Museen
In einem Land vor unserer Zeit
Das „paläon“ in Schöningen – eine Reise zu den menschlichen Wurzeln in futuristischer Umgebung
Wer das beschauliche Städtchen Schöningen im Landkreis Helmstedt Richtung Süden verlässt, möchte zunächst an eine Sinnestäuschung denken: Am Rande eines Braunkohletagebaus erhebt sich dort ein großer Quaderbau, der trotz seiner wuchtigen Formsprache Leichtigkeit ausstrahlt. Dies liegt auch an der verspiegelten Fassade, die jeden Tag anders aussieht und den Bau mit dem Himmel scheinbar verschmelzen lässt. Handelt es sich um ein Planetarium oder ein Zukunftsmuseum?
Nein, ganz im Gegenteil widmet sich dieses bemerkenswerte Haus der Vergangenheit – und die reicht in Schöningen sehr weit zurück: Im Forschungs- und Erlebniszentrum „paläon“ werden die ältesten erhaltenen Holzwaffen der Welt gezeigt. Die 300.000 Jahre alten Holzwaffen sind ein Meilenstein der Menschheitsgeschichte und haben das Städtchen am Südrand des Elms international berühmt gemacht.
Die Fundstelle wurde in den 1990er Jahren bei Ausgrabungen im Tagebau von dem Archäologen Hartmut Thieme mit Spürsinn und Beharrlichkeit entdeckt. Immer wieder hat er die vom Schaufelradbagger angeschnittene Abbauwand beobachtet, bis ihm eine dunkel-humose Schichtenfolge auffiel. Aufgrund seiner Erfahrung war ihm klar, dass hier, etwa 10 Meter unter der heutigen Geländeoberfläche, warmzeitliche Seeuferablagerungen unter den Schichten der nachfolgenden Saaleeiszeit erhalten waren. Als Thieme das Profil näher begutachtete, fand er erste Knochen, und in den Folgetagen legte er die Schicht in einem 20 Meter langen Streifen frei.
Die kleine Fläche übertraf alle Erwartungen: Zahlreiche Pferdeknochen waren zerschlagen, und es bestand kein Zweifel, dass hier ein Schlachtplatz des frühen Menschen an einem ehemaligen Seeufer angeschnitten war. Als der große Bagger sich der Stelle schon wieder näherte, kam dann auch ein unscheinbares Holzstück zum Vorschein. Es war ausgezeichnet erhalten und zeigte nach der vorsichtigen Freilegung an beiden Enden ein spitz zulaufendes Ende. Der Stab war eindeutig bearbeitet, und dieser Sensationsfund vermochte auch den Betriebsleiter Cornelius von der großen Bedeutung der Fundstelle zu überzeugen. Er genehmigte die Erhaltung eines „Forschungssockels“, der nicht abgetragen wurde. Die Arbeiten der Folgejahre sollten diese weitsichtige Entscheidung belohnen.
Ein einmaliges Archiv
Die Schöninger Schichtenfolge aus der Warmzeit vor 300.000 Jahren besticht durch ihre ausgezeichneten Erhaltungsbedingungen: Nicht nur Hölzer, sondern auch vielfältige Spuren des Lebens am See haben sich hier erhalten. Die Überreste reichen von der Eierschale und dem Käferflügel bis zum Elefantenstoßzahn. Dank der Arbeitsweise per Hand mit Spaten und Spachtel gelang es dem Grabungsteam, diese einmalige Quelle für die Wissenschaft zu erschließen. Die Seeuferablagerungen setzen in der Hochphase der Warmzeit ein und reichen über eine Sequenz von vier Phasen der Seeverlandung bis zum Beginn der nachfolgenden Saale-Eiszeit. Die Schichtenfolge deckt damit einige Jahrtausende ab und erlaubt es, die natürlich Klimaentwicklung dieser Warmzeit zu erforschen.
