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Buch der Woche

Eine besondere Monographie über Hitler

Dieses Buch gewährt einen völlig neuen Blick auf Herrschaft und Persönlichkeit Adolf Hitlers. Sein Aufstieg und sein mörderisches Regime, so zeigt Wolfram Pyta, beruhten vor allem auf der radikalen Anwendung ästhetischer Prinzipien, welche sich der selbsternannte Künstler Hitler vor seinem Eintritt in die Politik im Jahre 1919 zu eigen gemacht hatte.

16.04.2015

Warum noch eine weitere Monographie über Hitler? Warum noch einmal ein Buch über jene Person, deren Name unauflöslich mit zwei monströsen Menschheitsverbrechen verbunden ist: ein Weltkrieg, der mehr Menschenleben kostete und mehr Verwüstungen anrichtete als jeder andere militärische Konflikt in der Menschheitsgeschichte, und vor allem die hasserfüllte und erbarmungslose Verfolgung politischer Gegner? Millionen von Kriegstoten waren am Ende zu beklagen, und der Mord an sechs Millionen jüdischen Menschen, die in seinem Machtbereich gelebt hatten, stellt den schrecklichsten Genozid überhaupt dar. Hitler ist nicht der einzige Diktator des 20. Jahrhunderts, der in der Geschichte Blutspuren hinterlassen hat, aber mit solchen Leichenbergen war bis dahin kein politischer Lebensweg gepflastert gewesen. Die eliminatorische Vernichtungsenergie, mit der Hitler den Holocaust ideologisch vordachte, legitimierte und in Gang setzte, lässt uns immer noch erschaudern!

Wegen der unvorstellbaren Dimensionen seiner Verbrechen ist Hitler ein zentraler Gegenstand der internationalen Forschung geworden. Insbesondere die Geschichtswissenschaft hat eine kaum noch überschaubare Menge einschlägiger Forschungsergebnisse produziert, so dass sich die Fachleute hier auf einem überaus gut erforschten Terrain bewegen. Der Literaturberg ist so gewaltig, dass selbst von der Kerntugend ihrer Profession – kreative Neugier gepaart mit dem unstillbaren Hunger nach unbekannten Quellen – angefeuerte Historiker sich bisweilen eingeschüchtert und verzagt die berechtigte Frage stellen, ob dieser Gegenstand nicht überforscht sei. Ist Hitler nicht eine historische Figur, bei der die Forschung jeden Stein tausendfach gewendet hat, so dass inzwischen die kleinste nebensächliche Trouvaille als sensationeller Fund gilt? In der Tat droht einem Unterfangen, das sich an der Lebensgeschichte Hitlers chronologisch abarbeitet, die Gefahr, in der Fülle der bekannten und bestens erforschten Details zu versinken. Vor allem die magistrale Biographie von Ian Kershaw1 hat den politischen Aufstieg Hitlers bis in die kleinsten Verästelungen hinein verfolgt und gibt immer noch den Maßstab für künftige Forschungen ab. Auch aus diesem Grund wird dem Leser hier keine Studie vorgelegt, die in biographischer Manier Hitler vom 20. April 1889 bis zum 30. April 1945 durchleuchtet und dabei möglicherweise unbekannte Facetten zutage fördert, was immer noch möglich ist.

Der Verfasser nutzt vielmehr solche überaus verdienstvollen Studien, um systematisch angelegte Schneisen durch das Dickicht der Forschung zu schlagen: Er strukturiert das Leben Hitlers nach dem chronologischen Ablauf, aber er wählt systematische Haltepunkte, die sich aus dem Bestreben ergeben, Kultur- und Politikgeschichte fruchtbringend miteinander zu verbinden. An Hitler lässt sich die heuristische Ergiebigkeit eines solchen interdisziplinär angelegten Zugriffs, der zwar immer wieder eingefordert, aber von Historikern eher selten eingelöst wird, besonders gut erproben. Daraus ergeben sich methodische Prämissen und Weiterungen, die in dieser Einleitung zu erörtern sind – um der Lesefreude willen allerdings nicht in weit ausladender Breite. Die mit der akademischen Methodendiskussion verbundenen Begriffsanstrengungen und theoriegesättigten Explikationen erfolgen vornehmlich in den ersten Kapiteln dieser Studie. Die folgenden Ausführungen sind daher entsprechend knapp gehalten. Überdies spricht vieles dafür, dass Hitler die Entscheidung zur Ermordung der europäischen Juden erst traf, nachdem er sich zum unumschränkten Gebieter des Militärs erhoben hatte. Insofern bildete die absolute militärische Führerschaft eine notwendige Voraussetzung für die Einleitung des Holocaust. Der Verfasser geht von dem Diktum des Philosophen und Literaturwissenschaftlers Walter Benjamin aus, wonach der Nationalsozialismus die »Ästhetisierung der Politik« sei. Benjamin hat mit dieser für ihn typischen rhapsodischen Feststellung einen Wesenskern von Herrschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts freigelegt und so einen Stein ins Wasser geworfen, der bis heute Wellen schlägt.

