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„Freunde, nicht diese Töne!“
Hermann Hesse und der Krieg – das Thema könnte 2022 zum 60. Todestag des Literaturnobelpreisträgers nicht aktueller sein. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Hesse hin- und hergerissen zwischen Vernunft und Patriotismus.
Krieg lässt sich mit Vernunft und gerechtem Gefühl nicht koordinieren. Er braucht einen gesteigerten Zustand des Gefühls, er braucht Enthusiasmus für die eigene Sache und Hass gegen den Gegner.“ Der Schriftsteller Stefan Zweig schrieb diese Sätze 1942 in seinem letzten Buch Die Welt von gestern. Eine Generation vor ihm war ein anderer Großer der deutschen Literatur, Hermann Hesse, bei der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts hin- und hergerissen zwischen Vernunft und Patriotismus.
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Hesse lebte seit 1912 in Bern, war aber noch deutscher Staatsbürger. In der neutralen Schweiz erfuhr er am 1. August 1914 vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs – ein welthistorisches Ereignis, das er für sich persönlich als den wahren Eintritt ins Leben empfand. Hesse war da immerhin schon 37 Jahre alt. Bislang war er unpolitisch gewesen, nicht aber unpatriotisch. Er ärgerte sich über antideutsche Bemerkungen in seinem schweizerischen Umfeld und nahm innerlich am Schicksal seiner deutschen Landsleute teil.
Die nationalistischen Wallungen aus seiner Heimat führten sogar dazu, dass er sich am 29. August 1914 auf dem deutschen Konsulat in Bern als Freiwilliger anbot. Er wurde jedoch wegen seiner Kurzsichtigkeit zurückgestellt, wie schon im Jahr 1900 bei seiner Musterung. Auch in der Schweiz gedachte er sich nicht dem zu entziehen, was er als Pflicht fürs Vater land empfand. Etliche von Hesses Freunden hingegen rückten ein. Einige fielen sogar schon in den ersten Kriegstagen. Hesse hatte Freunde und Verwandte auf vielen Seiten – Deutschland, Frankreich, Russland –, die nun aufeinander schossen. Das war für ihn eine schwer zu verarbeitende Tatsache.
Keine poetische Schützenhilfe
Im September 1914 hatten 93 deutsche Intellektuelle – darunter Gerhart Hauptmann, Max Liebermann und Max Planck – einen „Aufruf an die Kulturwelt“ unterzeichnet, der als „Manifest der 93“ bekannt wurde. In ihm wurde die Einheit von Kultur und Militär postuliert. Hesse wies dieses Pamphlet zur Kriegspolitik zurück; für ihn waren Kultur und Krieg zweierlei. Ja, er war Patriot. Ja, er lehnte die Hegemonialpolitik Großbritanniens ab. Ja, er verachtete den angelsächsischen merkantilen Pragmatismus. Aber Hass auf andere Völker? Nein, das war dem Weltbürger Hesse zuwider. Sosehr er die Position des Kaiserreichs tolerierte, so sehr war er abgestoßen von dem, was der Krieg für die Kultur und für das Zusammenleben der Völker bedeutete. Hesse wollte sich nicht vereinnahmen lassen. Er hatte von der Schweiz aus einen anderen Blick auf die Dinge, der ihm verbot, poetische Schützenhilfe zum Krieg zu leisten. Er bestand als deutscher Europäer auf eigenständigem Denken.
Am 3. November 1914 veröffentlichte er in der Neuen Zürcher Zeitung einen aus innerer Erschütterung über die Brutalität des Kriegsgeschehens entstandenen Essay. Darin versuchte er, den Propaganda- und Hasstiraden etwas entgegenzusetzen und das Verbindende zwischen den Intellektuellen Europas herauszuarbeiten. Dieser Artikel, der in Deutschland von 20 Zeitungen nachgedruckt wurde, sollte ihm den Hass und die Verachtung der deutschen Konservativen auf Lebenszeit eintragen. Kriegsheimkehrer sollten in ihm später einen Vaterlandsverräter sehen. Für die neue Garde der Expressionisten war er als im Konventionellen verhafteter Romantiker nicht mehr nur literarisch indiskutabel, sondern auch politisch. Was hatte er nur Furchtbares geschrieben, das ihm solche Urteile eintrug?
