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Buch der Woche

Kollektives Tagebuch des Ersten Weltkriegs

Fast hundert Jahre lang blieben sie in privaten Händen, unveröffentlicht, dann fanden sie den Weg ins Deutsche Tagebucharchiv. Jetzt sichteten Lisbeth Exner und Herbert Kapfer, unterstützt von den Mitarbeitern des Archivs, für diesen Band erstmals die dort lagernden ca. 240 Tagebücher aus der Zeit zwischen 1914 und 1918 und komponierten aus den dafür geeigneten die Verborgene Chronik, eine Art kollektives Tagebuch des Ersten Weltkriegs.

18.07.2014

Montag, 27. Juli 1914
Josef Glaser, im Zug bei Zittau
Um 9 Uhr vormittags Telegramm erhalten folgenden Inhalts: »9. Korps mobil, sofort kommen. « Die Vorstandsmitglieder telefonisch verständigt. Von 11 bis 12 Uhr Vorstandssitzung. Kollege Röllig, Hildesheim, als Vertreter bestellt. Nach dem Essen in Uniform geworfen. Bei Herrn von Krosigk und Inspektor Rauch Abschiedsbesuche gemacht und in Fabrik die letzten Anordnungen getroffen. Um 2.15 Uhr in Begleitung von Irma mit dem Wagen zum Bahnhofe Belleben gefahren, dort von Kollegen Hartmann verabschiedet. Um 3.42 Uhr abgefahren über Halle, Leipzig, Dresden, Zittau nach Reichenberg. Auf den Stationen normales Leben.

Annemarie Pallat, Wannsee
Trübes Wetter und trübe Aussichten: Österreich mobilisiert. Abends bemerkte Ludwig eine kleine schmerzhafte Stelle am Fuß. Gertrud Blanckenhorn, Kassel Spannung stark, da Russland mobilisiert. Unser Kaiser aber wünscht den Frieden.

Dienstag, 28. Juli 1914
Josef Glaser, Schüttenitz (Österreich- Ungarn, Böhmen)
In Reichenberg eingetroffen. Einige Stunden geschlafen. Die Feldausrüstung in Ordnung gebracht, um 9.50 Uhr abgefahren. Reserveleutnant Hendrich vom 73. Infanterie- Regiment fährt bis Leitmeritz mit. Dort um 1.30 Uhr eingetroffen. In der Stadt herrscht reges Leben, vor allen öffentlichen Gebäuden stehen große Menschenmengen. Zahlreiche Wagen mit Ausrüstungsgegenständen rollen durch die Straßen. In der Kaserne erfahre ich die Zuteilung zur 8. Kompanie. Mittels Wagen mein Gepäck abgeholt und nach Schüttenitz gefahren. Dort beim Fleischermeister Kubitschek Wohnung bezogen. Um 7 Uhr mit Reserveleutnant Liebisch nach Leitmeritz gefahren und im Hotel Schwane gegessen, das erste Essen seit 8 Uhr früh. An Stelle des Holzkoffers einen leichten Stoffkoffer gekauft, da unsere Verwendung in Serbien gesichert erscheint. In der Stadt noch bewegtes Leben. Nach 9 Uhr den Rückweg zu Fuß angetreten, dreiviertel Stunden Gehzeit. Sehr voluminöses Bett in geräumigem Zimmer.

Mittwoch, 29. Juli 1914
Annemarie Pallat, Wannsee
Der Fuß bessert sich, aber Ludwig muss ruhig liegen. Dabei werden die Zustände immer aufregender. Alles hängt davon ab, ob Russland sich einmischt. Es regnet Bindfäden. Nachmittags in Friedenau. Die Kriegserklärung Österreichs wird veröffentlicht und das Manifest Kaiser Franz Josephs an seine Völker.

Friedrich Link, Freiburg
Krank gemeldet bis 16. August, werde ich heute zum Dienst berufen wegen großen Telegrammverkehrs. Lage beginnt ernst zu werden.