Aber der kulturwissenschaftliche Ertrag dieser Position hat eher weniger Beachtung gefunden und damit die Frage, in welchem Verhältnis Wort, Ton und Bild als ästhetische Darstellungsmedien stehen, wenn sie Herrschaftsrelevanz erhalten sollen. Immerhin hat Benjamin das Empfinden dafür geweckt, dass Ästhetik kein ornamentales Beiwerk, keine bunte Show, keine trügerische Verpackung totalitärer Herrschaft ist, sondern zum Strukturprinzip von Diktaturen zählt, welche die Zustimmung des Volkes mittels ästhetischer Strategien zu gewinnen suchen. Das Ästhetische verstehen wir dabei unter Rekurs auf den Literaturwissenschaftler Wolfgang Braungart als Gegenstandsbereich dessen, »wie etwas für unsere Sinne, unsere Wahrnehmung gegeben ist, wie es vor ihr erscheint und wie wir etwas selbst sinnlich vollziehen«. Ästhetik bezeichnet mithin das Gebiet der Darstellungs- und Erscheinungsmodi sinnlicher Wahrnehmung. In durchpolitisierten Gesellschaften mit ihren Massenveranstaltungen und Massenmedien veränderte die Politik ihren Stil und ihre Legitimationsbasis: Sie nahm eine neue expressive Gestalt an, weil nicht bildungsbürgerliche Ansprache und das Verfassen von Texten, die vor Gelehrsamkeit nur so strotzten, massenhafte Zustimmung erzeugten, sondern effektvoll inszenierte Auftritte vor einem Massenpublikum. Solchen Auftritten schloss sich dann eine mediale Verwertungskette an, wobei die Reproduktion der Stimme des Volksredners über das Radio sowie seine visuelle Präsentation den im 19. Jahrhundert dominierenden Text zunehmend in den Hintergrund drängten.

Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war in Deutschland der erste Testfall für diese Wandlung des Politischen: Mit Radio und Tonfilm standen neue Verbreitungsformen auch des Politischen zur Verfügung; sie trafen auf eine durch Krieg und Kriegsfolgenbewältigung aufgerüttelte Gesellschaft, die politisch hochgradig erregt war und neue Anforderungsprofile an die Politiker hervorbrachte. Zwar hatte sich bereits im wilhelminischen Kaiserreich ein partizipatorisch aufgeladener Politikstil verbreitet, vor dessen medialer Aufdringlichkeit nicht einmal der Reichsmonarch geschützt war. Aber erst nach dem Ende der Monarchie in Deutschland brach sich diese Entwicklung ungehemmt Bahn. Endgültig passé war damit der gepflegte Honoratiorenstil, der bürgerliche Geselligkeitsformen als Norm des politischen Umgangs definierte; Konjunktur hatte nun der massentaugliche Volkstribun, dessen besonderer Vorzug es sein konnte, dass er so gar nichts vom bildungsbürgerlichen Habitus an sich hatte, sondern – durch Kriegserfahrungen gehärtet und beglaubigt – mit Leidenschaft und Körpereinsatz um Zustimmung warb. An dieser Stelle lädt uns die Feststellung Benjamins zu einer Neuakzentuierung der politischen Karriere Hitlers ein. Hitler ist unbestritten ein überaus massentauglicher Politiker gewesen, der ohne seine überragende Fähigkeit zum effektvollen politischen Auftritt nie an die Spitze einer politischen Gruppierung, der NSDAP, gelangt wäre.

Der Aufstieg dieser Hitler-Partei zur weitaus stärksten politischen Kraft in Deutschland unter den Bedingungen freier, gleicher und geheimer Wahlen ist zweifellos nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Weimarer Republik unter enormen ökonomischen Problemen ächzte und der Erste Weltkrieg einen kulturellen Nährboden geschaffen hatte, der eine gewaltbereite Partei wie die NSDAP – aber auch die nicht weniger militante KPD – für viele Deutsche wählbar erscheinen ließ. Ein Politiker, zu dessen Wahlkampfauftritten allein im Jahr 1932 aller Wahrscheinlichkeit nach mehr als zwei Millionen Deutsche strömten, war als Wählermagnet von unschätzbarem Wert. So abstoßend uns Hitlers Auftritte heute auch anmuten mögen, zu seiner Zeit war er – trotz aller Ablehnung, die sein öffentliches Auftreten auch damals hervorrief – ein überaus begehrter Wahlkampfredner. Ohne ihn hätte die NSDAP zu einer Zeit, als ihr der Rundfunk als zunehmend wichtiges Medium noch versperrt war, nie eine derartig durchschlagende Resonanz erzielt. Dies zu konstatieren führt zu Anschlussfragen, die im Sinne Benjamins eine konsequente ästhetische Erweiterung des Politischen auf die Agenda rücken: War Hitler im Format des öffentlichen Auftritts auch deswegen erfolgreich, weil er Stimmeinsatz, Mimik und Gestik harmonisch aufeinander abstellte? Besaß er das besondere Talent, bei seinen Auftritten in Sälen und Hallen auch den Raum als effektverstärkenden Faktor zu nutzen? Bezeugte das für ihn typische Ineinandergreifen von Raum, Wort, Klang und Körperbewegung nicht eine ausgesprochene Sensibilität für die Theatralität des Politischen? War Hitler also letztlich ein politischer Auftrittsprofi, weil er seine künstlerischen Neigungen in einem wirkungsästhetischen Sinne für die Performanz seiner politischen Aufführungen nutzbar machen konnte?