In der wärmsten Phase lebten der Waldelefant und der Wasserbüffel am Schöninger Seeufer, während am Übergang zur Kaltzeit vor allem das Pferd schon eine kühlere, offene Landschaft anzeigt. Schöningen ist mit den ausgezeichneten Ablagerungen einer Warmzeit nicht nur für Archäologen ein Mekka der Forschung geworden. Heute kommen Spezialisten unterschiedlicher Disziplinen wie Geologie, Botanik, Paläontologie oder Physik aus der ganzen Welt zur Fundstelle, um ihre neuesten Methoden zu testen und gemeinsam das einmalige Archiv zu studieren.
Besonders spannend ist die Schöninger Abfolge für die Archäologen. Tausende Funde haben sich vor allem in der obersten Schicht mit der offiziellen Bezeichnung Schöningen 13 II-4 erhalten. Hier liegen am ehemaligen Seeufer vor allem die Überreste von zerlegten Pferden. Die exzellent erhaltenen Knochen lassen keinen Zweifel daran, dass die bis zu circa 1,70 Meter großen Pferde (Widerristhöhe des Equus mosbachensis) vom Menschen zerlegt wurden: Die markhaltigen Knochen sind zerschlagen, und auf den Oberflächen finden sich immer wieder feine Schnittspuren von Feuersteinmessern, die zur Zerlegung genutzt wurden. Es handelt sich um mindestens 25 Pferde, die hier am See zerlegt wurden.
Diese Beobachtungen passen zu den Holzwaffen, die nach und nach zwischen den Knochen entdeckt wurden. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass der Mensch vor 300.000 Jahren ein versierter Jäger war und den Pferden am Seeufer auflauerte. Dachte Ausgräber Thieme zunächst noch an eine einmalige Massenjagd, so zeigte die systematische Auswertung der Knochen, dass die Jäger sicher wiederholt das Seeufer aufgesucht und jeweils nur einzelne Individuen erlegt haben. Inzwischen wissen wir auch, dass die Fundschicht deutlich ausgedehnter ist als gedacht und sich auf einer Länge von über 100 Metern entlang des Seeufers erstreckte.
Frühe Spitzentechnologie
Mindestens neun Holzwaffen konnten in den 1990er Jahren unversehrt geborgen werden. Die hölzernen Schätze wurden jahrelang durch die Restauratoren des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege täglich „gepflegt“: Dank der intensiven konservatorischen Betreuung konnten die Holzwaffen so in ihrem originalen Auffindungszustand erhalten werden, bis sie 2012 mit Hilfe des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz dauerhaft konserviert wurden.
Dem Holzspezialisten Werner Schoch aus der Schweiz ist es gelungen, den Speeren manches Detail zu entlocken: Für die bis zu 2,5 Meter langen Waffen wurden ausschließlich dicht gewachsene Fichten und einmal auch Kiefer verwendet, die vermutlich aus dem Harz stammen. Die Astansätze wurden entfernt und die Oberfläche geglättet, wie immer wieder erhaltene Schnittspuren belegen. Besonders sorgfältig erfolgte jeweils die Bearbeitung der Spitze, die leicht exzentrisch angelegt wurde, damit der wichtigste Teil der Waffe im massiven Holz und nicht im weichen Markstrahl endete.
Moderne Kopien der Waffen zeigen erstaunlich gute Flugeigenschaften, und die Gewichtsverteilung ähnelt modernen Wettkampfspeeren. Insgesamt lassen die Holzwaffen also keinen Zweifel daran, dass sie das Werk erfahrener Profis sind, die großen Wert auf gutes Rohmaterial und beste Waffeneigenschaften legten. Dabei dürften die Speere jedoch auf kurze Distanzen von wenigen Metern eingesetzt worden sein. Eine massive Lanze entfaltete ihre Wirkung wohl nur unmittelbar am Tier.
Die Welt des Homo heidelbergensis
Die Holzwaffen haben das Bild des frühen Menschen entscheidend verändert. Die Entdeckung der Schöninger Speere hat die Kontroverse, ob der altsteinzeitliche Mensch Aasfresser oder Jäger war, mit einem Paukenschlag beendet. Mancher Forscher hatte die geistigen Fähigkeiten des Heidelbergmenschen völlig unterschätzt.
