Buch der Woche
Wie das Gehirn die Seele macht
Seit dem Altertum wird das Gehirn als Organ der Seele angesehen. Wo und wie aber das Psychische im Gehirn entsteht, wie sich dabei unsere Gefühlswelt, unsere Persönlichkeit und unser Ich formen, kann mit Hilfe der modernen Verfahren der Hirnforschung erst seit kurzem erforscht werden und wird in diesem Buch dargestellt.
Einleitung
Seit Menschen damit begonnen haben, über sich und ihre Existenz nachzudenken, war ihnen das eigene Fühlen, Denken und Handeln rätselhaft. Die Welt um sie herum war zwar auch voller geheimnisvoller Vorgänge, doch bald lernten sie, durch Naturbeobachtungen und damit verbundene mythisch-religiöse Vorstellungen zunehmend Ordnung in diese Welt zu bringen. Die religiösen Anschauungen über die Natur und den Gang der Dinge wurden jedoch mehr und mehr durch wissenschaftliche Erklärungen ersetzt, auch wenn viele diese »Entzauberung der Welt« bedauerten und manche sie bekämpften. Heute scheint innerhalb der »harten« Naturwissenschaften fast nur noch im Bereich der Quantenphysik und der Kosmologie einiges vollkommen unerklärlich. Innerhalb der Biowissenschaften sind die Vorgänge, die einen Organismus am Leben erhalten, und ebenso diejenigen der Vererbung weitgehend aufgeklärt oder lassen eine solche Aufklärung in naher Zukunft vermuten. Dies gilt auch für die Prozesse, die im Gehirn auf der Ebene einzelner Nervenzellen und ihrer Bestandteile und innerhalb kleinerer Zellverbände ablaufen. Kaum ein Naturwissenschaftler vermutet hier noch geheimnisvolle Kräfte, die die Grenzen des Naturgeschehens überschreiten.
Vielmehr herrscht die Vorstellung von der »Einheit der Natur« vor, die besagt, dass dieselben Prinzipien, die für die unbelebte Natur gelten, auch in der belebten Natur wirksam sind. Das war bis ins späte 19. Jahrhundert nicht selbstverständlich, denn bis dahin nahm man an, Lebewesen würden von ganz anderen Kräften und Prinzipien bestimmt als die unbelebte Natur, z.B. von einer mystischen Lebenskraft (vis vitalis). So glaubte man, es gebe in den Lebewesen eine spezifische »organische« Chemie, die sich von der »anorganischen« Chemie der unbelebten Materie grundsätzlich unterscheide. Der Nachweis durch Friedrich Wöhler im Jahre 1828, dass die »anorganische« und die »organische Chemie« denselben Gesetzen unterliegen, war ein großer Wendepunkt der Wissenschaftsgeschichte, auch wenn diese Tatsache nur sehr langsam akzeptiert wurde und es bis heute vitalistische Konzepte gibt. Einen solchen Erkenntnisfortschritt hat es hinsichtlich solcher Fragen wie »Was sind Geist und Bewusstsein?«, »Woher kommen meine Gefühle und meine Gedanken?« oder »Warum handle ich in dieser Weise und nicht anders?« – also hinsichtlich dessen, was man in einem umfassenderen Sinn als das »Seelische« des Menschen versteht – augenscheinlich nicht gegeben. Auch wenn sich seit langem die Philosophen, später auch die Psychologen und noch später die Neurobiologen mit Antworten auf diese Fragen abmühen, so herrscht auch unter ihnen bislang keinerlei Konsens vergleichbar dem unter Physikern, Chemikern und Biologen.
Erstaunlich viele Philosophen und sonstige Geisteswissenschaftler sind auch heute noch der festen Überzeugung, dass bei seelisch-geistigen Zuständen Prinzipien wirken, die die Grenzen des Naturgeschehens und einer naturalistischen Erklärung überschreiten. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht Bücher und Artikel erscheinen, in denen Geisteswissenschaftler vehement gegen die »reduktionistischen Anmaßungen« und »naturalistischen Grenzüberschreitungen« der Hirnforschung zu Felde ziehen und die Einzigartigkeit des menschlichen Geistes herausstreichen. Das müsste einen in der Wissenschaftsgeschichte Bewanderten nicht weiter beunruhigen, war dies doch zu Beginn der modernen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert nicht anders, und auch nicht beim Entstehen der empirisch-experimentellen Psychologie oder der naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie. Man kann das zum Teil als Kampf um akademische Macht oder als Verteidigung eines Alleinerklärungsanspruchs sehen, den die Philosophie zuvor ihrerseits über Jahrhunderte gegen die Theologie geführt hatte. Diese Haltung weist aber zugleich auf einen tieferen Beweggrund hin. Natürlich bezweifelt kaum ein Philosoph, dass Wahrnehmen und Denken nach bestimmten Prinzipien ablaufen, wie es vor allem Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft zu erfassen suchte, und kein geisteswissenschaftlich orientierter Psychologe, Psychiater oder Psychotherapeut wird etwa den Zusammenhang zwischen frühkindlicher Traumatisierung und bestimmten psychischen Erkrankungen leugnen.
Aber das betrifft ja nicht die Frage nach der »Natur« der Seele und des Geistes: Die Gesetze und Abläufe der Wahrnehmung und des Denkens, das Entstehen und die Erkrankungen unserer Gefühlswelt und deren mögliche Heilung sind nach dieser Auffassung nämlich rein geistig oder rein psychisch und lassen sich auch nur auf diese Weise erklären. Sie mit Strukturen und Funktionen des Gehirns in Verbindung zu bringen liefert zumindest keinerlei zusätzlichen Nutzen, und sie mit ihrer Hilfe gar erklären zu wollen erscheint absurd. Eine solche Haltung ist durchaus verständlich. In unserem täglichen Empfinden und Erleben sind Bewusstsein, Denken und Fühlen etwas ganz anderes als die materielle Welt um uns herum. Diese lässt sich messen, wiegen, in ihren gesetzmäßigen Abläufen erfassen und zum Teil bis auf die siebte Stelle hinter dem Komma bestimmen. Freilich gibt es auch hier Dinge, die nur schwer zu berechnen sind, wie das Wetter, oder rätselhaft erscheinen, wie der Ursprung des Weltalls, die Natur der Gravitation oder die Existenz »objektiv zufälliger« Abläufe im Bereich der Quantenphysik. Das muss uns aber in unserem Alltag nicht bekümmern, denn all das scheint rein innerphysikalische Probleme zu betreffen. Geist und Gefühle kann man – so scheint es – grundsätzlich nicht messen und wiegen; sie haben offenbar gar keine Ausdehnung und kein Gewicht, keinen definitiven Ort, und ihre zeitlichen Eigenschaften sind verwirrend. Eine strikte Kausalität zwischen Gedanken oder Gefühlen in der Weise, dass ein bestimmter Gedanke einen anderen erzwingt, ein bestimmtes Gefühl gesetzmäßig ein nächstes nach sich zieht, scheint es nicht zu geben.
Dies alles drängt uns ein dualistisches Weltbild auf, in dem Geist und Seele und das Naturgeschehen zwei unterschiedliche »Wesenheiten« sind und von wesensverschiedenen Prinzipien beherrscht werden. Gleichzeitig – und das ist das Dilemma – gibt es gute Gründe, an einem solchen dualistischen Weltbild zu zweifeln, so plausibel es auf den ersten Blick erscheint. Nur zu gut kennen wir die enge Beziehung zwischen Psyche und Körper: Große Freude ebenso wie große Furcht lässt unseren Körper erbeben, uns schlottern die Knie, zittern die Hände vor Angst, bei großem Stress wälzen wir uns nachts im Bett herum, der Gedanke an die nahende Prüfung führt zu Schweißausbrüchen und so weiter. Gefühle können unseren Körper ergreifen. Wie aber kann es geschehen, dass Psyche und Geist als immaterielle Wesenszustände auf Gehirn und Körper einwirken, ohne dabei die Naturgesetze zu verletzen, was sie ja ganz offensichtlich nicht tun? Die umgekehrte Wirkungsrichtung scheint genauso rätselhaft: Auf welche Weise führt eine Verletzung zu einer Schmerzempfindung, also etwas rein Seelischem? Wie können chemische Substanzen wie Schmerzmittel oder Antidepressiva auf unsere Psyche schmerz- und angstlindernd wirken, wo doch die Psyche gar keine »Andockstellen« für diese Stoffe hat?