Seine republikanischen Gegenspieler haben die limitierte Wirkung einer kognitiv ausgerichteten politischen Ansprache erkannt, als sie einige Monate vor der Regierungsübernahme durch Hitler Selbstkritik an ihrem Politikstil übten: »Wir sind Geistesakrobaten geworden und bemüht, alles zu verstehen und zu begreifen.« Die erste Leitfrage dieser Studie zielt mithin auf das, was die Kulturwissenschaften als Performativität des politischen Auftritts bezeichnen. Die von Benjamin angesprochene Ästhetisierung der Politik ist nicht darstellbar ohne ihre performative Dimension; sie entfaltet »ihren ästhetischen Sinn und ihre ästhetische Bedeutung im darstellenden Vollzug der politischen ›Aufführung‹ «. Welche inhaltlichen Botschaften Hitler in seinen unzähligen öffentlichen Auftritten als Parteiführer wie als Reichskanzler und »Führer« verkündete, steht nicht im Zentrum der folgenden Ausführungen. Uns soll vielmehr interessieren, wie Hitler politisch auftrat und auf welchem Fundament seine unbestreitbare Fähigkeit zur wirkungsvollen Inszenierung politischer Auftritte ruhte. Unbestritten bleibt dabei, dass Hitlers Erfolg als Parteiführer auf der immensen Nachfrage nach den von ihm und seiner Partei in Umlauf gebrachten politischen Inhalten gründete.

Wenn die deutschen Wähler mehrheitlich Antisemitismus und Gewaltverherrlichung, extremen Nationalismus und Verunglimpfung des politischen Gegners als abstoßend eingestuft und einer Partei mit einem solchen Profil ihre Stimme nicht gegeben hätten, wäre Hitler niemals in die erste Reihe der Politik gelangt. Judenfeindschaft, Gewaltbereitschaft und Nationalismus waren politische Angebote, mit denen aber nicht allein die NSDAP um dafür empfängliche Wähler warb. Daher ist die These naheliegend, dass die NSDAP ihren politischen Durchbruch weniger einem inhaltlichen Alleinstellungsmerkmal verdankte als dem Umstand, dass sie sich wesentlich besser auf eine massenwirksame Form der öffentPyta lichen Darstellung verstand als die politische Konkurrenz. Der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer hat in einer der scharfsinnigsten Untersuchungen über die Interaktion zwischen Schreiben und Sprechen herausgestrichen, dass gerade politischen Newcomern die Umwandlung des geschriebenen Wortes in die fesselnde Rede gelang, weil sie sich von der logozentrischen Tradition des Bürgertums konsequent freimachten. Dieser neue Politikertypus »wird zum Führerkünstler, der seine Auftritte eigenwillig und sorgfältig inszeniert«. Damit wird eine Perspektive eingenommen, die eine konsequente Hinwendung zu methodischen Anregungen und Forschungsergebnissen derjenigen Geisteswissenschaften erfordert, die sich in produktions- wie rezeptionsästhetischer Hinsicht mit Inszenierungskonzepten und Aufführungspraktiken beschäftigen. An erster Stelle ist die Literaturwissenschaft als Königsdisziplin des breiten Kanons der Fächer zu nennen, die hierfür einschlägig sind. Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte, Philosophie und Musikwissenschaft haben dem Verfasser ebenfalls mannigfache Anregungen beschert.