Donnerstag, 30. Juli 1914
Josef Glaser, Schüttenitz (Österreich- Ungarn, Böhmen)
Nachmittag um 1.30 Uhr mit der Kompanie zur Schießstätte nach Trabschitz marschiert in zweieinhalb Stunden. Mannschaft schießt gut.

Friedrich Link, Freiburg
Tag und Nacht Dienst. Telegramme deuten auf Verschlimmerung der Lage hin.

Annemarie Pallat, Wannsee
Russland mobilisiert! Frau Sievers telefoniert, dass in Berlin Extrablätter ausgegeben seien mit der Nachricht, dass Deutschland auch mobilisiere. Aber die Nachricht wird öffentlich dementiert. Abends Jolles bei uns, der sich als Kriegskorrespondent melden oder sonst was Nützliches tun will. Später kamen noch Sievers in großer Aufregung. Ludwig arbeitet mit unerschütterlicher Ruhe an seinem Buch.

Freitag, 31. Juli 1914
Mädchen, Karlsruhe
Da Serbien eine unzureichende, unbefriedigende Note an Österreich sandte, wurde der Krieg zwischen Serbien und Österreich beschlossen. Serbien hat die Unterstützung Russlands zugesichert bekommen. Welch eine Verantwortung liegt jetzt auf dem russischen Staat! Österreich hat vollständig mobilisiert, die Truppen sollen Belgrad schon eingenommen haben. Die Friedensverhandlungen Englands hat Deutschland abgelehnt. Gestern war der junge Graf Geßler hier zu Tisch.

Elisabeth Schwarz, Heidelberg
Vor Erwartung und Neugierde hielt es kein Mensch daheim aus. So war alles auf den Straßen versammelt, wir selbst auf der bekannten Hauptstraße, als uns gegen Abend die »roten « Zettel verkündeten: Kriegszustand, noch keine Kriegserklärung!

Annemarie Pallat, Wannsee
Der Fuß wieder etwas schlechter: Es ist scheußlich, dass Ludwig so festsitzt. In Berlin morgens, als ich mit Peter dort war, um Geld zu holen, noch alles ruhig, nur Banken und Sparkassen voller Menschen. In den Warenhäusern wollen sie keine Lebensmittelvorräte mehr ausgeben. Nachmittags wird der Kriegszustand über Deutschland verhängt. Der Kaiser fährt durchs Brandenburger Tor ein und hält eine Ansprache. Schade, dass man nicht dabei war! Hier regelt man seine Finanzen und sucht sich Vorräte zu sichern. Ludwig arbeitet ruhig weiter.

Ernst Eberlein, Schweidnitz, Schlesien
Um 5½ Uhr nachmittags Verkündung des Kriegszustandes durch einen Offizier und vier Begleiter. Der Marktplatz hatte sich gefüllt. Nach Verlesung des ersten Teils brauste ein kräftiges Hurra durch die Luft, angestimmt durch einen alten weißbärtigen Herrn. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, war das Stadtleben ein unverändertes. Oft drängte sich neugieriges Publikum zusammen, eifrig alle Möglichkeiten der Zukunft erörternd. Am Bahnhof reges Leben, die Sommerfrischler kehrten zurück, die eingezogenen Reservisten füllten die Straßen. Bei Zivilbevölkerung teilweise Freude, teilweise Betrübnis insbesondere beim besonnenen Publikum, das den Ernst der Situation mehr übersah. Bei den jungen Offizieren wider Erwarten viele ernste Gesichter und oft nur gezwungenes Lächeln.

Samstag, 1. August 1914
Josef Glaser, Schüttenitz (Österreich- Ungarn, Böhmen)
Um 9 Uhr am Marktplatz in Leitmeritz feierliche Einsegnung. Blauer Himmel, große Menschenmenge. Tscheche demonstriert durch Ruf: »Hoch Serbien! «, wird verprügelt. Nachmittags wimmelt es von Menschen in Schüttenitz, die die eingerückten Reservisten besuchen.

Mädchen, Karlsruhe
Hier ist schon alles gerüstet. Die Brücke bei Maxau ist von den hiesigen Dragonern bewacht. Man darf nur in Begleitung eines Soldaten die Brücke betreten. Heute hat sich Wilhelm als Kriegsfreiwilliger bei den Dragonern gestellt. Am zweiten Mobiltage muss er eintreten. Es ist kaum noch etwas zu bekommen. Die Preise sind gewaltig gestiegen, Mehl von 20 auf 35 Pfennig. Da ich erst fünfzehn Jahre alt bin, darf ich mich als Krankenhilfe noch nicht melden. Um aber nicht müßig zu Hause zu sitzen, will ich sehen, ob ich genommen werde, um im Ernstfalle den Soldaten Erfrischungen an der Bahn zu reichen. – Abends 6 Uhr. Der Krieg ist erklärt! Ich kann es nicht glauben, kann es mir nicht vorstellen … was heißt es, Krieg … Gott sei mit uns, wir Menschen können nichts mehr machen. Wilhelm kommt Montag in die Kaserne. Major Moser hat sich noch sehr nett und liebenswürdig mit ihm unterhalten und hat ihm gesagt, dass Graf Geßler den Wunsch hege, ihn in seinem Regiment als Fahnenjunker zu sehen. Er wird aber als Kriegsfreiwilliger eintreten. Gott schütze ihn. In der ganzen Stadt herrscht Begeisterung. Bei der Kriegsverkündigung sangen sie heute ›Deutschland, Deutschland über alles‹.

Annemarie Pallat, Wannsee
Gegen 7 Uhr wird die Mobilisierungs- Ordre hier an den Säulen angeschlagen. Also wirklich. Ich möchte nach Ber18 Verborgene Chronik lin, aber Peter hat keine besondere Lust. Wenn nur Ludwig nicht so festsäße. Jolles macht alles in Berlin mit.

Elisabeth Schwarz, Heidelberg
Ungeheure Begeisterung bei Alt und Jung! Arm und Reich reicht sich die Hand, spricht zusammen auf den Straßen. Alles ist eins in dem Gedanken: Zusammenhalten, was da kommen mag. Nun wird nichts mehr gearbeitet, alles macht Feierabend. Viele junge Männer sieht man eilends heimwärts laufen: »Ich muss mich morgen früh stellen «, heißt’s. Überall die gleiche Begeisterung, alle freuen sich dreinzuschlagen.

Hilde Grapow, Kassel
Am Vorabend des Weltkrieges!?! steht heute auf den meisten Depeschen! So sieht Krieg aus, muss ich immer denken! Es ist viel, viel grässlicher, als man immer dachte und aus Büchern las.

Georg Becker, Alzey
Gegen 6 Uhr hörte ich im Kreiskrankenhaus zu Alzey, die Mobilmachung sei befohlen. Wir eilten auf den Roßmarkt, wo eine große Menge in dumpfem Schweigen harrte, denn noch war hier nichts angeschlagen, und nur Einzelne hatten die Nachricht mitgebracht. Nun erschien auch ein Schutzmann und klebte an die Litfaßsäule die Meldung, die alle wussten und die doch jeder sehen wollte. Die meisten waren erschüttert. Jeder, der nicht selbst mitmusste, hatte einen ihm Nahestehenden, der ins Feld sollte. Die zwei Bayern Hirtreither und der Provisor Godesbauer waren am meisten kriegsbegeistert. Sie fuhren noch am selben Abend nach München.

Meta Iggersheimer, Kolberg, Pommern
Tausende von Fremden ergriffen eiligst die Flucht, die Züge waren riesig überfüllt. Mich überkam ein eigenartig dumpfes Gefühl, ich konnte das Schwere noch nicht ganz fassen. Am Abend letztes Konzert, die Gäste kargten nicht mit Applaus.

Sonntag, 2. August 1914
Richard Walzer, Stuttgart
Sachen gepackt und abends Abschied gefeiert im Wilhelmsbau.

Hilde Grapow, Kassel
Hier ziehen immerzu die Truppen aus, alle laufen in feldgrauer Uniform herum. Man sieht schrecklich viel verweinte und ernste Gesichter. Kassel ist belebt wie nie. Nagelneue Autos flitzen herum, Pferde und Leiterwagen, Möbelwagen, alles wird herangeholt. Viele Soldaten sind riesig vergnügt, singen und freuen sich, dass wir Deutsche auch mal zeigen können, was wir können! Alles ist in Bewegung. Heute Morgen war ich bei Pfarrer Stein in der Kirche. Er sprach kurz und wunderhübsch über meinen Konfirmationsspruch: »Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme. « Alle waren gerührt. Wunderhübsch war es!

Annemarie Pallat, Wannsee
Mich litt es nicht länger hier, ich musste nach Berlin. Peter enttäuscht mich sehr durch seinen Mangel an Begeisterung, er wollte nicht mit. Ich ging mit Frau Jolles und Jan, um ½ 11 Uhr Gottesdienst am Bismarck- Denkmal vor dem Reichstag. Um ½ 12 Uhr gingen wir die Linden entlang bis zum Schloss, sahen die Wache aufziehen und die kronprinzliche Familie anfahren. Fabelhaft war der Menschenandrang und die allgemeine Begeisterung. Um ½ 4 Uhr war ich wieder in Wannsee. Jolles telefoniert um ½ 9 Uhr, dass Japan den Krieg an Russland erklärt habe! Die Franzo sen haben Nürnberg bombardiert per Aeroplan. Wilde Gerüchte überall.

Meta Iggersheimer, Kolberg, Pommern
Erster Mobilmachungstag wurde durch überall angeschlagene Zettel kundgegeben. Alles befand sich in furchtbarer Erregung. Ich wurde nicht mehr Herr meiner selbst, eine Unruhe überkam mich, die mir alles klare Denken verwehrte. In den Hafen fuhr ein Schleppdampfer herein, der in Kriegszeiten den Weg für feindliche Schiffe versperren muss. Eine Menge russische Spione wurde verhaftet und standrechtlich erschossen. In unserem Hause wohnte gleichfalls eine russische Dame, welche verdächtigt wurde, Bomben bei sich zu haben. Die Polizei hielt Haussuchung, fand aber zum Glück nichts Verdächtiges vor. Trotzdem war die Aufregung eine maßlose.

Montag, 3. August 1914
Paula Busse, Bensberg bei Köln
Seit gestern früh ist mein Herzallerliebster fort, um sich seinem Vaterland zur Verfügung zu stellen. Welche Tage und Nächte gingen dem Abschied voran, davon will ich schweigen. Wie viel kann das Menschenherz ertragen. Wir sind die Tage keinen Schritt voneinander gewichen, jede Minute wollte man zusammen sein. Er hat den Abschied wie ein Held getragen. Ein kleines Ringlein, das ich ihm schon als Braut einmal gegeben, habe ich ihm an einem goldenen Kettchen um den Hals gehängt, das soll ihn schützen. Mit heißen Tränen und Küssen habe ich es benetzt und an die Lippen gedrückt, vielleicht hat meine heiße Liebe die Macht, eine feindliche Kugel von ihm abzuwenden. Sein Vater und ich gaben ihm das Geleit zum Bahnhof. Ich ließ es mir nicht nehmen, ich musste den Säbel tragen, wie habe ich ihn verstohlen an den Mund gepresst. Wie stattlich sah mein Liebster aus. Ich hielt mich tapfer, nur als der Zug nicht mehr zu sehen, da verließ mich die mühsam bewahrte Fassung. Lieber, lieber Gott, gib uns ein Wiedersehen!