Seit René Descartes hat kein Dualist diese Fragen plausibel beantworten können. Sie stellen sich umso dringlicher, je weiter die Neurowissenschaften in enger Zusammenarbeit mit Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie darin voranschreiten, diejenigen Hirnprozesse zu identifizieren, die mit den geistig-psychischen Vorgängen verbunden sind. Noch vor rund zehn Jahren, als das »Manifest der Hirnforscher« geschrieben wurde, konnte man sich als Geisteswissenschaftler damit beruhigen, dass die bunten Hirnbilder eigentlich gar nichts Wichtiges beinhalten, denn sie zeigen auf den ersten Blick nichts weiter als die Tatsache, dass geistig-psychische Prozesse und neuronale Vorgänge irgendwie parallel verlaufen. Mit der klassisch- geisteswissenschaftlichen Maxime »Verstehen statt Erklären« und »Gründe statt Ursachen« kamen Psychiater und Psychotherapeuten über lange Zeit gut zurecht. Wenn man schon nicht an zwei wesensmäßig unterschiedliche Welten glaubte, so doch zumindest an zwei komplementäre Erklärungswelten, die sich letztlich gar nicht ins Gehege kamen. Hatte nicht Sigmund Freud seinen Entwurf einer Psychologie von 1895 abgebrochen und damit sein großes Ziel, die Psychoanalyse neurobiologisch zu begründen, resigniert aufgegeben? Und hatte er nicht in dem berühmten Aufsatz Das Unbewusste von 1915 festgestellt, das Verständnis des Psychischen benötige zumindest »vorläufig« keine Kenntnis vom Gehirn?
Vor rund zehn Jahren lehnte ein bekannter deutscher Psychoanalytiker während der Lindauer Psychotherapiewochen ein Gespräch mit dem Erstautor dieses Buches mit den Worten ab: »Die Neurobiologen suchen die Seele im Gehirn – sie werden sie dort nicht finden! « Eine beträchtliche Zahl der heutigen Philosophen, Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten vertritt entsprechend einen psychophysischen Parallelismus. Dieser akzeptiert natürlich einen gewissen Zusammenhang zwischen Geist-Psyche und Gehirn, hält ihn aber für irrelevant. Ein solcher Parallelismus wird allerdings umso rätselhafter, als je enger sich die Beziehung zwischen dem Psychischen und dem Neuronalen erweist. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass die mit bewusstem Erleben verknüpften neuronalen Prozesse vom Stoffwechsel her sehr »teuer« sind. Warum wird ein solcher Parallelaufwand betrieben, wenn er ohne funktionale Bedeutung ist? Ganz unplausibel wird ein psychophysischer Parallelismus spätestens mit dem experimentellen Nachweis, dass dem bewussten Erleben von Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen unbewusste neuronale Prozesse in einem gut messbaren Rahmen von einigen Hundert Millisekunden zeitlich vorhergehen, und dass ihr spezifischer Ablauf auch die Inhalte des Bewusstseins bestimmt. Das bedeutet, dass bewusstes Erleben stets einen unbewussten neuronalen »Vorlauf« hat, und dass bestimmte unbewusste neuronale Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit überhaupt etwas bewusst wird. Gleichzeitig heißt dies, dass es sehr viele neuronale Prozesse gibt, die niemals oder zumindest nicht unter den gegebenen Bedingungen bewusst werden, aber keine bewussten Prozesse, denen nicht unbewusste neuronale Prozesse vorhergehen würden. Diese Erkenntnis hat natürlich eine große Bedeutung für das Verständnis der »Natur« von Geist, Seele und Bewusstsein, denn es bindet die Existenz dieser Zustände unlösbar an die Existenz des Gehirns.