Mittel- und Westeuropa wurde vom Homo heidelbergensis vor circa 700.000 Jahren kolonisiert. Und es wird immer deutlicher, dass die klimatischen Verhältnisse in dem Gebiet nördlich der Alpen auch in den Warmzeiten für diesen Schritt eine entwickelte Kulturausstattung erforderten. Dazu dürfte neben Jagdwaffen auch die Beherrschung des Feuers gehört haben. Im Schöninger Speerhorizont können wir bislang keine Feuerstellen nachweisen, was angesichts der Lage am Seeufer nicht verwundern muss.
Immer wieder werden wir gefragt, ob wir auch Menschenreste in Schöningen gefunden haben. Die Antwort lautet: bislang nicht, und ehrlich gesagt ist ein menschliches Schädelfragment für einen Archäologen auch ziemlich langweilig. Das Gehäuse eines Laptops sagt uns schließlich auch wenig über seine Rechenleistung. Schöningen informiert uns über die Software des frühen Menschen, und hier erkennen wir das planvolle Handeln von Menschen, die sicher auch über Sprache kommuniziert haben.
Was macht man mit einem Schatz, der nicht golden glänzt; einem Meilenstein der Menschheitsgeschichte, der seinen Reiz erst mit einem Forscherblick entwickelt? Es war eine entschlossene Gruppe von Schöningern, die sich im Förderverein Schöninger Speere – Erbe der Menschheit e.V. engagierte und das Potential der einmaligen Fundstelle erkannte und das Unmögliche in Schöningen möglich machte. Nach einer Machbarkeitsstudie für ein Ausstellungsgebäude fiel 2009 der Entschluss der niedersächsischen Landesregierung, das „paläon“ zu errichten. So zielstrebig wie das Projekt begonnen wurde, erfolgte auch die Realisierung, und nach nur vier Jahren Planungs- und Bauzeit konnte der spektakuläre Bau des Architekturbüros Holzer Kobler aus Zürich im Juni 2013 seine Tore öffnen. Damit ist in der Schöninger Provinz ein Projekt realisiert worden, das in mancher deutschen Großstadt vielleicht noch heute auf seine Eröffnung warten würde.
Weitere Grabungen
Das „paläon“ liegt in Sichtweite zur Fundstelle, und nach wie vor gibt der Forschungssockel am Rande des Tagebaus, der in einer Kooperation der Universität Tübingen (Prof. Nicholas Conard, Dr. Jordi Serangeli) und des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege weiter untersucht wird, neue Geheimnisse preis. So konnte das Forscherteam 2014 erstmals Überreste der seltenen Säbelzahnkatze vorstellen, die unweit der Speere gefunden wurden. Die gefährliche Katze, die dem Publikum aus dem Film „Ice Age“ als sanfter „Diego“ geläufig ist, lebte also zur gleichen Zeit wie der Mensch am Seeufer. Insofern dürften die Holzwaffen auch verhindert haben, dass sich das gefährliche Raubtier an der Jagdbeute bediente. Auch in diesem Fall hilft der Förderverein und unterstützt das nächste große Projekt: Die einmaligen Funde der Säbelzahnkatze sollen 2017 in einer Sonderausstellung der Öffentlichkeit präsentiert werden.
Die Forschungen sind noch lange nicht am Ende. Erst kürzlich konnte der 2 Meter lange Stoßzahn eines Waldelefanten mit weiteren Knochen gemeldet werden. Sollte der Mensch vor 300.000 Jahren auch einen solchen Riesen erlegt haben? Diese Frage ist noch ungeklärt, doch schon jetzt ist sicher: Der Fundplatz Schöningen hält noch manche wissenschaftliche Überraschung für seine Besucher bereit. Es lohnt sich, diesen außergewöhnlichen Ort der Forschung zu besuchen.
zur Erforschung der humanen Evolution und ordentliches Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts.