Wärmestrahler. Insgesamt meldete der umtriebige Erfinder rund 300 Patente an. Er starb am 7. Oktober 1956 im Alter von 69 Jahren.

Leonhard Dihlmann

Leonhard Dihlmann widmet sich in seinem historischen Newsletter "Zeitsprung" jeden Sonntag einer historischen Persönlichkeit, an die sich nur wenige Menschen erinnern. Die prägnanten Lebensgeschichten überraschen, inspirieren und bewegen.
Copyright: A. Hufnagl

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