Darüber hinaus erhebt sich die dringliche Frage nach den spezifischen neuronalen Bedingungen für das Entstehen und die Art geistig-psychischen Erlebens. Diese Frage steht im Mittelpunkt unseres Buches, wenn es um die Entwicklung von Psyche und Gehirn geht, um die Grundlagen von Persönlichkeit, um das Entstehen psychischer Erkrankungen und die Wirkungsweisen von Psychotherapie. Es stellt sich die Frage, wie weit die Aufklärung der neuronalen Grundlagen denn gekommen ist. Hier wird der Hirnforschung immer wieder vorgeworfen, dass sie über reine Korrelationen hinaus nichts vorzuweisen hat. Dieser Vorwurf ist sicherlich zum Teil berechtigt. So liefert die Feststellung, dass die Amygdala bei Furchtzuständen eine erhöhte Aktivität aufweist, erst einmal keine Erkenntnisse über die kausalen Zusammenhänge zwischen beiden Ereignissen. Für einen interaktiven Dualisten, für den das Gehirn ein Instrument in den Händen des Geistes ist, heißt dies nichts anderes, als dass der Empfindungszustand der Furcht bzw. Angst die Amygdala aktiviert und diese dann den Körper in Bewegung setzt, z.B. um zu fliehen. Natürlich kann man sofort fragen, warum eigentlich der Geist dafür die Amygdala oder überhaupt das Gehirn benötigt. Dem könnte der interaktive Dualist mit dem Argument begegnen, dass ein Pianist eben einen Flügel braucht, um Musik zu produzieren. Allerdings dürfte es dann keine unbewusste Furchtkonditionierung geben, bei der die Amygdala nachweislich aktiviert wird, ohne dass der Betroffene dies erlebt, denn das hieße, dass sich die Tasten des Flügels ohne den Pianisten bewegen.
Nach den Erkenntnissen der Hirnforschung scheint das neuronale Geschehen die psychischen Erlebniszustände zu verursachen und nicht umgekehrt. Läuft dies nicht doch auf einen »platten« Reduktionismus hinaus, für den etwa psychische Erkrankungen wie Depressionen nichts anderes sind als Fehlverdrahtungen in der Amygdala oder Unterfunktionen im Serotoninhaushalt? Solche Aussagen sind in der Tat unter Neuropharmakologen und naturwissenschaftlich orientierten Psychiatern keineswegs selten anzutreffen und dienen dann der geisteswissenschaftlichen Gegenseite als Schreckensbild eines neurobiologischen Reduktionismus. Zwar werden die meisten Neurobiologen zugeben, dass sie psychische Erkrankungen noch nicht in allen ihren Details neurobiologisch erklären können. Aber was ist in vielleicht 20 Jahren? Können wir dann das diagnostische Gespräch des Therapeuten nicht doch durch eine gründliche Untersuchung des Patientengehirns ersetzen? Immerhin kann die moderne Medizin in anderen Bereichen nicht auf technische Diagnoseverfahren verzichten, und viele Ärzte beschränken sich zunehmend darauf, weil es für sie billiger und weniger risikoreich ist. Aber was ist dann mit der Psychotherapie? Könnte auch sie durch neurobiologische oder neuropharmakologische Verfahren ersetzt werden? In der Tat erwecken viele neuropharmakologisch orientierten Psychiater und erst recht die dahinterstehende Pharmaindustrie genau diese Hoffnung: Wenn denn Depression nichts anderes ist als eine Fehlfunktion des Serotoninsystems, dann muss man diesen Defekt eben durch Medikamente, z.B. die bekannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) beheben.