Clara und Josephine Bohn, Ingersheim, Elsaß- Lothringen
Es mussten viele militärpflichtige Männer und Jünglinge zum Heer einrücken und ihre Heimat verlassen. Der »letze Berg« wurde mit Kanonen und Soldaten besetzt. Man vermutete, der Feind rücke in das Münstertal ein.

Meta Iggersheimer, im Zug bei Berlin
Krieg mit Frankreich. Französische Truppen halten deutsche Ortschaften besetzt. Bomben werfende Flieger kommen seit gestern nach Baden und Bayern und versuchen unsere Bahnen zu zerstören. Frankreich hat damit den Angriff gegen uns eröffnet und den Kriegszustand erklärt. Unseres Reiches Sicherheit zwingt uns zur Gegenwehr. Der Kaiser hat die erforderlichen Befehle erteilt.

Hilde Grapow, Kassel
Heute Morgen kamen feine Depeschen. 1) Deutsche über die russische Grenze bei Thorn, 2) ein französischer Flieger heruntergeschossen, 3) Sprengung eines Tunnels bei Kochem verhindert, die zwei Leute erschossen. 4) König Peter von Serbien mit 20 000 Mann von Österreichern gefangen genommen!!! 5) Kreuzer Augsburg im Hafen Libau (Russland) Minen gelegt, Hafen in Brand! 6) Russische Flotte im Hafen Libau vollständig vernichtet!!!!!! Das ist doch fein! Ich habe mich mächtig gefreut!

Georg Becker, Alzey
Der Montag begann mit einer Blinddarmoperation: ein Patient, der schon vor Wochen bei mir gewesen war und bisher keine Zeit zur Operation gehabt hatte. Jetzt schien es ihm das Sicherste, sich den Bauch aufschneiden zu lassen. Dies ging noch an, da er wirklich nach meiner Ansicht nicht ausrücken konnte. Auch sonst fanden sich manche ein, die ein Zeugnis über früher im Krankenhaus durchgemachte Erkrankungen verlangten. Es wurde eine große Razzia abgehalten. Alles, was einigermaßen entlassen werden konnte, vor allem die Drückeberger wurden ausgewiesen. So konnte ich Dr. Drescher das Haus mit einem Bestand von zwanzig Patienten übergeben. Der Nachmittag war mit Packen ausgefüllt.

Dienstag, 4. August 1914
Oberst a. D., Schlesien
Wenn ich nicht solch alter Krüppel wäre, ginge ich auch mit. Leider kann ich mich in keiner Weise dem teuren Vaterlande nützlich machen.

Otto von der Meden, Liebemühl, Ostpreußen
Ich und meine Jungens Adolph und Friedrich haben uns sofort freiwillig zum Heeresdienst gemeldet. Adi meldete sich in Spandau beim Garde- Fußartillerie- Regiment und Friedel bei der Ersatz- Schwadron eines Regiments Jäger zu Pferde in Hannover. Ich kaufte sofort in Osterode als Militärkommission ca. 500 Pferde und 200 Ackerwagen zur Beförderung von allerhand Kriegsmaterial an. In zwei Tagen mussten die Pferde und Wagen ausgehoben sein. Ich konnte dem Generalkommando Allenstein melden, dass ich genügend Pferde angekauft hätte. Während des Ankaufsgeschäftes erhielt ich schon die Anfrage, ob ich für den erkrankten Hauptmann von Mandel die Führung der 6. Artillerie- Munitions- Kolonne übernehmen wollte. Ich willigte natürlich ein und musste am dritten Mobilmachungstage zwei Stunden nach beendigtem Pferdeankauf mit der Kolonne ausrücken. Sie bestand aus ca. 25 Munitionswagen mit Vorder- und Hinterprotze, 180 Kanonieren, 180 Pferden und zwei Offizieren. Alles nigelnagelneues Material. Jeder Rock, jede Hose, jeder Wagen, alles neu. Ich ließ aufsitzen, brachte ein Hurra auf unseren Kaiser und König aus, und fort ging es in den Krieg. Ganz so einfach war das nun allerdings nicht. Die Pferde, die an Kummetgeschirre nicht gewöhnt waren, sondern vom Lande her nur Brustblattgeschirre, wollten nicht anziehen. Schließlich ging es aber. Um 4 Uhr nachmittags verließen wir Osterode, und um 9 Uhr abends waren wir im ersten Quartier in dem kleinen Städtchen Liebemühl.

