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Buch des Monats

Die Bibel der Überdrüssigen

Buch des Monats - Die Bibel der Überdrüssigen
Thilo Sarrazin: Wunschdenken - Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert; 576 Seiten, 33,90 Euro © DVA

Thilo Sarrazin (RC Berlin-Tiergarten) warnt vor gefährlichen Utopien und einer Politik, die nicht für die voraussehbaren Folgen ihres Tuns einstehen will.

01.05.2016

Thilo Sarrazins Bücher sind erfolgsträchtig. Denn er scheut sich nicht, jene heißen Eisen anzufassen, um deren klare Diskussion sich die politische Szene ansonsten herumdrückt. Sarrazin lässt sich auch von keiner politischen Correctness beeinflussen. Heraus kommt so stets ein Werk, dessen Thesen man zustimmen oder über die man sich ärgern kann, aber lesenswert ist es allemal. So verhält es sich auch mit dem neuen Buch „Wunschdenken“. Schon die Unterzeile macht deutlich, welche Minenfelder Sarrazin (auch) diesmal betritt: „Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert“.

Die wesentliche Antwort, die Sarrazin dazu gibt, hat mit der Konzeption der „offenen Gesellschaft“ zu tun, zu deren Charakterisierung er auch auf den Philosophen Karl Popper zurückgreift. Sarrazin kritisiert eine verfehlte Interpretation des Begriffs: Nicht nur die Politik, sondern etwa auch die Rechtsprechung beispielsweise des Bundesverfassungsgerichts („Kopftuch-Urteil“) setze da auf eine Offenheit, die wehrlos alles ertragen müsse, auch ihre eigene Abschaffung. Zudem fänden sich viele Menschen in der Offenheit einer Gesellschaft mit ihren Interessen nicht wieder. Da sei es kein Wunder, wenn sie sich von dieser Gesellschaft abwendeten und für eher geschlossene Systeme plädierten oder an der Wahlurne stimmten. Die Rückkehr des Nationalismus habe also ein falscher Offenheitsbegriff zu verantworten, der die offene Gesellschaft immanent gefährde.

Hinzu komme eine Politik, die gesinnungsethisch geleitet sei und nicht verantwortungsethisch und nicht selbst einstehen wolle für die voraussehbaren Folgen. Dafür nennt Sarrazin Beispiele: Die Utopie, man werde mit den 1,6 Milliarden Muslimen in der Welt friedvoll zusammenleben können, ohne sich hart mit deren Gesellschaftsmodell auseinanderzusetzen, das auch auf Machtübernahme im politischen Raum beruhe und mit einer offenen, demokratischen und gleichberechtigten Gesellschaft nicht viel zu tun habe. Oder die Utopie der Gleichheit, die sich vor allem in der Bildungspolitik breitgemacht habe, in der viele Protagonisten Gleichheit durch Absenkung der Standards herstellten. Oder die Utopie von einer Gesellschaft ohne Wachstum und Erwerbstrieb. Oder die Utopie einer CO2-freien Welt, die Ursachen und Wirkung verkenne und falsche Schwerpunkte setze.

Besonders hart geht Sarrazin erwartungsgemäß mit der Einwanderungspolitik der Bundeskanzlerin um. Sie sei verantwortungslos, weil sie das Ende nicht bedenke und – würde sie nicht sofort durch eine geordnete Einwanderungspolitik ersetzt – Deutschland letztlich dem Untergang preisgebe. Seine Argumente sind sehr bedenkenswert.

Vorauszusehen ist, dass gesinnungs­ethisch aufgestellte Medien das Buch verreißen. Das sollte ein Grund sein, es zu kaufen. Sarrazins neues Werk hat jedenfalls das Zeug, zur Bibel derer zu werden, die des gesinnungsethischen Obertons unserer Zeit überdrüssig geworden sind.


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