Natürlich kann man argumentieren, dass die genaue langfristige Wirkung der SSRI nicht bekannt ist, dass diese Medikamente keineswegs bei allen Depressiven gleichermaßen wirken und bei manchen Patienten überhaupt nicht, und dass in der Regel die Wirkung mit der Zeit nachlässt – wie bei vielen anderen Psychopharmaka auch. Ein kritischer Experte wird zudem darauf hinweisen, dass die Wirkung sowohl der Neuro- und Psychopharmaka als auch der Psychotherapien verschiedenster Richtung signifikant von einem ganz unspezifisch wirken den Faktor, nämlich der »therapeutischen Allianz«, dem Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut bestimmt wird, und dass daher auch viele angeblich spezifische Wirkungen psychopharmakologischer und psychotherapeutischer Behandlung vornehmlich auf diesen Effekt zurückzuführen sind. Was könnte mehr die Unzulänglichkeit eines reduktionistischen Ansatzes in Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie demonstrieren? Die große Herausforderung besteht also darin, die neurobiologischen Grundlagen des »Seelischen« zu bestimmen und zugleich die Fallstricke eines Reduktionismus wie die eines Dualismus zu vermeiden. Dies wird uns gelingen, wenn wir zeigen können, in welcher Weise im Gehirn Gene und Umwelt miteinander interagieren, vor allem wie vorgeburtliche und nachgeburtliche Erfahrungen auf die Genexpression einwirken, die ihrerseits die synaptische Verschaltung steuert. Eine zentrale Rolle wird dabei entsprechend die Darstellung der »neuronalen Sprache der Seele«, nämlich der Neuromodulatoren, Neuropeptide und Neurohormone spielen, welche die Kommunikation zwischen Zellen, Zellverbänden und ganzen Hirnregionen zugleich bestimmen und widerspiegeln. Auf der Ebene der synaptischen Kommunikation spielt sich nämlich das Gehirngeschehen ab, das für das Psychische entscheidend ist. Es geht dabei um das Ausmaß von Produktion und Freisetzung der neuroaktiven Substanzen und um ihre Wirkung auf bestimmte Rezeptoren.
Entsprechend ist dies die Ebene, auf der sich psychische Erkrankungen »materiell« manifestieren, nämlich durch Veränderungen in der Produktion und Freisetzung der Substanzen, in der Anzahl, Verteilung und Empfindlichkeit der Rezeptoren und in der Interaktion zwischen diesen Systemen. In den vergangenen Jahren hat sich ein wahrer »Quantensprung« ergeben, indem es gelang, die Wirkung psychischer Traumatisierung, etwa infolge von Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch in früher Kindheit, auf der Ebene neurochemischer Veränderungen und der damit verbundenen Gehirnmechanismen nachzuweisen und so die Einsicht in die neuronalen Korrelate psychischer Erkrankungen zu vertiefen. Es wurde deutlich, dass die individuellen Gene der neurochemischen Systeme die Empfindlichkeit gegenüber den Auswirkungen früher Erfahrungen vorgeben und so die Psyche schützen oder gefährden können. Die Erfahrungen können ihrerseits in einem epigenetischen Prozess auf die Gene zurückwirken und deren Umsetzung in Proteine, d.h. in Komponenten der neurochemischen Systeme beeinflussen. Damit ist zumindest im Prinzip hinsichtlich des Psychischen das uralte »Gen-Umwelt«-Problem gelöst, und es bestätigt sich die Anschauung, dass psychische Gesundheit ebenso wie psychische Erkrankungen durch spezifische Gen-Umwelt-Interaktionen bestimmt werden. Daraus leitet sich die Erwartung ab, dass ein positiver Effekt von Psychotherapien, sei er spezifisch oder unspezifisch, auf der synaptisch-neurochemischen Ebene nachweisbar sein muss.