Annemarie Pallat, Wannsee
In Wannsee tragikomische Aufregung über 24 Autos mit russischem Gold und Spionen, die hier durchkommen sollen und aufgehalten werden müssen, am Rathaus große Absperrung der Chaussee. Ich fuhr per Rad nach Nikolassee zur Versammlung des Vaterländischen Frauenvereins, aber es war viel zu voll. In Berlin tritt der Reichstag zusammen, feine Thronrede des Kaisers, Einigkeit mit den Sozialdemokraten.

Gertrud Blanckenhorn, Kassel
Nun möchte ich nur irgendwo helfen, aber ich kann ja nicht fort, Papa will es nicht. Ich schäme mich so, nicht mitmachen zu können. Einzelschicksale gibt es nicht mehr, nur Deutschlands Geschick zu bedenken.

Milly Haake, Hamm
Die Deutschen drei russische Städte eingenommen. Hurra! Montag hat Russland den Krieg erklärt. Heute ist Notabiturium, und Donnerstag fährt Wilhelm nach Paderborn. Es wurde gesagt, dass bald der Landsturm aufgeboten wird. Dann muss Enzio auch mit, o Schreck. Und doch freu ich mich in einer Beziehung, denn ich glaube, dass er sehr tapfer sein wird. Montag Morgen habe ich ihn getroffen und bin mit ihm gegangen. Leider war Marianka auch dabei. Er erzählte, dass zwei Brüder von ihm mitmüssten. Was Gretchen wohl sagt, wenn ihr Paul wegmuss. Ich nenne ihn nur Enzio, weil ich finde, dass das der schönste Jungensname ist. Ich hab mal eine Geschichte gelesen von Bertha Josephson- Mercator: ›Unter Jerusalems Toren‹ heißt sie, doch ursprünglich ›Gott will es‹. Fein, o ganz wunderbar schön. Da hieß auch einer Enzio, und den mocht ich auch so gern leiden.

Mittwoch, 5. August 1914
Meta Iggersheimer, im Zug bei Lichtenfels
Die ganze Nacht im Zug verbracht! Morgens ½ 6 Uhr in Saalfeld, reizendes Thüringer Städtchen. Nachricht von einer russischen Niederlage. Siebzig Russen und zehn Franzosen wurden in unserem Zug verhaftet. Es herrscht überall die denkbar größte Begeisterung. Die Bahnhöfe sind bis spät in die Nacht mit Menschen dicht besetzt, welche den vorüberfahrenden Reservisten ein lautes »Hurra! « zurufen. Kurzer Aufenthalt in Probstzella und Lichtenfels. Erneuerung des Eisernen Kreuzes. Die Deutschen rücken in breiter Front in Belgien ein.

Georg Becker, Würzburg
Am vierten Mobilmachungs- und meinem Gestellungstag meldete ich mich um ½ 8 Uhr in der Kaserne des 2. Train- Bataillons. Ich erfuhr, dass die Kriegslazarettabteilung, der ich zugehöre, in der Turnhalle in der Huttenstraße sei. Um ½ 12 Uhr hatte man uns bestellt, um uns dem Generaloberarzt vorzustellen. Er war ein 67er, der schon im Krieg 70 mit gewesen, eine schöne charakteristische Soldatenerscheinung, von Henn aus Bodenheim. Die Mannschaft betrug neunzig Mann. Es stellte sich bald heraus, dass niemand recht Bescheid wusste und dass der Trainleutnant der Einzige war, der etwas von der Sache verstand. Das Einzige, was von ärztlichem Material vorhanden war, war ein großer zahnärztlicher Kasten. Verbandsmaterial, Instrumente, alles, hieß es, würden wir von den Feldlazaretten, die wir übernehmen müssten, bekommen. Die einzige von oben angeordnete ärztliche Funktion, das Impfen des ganzen Kriegslazarettpersonals, war nicht möglich.