Der Artikel auf der Titelseite der Neuen Zürcher Zeitung erschien unter der Überschrift „O Freunde, nicht diese Töne“. Die Zeile entstammt Schillers „Ode an die Freude“, die als Textvorlage für Beethovens 9. Sinfonie diente. Hesses Artikel war nicht weniger als sein politisches Glaubensbekenntnis gegen den Wahn nationalistischer Besessenheit. Er gestand jedem Soldaten an der Front und jedem Politiker das Recht auf Erbitterung, auf Zorn und auf Hass zu. Aber die Dichter, Künstler und Journalisten dürften sich von solchen Gefühlen nicht mitreißen lassen. Es war ein Aufruf, das Verbindende zu erkennen, das die Völker Europas eint, vor allem die übernationale Menschlichkeit, erwachsen aus der Gemeinsamkeit der europäischen Kultur.
An der Realität vorbei
Hesse warf den Intellektuellen Europas vor, das furchtbare Geschehen auf dem Kontinent noch zu verschlimmern, „indem sie den Krieg ins Studierzimmer tragen und am Schreibtisch blutige Schlachtgesänge oder Artikel verfassen, in denen der Hass zwischen den Völkern genährt und ingrimmig geschürt wird“. Aber sein Text hatte keine pazifistische Programmatik. Nicht die geringste politische Handlungsempfehlung gab er ab. Und doch war die Reaktion auf den Artikel in Deutschland verheerend. Hesses Appell, die Künstler und Intellektuellen mögen zusammenstehen gegen die destruktiven Strömungen der Zeit, auch wenn sich die Armeen ihrer Länder bekämpften, ging an der tagespolitischen Realität vorbei; er konnte angesichts der nationalistisch aufgeheizten Stimmung kein Gehör finden. Vielleicht war es naiv von ihm, zu glauben, er könnte einen Beitrag zur Vernunft leisten in einer Situation, in der die Schlafwandler in den europäischen Regierungen den bis dahin schlimmsten Krieg der Weltgeschichte herbeiführten. Seine deutschen Leser, die bis dahin von den meisten seiner Bücher begeistert waren, verstanden plötzlich ihren Hesse nicht mehr. Wieso war er nicht begeistert wie sie? Wieso konnte er diesen Krieg unselig nennen, wo er doch als eine heilige Pflicht, eine fröhliche nationale Aufgabe angesehen wurde, die mit Sicherheit erfolgreich bewältigt werden würde? So lautete ja die landläufige Auffassung vom Kriege im Reich Wilhelms II.
Geistige Nahrung für Gefangene
Hesse war kein Pazifist. Für ihn redeten Pazifisten nur und taten nichts, was zur Linderung von Leid beitrug. Er hingegen wollte etwas Praktisches tun – und sei es auch noch so klein. Und so wurde er zusammen mit dem Zoologen Richard Woltereck Leiter der Kriegsgefangenenfürsorge in der Berner Thunstraße als „Beamtenstellvertreter ohne Feldwebelrang“. Es war eine für den Intellektuellen und Büchermenschen Hermann Hesse ideale Stelle. Er bekam dafür bis Mai 1917 nicht einmal Sold. Erst als das Kriegsministerium in Berlin aufgrund der wachsenden Zahl von Gefangenenlagern die Bedeutung der Fürsorgestelle erkannte, erhielten Hesse und Woltereck von Mai 1917 an eine kleine Aufwandsentschädigung.
Bis 1919 beschaffte Hesse nun, unterstützt vom Roten Kreuz, für deutsche Kriegsgefangene Bücher. Dies ließ sich gut mit seiner Ablehnung des Kriegs vereinbaren, denn es war eine Hilfeleistung für den einzelnen Soldaten, der unverschuldet in eine Situation geraten war, die ihm alles an Überlebenswillen und seelischer und körperlicher Kraft abverlangte. Die Gefangenen sollten mit intellektueller Nahrung versorgt werden – mit allem, was für ihren Neustart nach dem Krieg und „für ihr geistiges und moralisches Fortbestehen notwendig“ schien, wie Hesse schrieb. Er verband so seinen deutschen Patriotismus mit praktischer Fürsorge und tatkräftigem, klugem Handeln in schwersten Zeiten.
Buchtipp
André Uzulis:
Hermann Hesse – Biografie
Steffen Verlag, Berlin 2021,
303 Seiten, 19,95 Euro
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