Der all diesen Vorstellungen zugrundeliegende Gedanke lautet: Wenn psychische Erkrankungen einhergehen mit Fehlfunktionen bei der Kommunikation zwischen Neuronen, sich also auf der synaptisch-neurochemischen Ebene abspielen, und sie damit das Ergebnis »falschen Lernens« sind, dann muss eine erfolgreiche Psychotherapie als Veränderung auf eben dieser Ebene sichtbar werden. Damit ist natürlich nicht auch schon geklärt, wodurch diese Veränderungen genau hervorgerufen werden. Hierzu gibt es bei den unterschiedlichen Psychotherapierichtungen spezifische Wirkmodelle wie etwa die »kognitive Umstrukturierung« in der kognitiven Verhaltenstherapie oder das »Bewusstmachen des Unbewussten« in der Psychoanalyse. Während sich die Psychoanalyse nach dem Scheitern Sigmund Freuds als Hirnforscher von neurobiologisch orientierten Wirkungsmodellen weitgehend fernhielt oder sie gar radikal ablehnte, entwickelte die kognitive Verhaltenstherapie relativ früh genauere Vorstellungen über die eigene neurobiologische Wirksamkeit. Damit hat sie in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken können, im Vergleich zur Psychoanalyse die einzige wissenschaftlich begründete Therapieform zu sein. Das zögerliche Verhalten vieler Psychoanalytiker gegenüber einer wissenschaftlichen Überprüfung ihrer Aussagen hat der Psychoanalyse schwer geschadet. Aber auch angesichts der zunehmenden und berechtigten Forderung des Gesundheitssystems nach einer »evidenzbasierten Medizin« kann eine solche Haltung immer weniger glaubhaft vertreten werden, auch wenn es richtig ist, dass sehr sorgfältig über geeignete Standards nachgedacht und geforscht werden muss, mit denen sich die Wirksamkeit von Psychotherapien überprüfen lässt. Die Wirkmodelle der verschiedenen Psychotherapien bieten aber nicht nur eigene Konzepte ihrer Wirkung an, sie sollen außerdem die tatsächliche oder vermeintliche Überlegenheit der jeweiligen Richtung erklären.
Im Rahmen unseres Buches werden wir deshalb die jeweils unterstellten Wirkmodelle kritisch auf ihre neurobiologische Plausibilität hin untersuchen. Besonders interessant wird es natürlich, wenn uns diese Plausibilität gering erscheint, die verschiedenen Therapien aber dennoch zumindest bei einigen Patienten wirksam sind. Lässt sich diese Wirkung dann auf andere Weise erklären? Dies führt dann zu der in der Psychotherapieforschung bereits intensiv diskutierten Frage, ob nicht allen Psychotherapien, wie oben erwähnt, ein ganz unspezifischer »gemeinsamer Faktor«, nämlich das »Arbeitsbündnis« oder die »therapeutische Allianz« zugrunde liegt. Es ist dann zu fragen, ob die Wirkung dieses Faktors, den man lange geringschätzig als Placeboeffekt abgetan hat, auch neurobiologisch erklärbar ist. Natürlich kann es für eine glaubhafte neurobiologische Fundierung der Psychotherapie immer noch zu früh sein. Versuche in diese Richtung hat es außer bei dem jungen Neurobiologen Sigmund Freud viele gegeben, seit Wilhelm Griesinger, einer der Väter der modernen Psychiatrie, feststellte, psychische Erkrankungen seien Erkrankungen des Gehirns. Dies konnte allerdings zu einer Zeit, in der man fast kein sicheres Wissen über die Physiologie des Gehirns besaß und man wie Freud die Seele allein aus Hirnstrukturen zu erklären suchte, nur prophetisch-spekulativ sein. Selbst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war an eine »Neuro-Psychotherapie « nicht zu denken.