Mädchen, Karlsruhe
Wilhelm ist schon in der Kaserne. Er kam gestern mit einem Bekannten, Herrn Holthusen, einem sehr netten Menschen, zum Essen. Die jungen Leute sind alle begeistert. Heute hat England den Krieg erklärt. Jetzt heißt es, bis zum Letzten aushalten. Das Volk steht auf, der Sturm bricht los. Gestern Nachmittag habe ich schon fest im Roten Kreuz geholfen. Wie schrecklich ist es, wenn man all das viele Verbandszeug sieht und weiß, dass man es braucht und dass die Verwundeten es nötig haben.

Paula Busse, Bensberg bei Köln
Gibt es einen Gott, so muss er uns seinen Schutz verleihen, denn ungerechter und grundloser ist wohl nie ein Krieg vom Zaun gebrochen worden. Ich war heute Morgen mit meiner Schwester in der Schlosskapelle in Bensberg zum allgemeinen Gebet. So viele Menschen hat unser kleines Kirchlein wohl noch nie beisammen gehabt. Herrliche Worte sprach unser Militärpfarrer, die ich wohl nie vergessen werde.

Gertrud Blanckenhorn, Kassel
Selbst ich brauche wieder Gott und schäme mich, ihn in glücklichen Zeiten abgestritten zu haben. Man hört nichts von den Grenzen. Wären doch erst einmal alle Truppen hinaus. Es dauert noch reichlich lange, finde ich. Wenn es nur bald zum Schlagen käme, dann sähe man doch einmal klar. Die Ungewissheit ist zum Umbringen.

Ernst Eberlein, Breslau, Schlesien
Übernachtet auf Strohsäcken, oft zwei Mann auf einem, gegen 2000 bis 3000 Mann in einem Saal. Welcher Staub! Welcher Geruch?!! Die Begeisterung stellt alle Widerwärtigkeiten in den Hintergrund. Früh um 8 Uhr Abmarsch nach Cawallen. Die militärische Tätigkeit bestand beim Arbeiterbataillon zunächst im Aufwerfen von Schanzen (9 m lang, 1 m hoch). In Cawallen jedes Haus voll Militär. Erste Abendmahlzeit bestand in einer Suppe und einer Scheibe Kommissbrot.

Jakob Krebs, Karlsruhe
Kürnbach, um 4 Uhr früh ein kurzer, aber schwerer Abschied, und fort geht’s einer dunklen Zukunft entgegen. Eine stattliche Zahl, fast lauter Familienväter, fahren wir 5.27 Uhr in Flehingen ab. In Bretten ein kurzer Abschied von den nach Bruchsal und Mannheim einberufenen Kameraden. Unser Zug geht erst 7.48 Uhr weiter. Ein Zug mit jungen Reservisten aus München für Metz erregt große Begeisterung durch die Ausschmückung ihres Zuges, an jedem Wagen hängen Bierflasche und Rettich. Um 10 Uhr melden wir uns in der Gottsauer- Kaserne beim Feldartillerie- Regiment 50, werden nach längerem Herumstehen eingeteilt, erhalten Bürgerquartiere, empfangen unsere Ausrüstungsstücke und geben abends noch unsere Zivilkleider zur Post.

Clara und Josephine Bohn, Ingersheim, Elsaß- Lothringen
In vier Tagen mussten 900 Männer und Jünglinge fort. Da herrschte abends Ruhe im Dorf.

Quelle: Lisbeth Exner/Herbert Kapfer: Verborgene Chronik 1914. Herausgegeben vom Deutschen Tagebucharchiv. Galiani Verlag, Berlin 2014. 416 Seiten, 25,70 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten 13 bis 26.