Einer der ganz wenigen, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der Vision einer neurobiologisch fundierten Psychotherapie festhielten, war der Neurobiologe Eric Kandel (geb. 1929), der – sozusagen in Gegenrichtung zu Freud – im Rahmen seines Medizinstudiums mit der Psychiatrie und Psychoanalyse begann und bei der molekular-zellulären Neurobiologie von Gedächtnisprozessen endete, für deren Erforschung er im Jahre 2000 den Nobelpreis für Physiologie/Medizin erhielt. Bereits 1979 entwickelte er in dem Aufsatz »Psychotherapie und die einzelne Synapse« die visionäre Vorstellung, dass Psychotherapie notwendigerweise auf der synaptischen Ebene ansetze und deshalb aufgrund synaptischer Veränderungen wirksam sein müsse. Rund 20 Jahre später, in den zwei Aufsätzen »Ein neuer theoretischer Rahmen für die Psychiatrie« und »Biologie und die Zukunft der Psychoanalyse« konkretisierte er diese Anschauung weiter. Im ersteren der beiden letztgenannten Aufsätze heißt es kurz und knapp: »Alle geistigen Funktionen spiegeln Gehirnfunktionen wider« (S. 83), und ebendort führt Kandel aus: »Insofern Psychotherapie und Beratung wirksam ist und zu langfristigen Veränderungen im Verhalten führt, gründet diese Wirksamkeit vermutlich im Lernen, indem Veränderungen in der Genexpression erzeugt werden, die die Stärke der synaptischen Verbindungen verändern, und indem strukturelle Veränderungen stattfinden, die das anatomische Muster der Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn ändern« (wieder abgedruckt in Kandel 2008). Allerdings dauerte es noch über zehn Jahre, bis derartige Ideen unter deutschsprachigen Psychoanalytikern überhaupt nur ernsthaft diskutiert wurden und man damit begann, neuro-psychiatrische Forschung auf der Grundlage funktioneller Bildgebung zu betreiben.
Das im Jahre 2004 erschienene Buch Neuropsychotherapie des leider 2005 viel zu früh verstorbenen Psychologen und Psychotherapeuten Klaus Grawe hat seinerzeit viel Aufsehen erregt, beruhte aber trotz vieler beeindruckender Einsichten auf einer immer noch unzureichenden Grundlage neurobiologischer Erkenntnisse. Das Umgekehrte muss von dem Buch Gehirn, Psyche und Körper des Heidelberger Physiologen Johann Caspar Rüegg gesagt werden (Rüegg 2014). Rüegg beschreibt darin einerseits verständlich und korrekt die neurobiologischen Grundlagen des Psychischen, übernimmt aber gleichzeitig relativ unkritisch die Darstellungen kognitiver Verhaltenstherapeuten über die Wirkungsweise ihrer Behandlungsmethode, und das zu einer Zeit, in der kognitive Verhaltenstherapeuten begonnen haben, sich vorsichtig von ihren bisherigen neurobiologischen Modellvorstellungen zu distanzieren. Von Psychoanalyse ist bei Rüegg so gut wie nicht die Rede. Mit unserem Buch setzen wir die Bemühungen fort, ein neurobiologisches Verständnis des Seelisch-Psychischen, der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit als Träger dieses Seelischen, der Entstehung psychischer Erkrankungen und der Wirksamkeit von Psychotherapie zu erreichen. Zu Beginn des Buches verfolgen wir in einem kurzen historischen Abriss die lange Suche nach dem »Sitz der Seele« und fragen uns in einer ersten Annäherung, ob und in welcher Hinsicht diese Suche heute zu einem Ende gekommen ist. Wir tun dies in der Überzeugung, dass die gegenwärtige Auseinandersetzung um eine »Neuropsychiatrie« bzw. »Neuropsychotherapie « nicht verstanden werden kann, wenn wir nicht auch deren Vorgeschichte kennen.
Es folgt im Kapitel 2 ein Überblick über den Aufbau des menschlichen Gehirns und dann eine genauere Darstellung des limbischen Systems als dem eigentlichen »Sitz« von Psyche und Persönlichkeit einschließlich unseres »Vier-Ebenen-Modells«. In Kapitel 3 geht es um die Darstellung der »neuronalen Sprache der Psyche«, also um die Wirkungsweise von Neurotransmittern, Neuromodulatoren, Neuropeptiden und Neurohormonen. Ohne eine Kenntnis von der Wirkungsweise dieser neuroaktiven Substanzen kann man sich nicht sinnvoll mit der Entstehung psychischer Erkrankungen und ihrer möglichen Therapie beschäftigen. In Kapitel 4 behandeln wir die Individualentwicklung des menschlichen Gehirns und die darauf aufbauende Entwicklung der kindlichen Psyche. Hierbei geht es vor allem um die Ausformung des Bindungssystems und die Bedeutung der Bindungserfahrung für die weitere psychische Entwicklung. Im 5. Kapitel stellen wir ein neurobiologisch fundiertes Konzept der Persönlichkeit einschließlich des von uns entwickelten Modells der sechs psycho-neuronalen Grundsysteme vor. In Kapitel 6 bemühen wir uns um eine genauere Definition der Begriffe des Unbewussten, Vorbewussten und Intuitiven sowie des Bewussten, die für die Psychotherapie zentral sind. In diesem Zusammenhang entwerfen wir eine Theorie von Geist und Bewusstsein auf neurobiologischer Grundlage. Wir werden hier das oben gegebene Versprechen einlösen müssen, eine Theorie des Geistes und des Bewusstseins zu präsentieren, die mit der Grundvorstellung der »Einheit der Natur« verträglich ist und dabei zugleich die jeweiligen Fallstricke eines Dualismus und eines Reduktionismus vermeidet.
Mit psychischen Erkrankungen, ihren neurobiologischen Grundlagen und insbesondere mit der Frage nach der dabei ablaufenden Gen-Umwelt- Interaktion befassen wir uns in Kapitel 7. Dabei konzentrieren wir uns auf diejenigen Erkrankungen, die aus neurobiologischer Sicht am besten (wenngleich noch immer unzulänglich) untersucht sind, nämlich Depressionen, Angststörungen, die posttraumatische Belastungsstörung, die Zwangsstörung und Persönlichkeitsstörungen einschließlich der Borderline- Störung und der antisozialen Verhaltensstörung. Im 8. Kapitel geht es um die Darstellung der am weitesten verbreiteten Psychotherapierichtungen, nämlich der Verhaltenstherapie bzw. kognitiven Verhaltenstherapie und der Psychoanalyse bzw. psychodynamischen Konzepte. Die Beschränkung auf diese Therapierichtungen ergibt sich sowohl aus Platzgründen als auch aus der Tatsache, dass nur hierzu ernstzunehmende neurowissenschaftliche Daten vorliegen. Die Vertreter anderer Psychotherapierichtungen bitten wir schon jetzt um Nachsicht. Im 9. Kapitel werden wir die Wirkmodelle der genannten Psychotherapierichtungen auf ihre psychologische wie neurobiologische Fundierung und Plausibilität hin überprüfen. Sollten wir dabei auf Mängel stoßen, werden wir uns fragen, wie aus neurobiologischer Sicht plausiblere und allgemeinere Wirkmodelle der Psychotherapie aussehen könnten. Eine Frage wird dabei sein, warum Psychotherapien häufig keine nachhaltige Wirkung haben, auch wenn sie einer reinen Pharmakotherapie langfristig überlegen scheinen. Auch wird zu untersuchen sein, warum die Wirkung in vielen Fällen in zwei Phasen aufritt, nämlich einer kurzfristigen, aber nicht nachhaltigen Besserung der Symptomatik und subjektiven Befindlichkeit, und einer zweiten, längeren Phase voller mühsamer Fortschritte – falls es überhaupt zu einer Langzeittherapie kommt. Im abschließenden 10. Kapitel werden wir das Gesagte dann noch einmal modellhaft zusammenfassen.
Gerhard Roth/Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht. Klett-Cotta. 2015, 22,95 Euro. Mehr zum Buch. Der Auszug stammt von den Seiten 13 bis 24.