Auch wenn die Aneignung dieser Forschungsergebnisse nur selektiv erfolgen konnte, war der Streifzug durch diese Nachbarwissenschaften für den Verfasser eine beglückende heuristische Entdeckungsreise. Die Integration von Erkenntnissen aus den der Ästhetik zugewandten Fächern, denen die Historiker zumeist wenig Beachtung schenken, ist auch deswegen erforderlich, weil nur so die Genese des Politikers Hitler überzeugend hergeleitet werden kann. Diese disziplinäre Grenzüberschreitung ist nicht spielerischer Neugier oder Experimentierfreude mit bislang eher vernachlässigten Offerten geschuldet, sondern ergibt sich zwingend, wenn man nicht in eine von Hitler selbst gestellte Falle tappen will. Hitler hat in seinem einzigen ernsthaften Abstecher in das ihm ansonsten fremde Reich der Schriftkultur, nämlich in seiner 1925/27 erschienenen Bekenntnis- und Programmschrift Mein Kampf, eine falsche Fährte gelegt, indem er die Behauptung in die Welt setzte, dass er bereits in jugendlichem Alter zu einem leidenschaftlichen Antisemiten und Vorkämpfer der völkischen Erneuerung Deutschlands geworden sei. Damit stilisierte er seinen 1919 erfolgten Eintritt in die Politik im eher fortgeschrittenen Alter von dreißig Jahren als die konsequente Einlösung einer gereiften politischen Grundüberzeugung. Die jüngere historische Forschung hat dieses der Öffentlichkeit aufgetischte Selbstbild von einem weltanschaulich gefestigten Antisemiten und Radikalnationalisten, der 1919 mit solchem Marschgepäck in die Politik gestürmt sei, nach skrupulöser Prüfung der überschaubaren Zahl von aussagekräftigen Quellen als Trugbild demaskiert.

Und auch für die lange geltende Annahme, dass Hitler wenn nicht in seinen Wiener Lehrjahren, so doch spätestens im Ersten Weltkrieg zu den Einstellungen gelangt sei, mit denen er seit seinen politischen Anfängen in Erscheinung trat, gibt es keine evidenten Quellenbelege. Der Verfasser knüpft an diese Forschungserträge an und vermag darüber hinaus noch einige bislang wenig beachtete beziehungsweise unbekannte Belege anzuführen, welche diese Erkenntnisse erhärten. Aber läuft dies nicht auf die wenig befriedigende These hinaus, dass Hitler zwei disparate Leben führte – ein vermeintlich unpolitisches Leben, das von 1889 bis 1918/19 währte, und ein zweites, in dem aus einem politisch unbeschriebenen Blatt ein »Politjunkie« wurde, der sich Deutschland untertan machen und die Welt mit Krieg und Vernichtung überziehen konnte? Wie will man diesen Wandel überzeugend erklären, wenn es keine quellenmäßigen Belege für eine Art von »politischem Erweckungsergebnis« gibt, das den jungen Hitler in einen Weltanschauungstäter verwandelte? Statt vergeblich nach politisch belastbaren Spurenelementen in den wenigen Selbstzeugnissen Hitlers vor 1919 zu fahnden, sollte man den Fragehorizont kulturwissenschaftlich erweitern: Erfüllte Hitler das Anforderungsprofil an einen Nachkriegspolitiker besser als herkömmliche Politiker, weil er auf der Theaterbühne eine Schulung erfahren hatte, die ihn zu spektakuläreren politischen Auftritten befähigte? Konnte er die politische Bühne so effektvoll nutzen und sein Publikum erobern, weil er seit seiner Jugend die Sehgewohnheiten des Bühnenpublikums internalisiert und für überwältigungsästhetische Praktiken ein besonderes Sensorium entwickelt hatte?

War er für den politischen Aufführungsmarkt bestens präpariert, weil er die Welt vor allem visuell vermaß und sich damit in Einklang befand mit einer Massenkultur, die über Sehen und Hören kulturell kommunizierte? Machte ihn seine dezidierte Absage an bildungsbürgerliche Selbstverständigungsdiskurse frei von einem logozentrischen Politikstil und eröffnete ihm das die Möglichkeit, mit rücksichtsloser Energie sein Publikum durch raffinierte überwältigungsästhetische Praktiken zu erobern? Solche Fragen zu stellen läuft darauf hinaus, die Ästhetisierung des Politischen dort zu suchen, wo sich Kunst in performativen Praxen äußerte. Diese Praxen waren von ihrer ästhetischen Konfiguration her so beschaffen, dass sie sich in eine Politik exportieren ließen, in der weniger die sinnhafte Aneignung von Texten als die unmittelbare Expressivität des Sehens und Hörens den Takt angab. Kunst- und Medienphilosophen haben die Ästhetik als Bereich markiert, der nicht in einem begrifflich strukturierten Sinnverstehen aufgeht, sondern als Domäne einer im Akt des Vollzugs erfolgenden präsentischen Aneignung zu gelten hat. Sucht man nach einem geeigneten Terminus, der die produktions- wie wirkungsästhetische Seite gleichermaßen umfasst, dann bietet sich »Koexpressivität« an. Koexpressivität soll in Anlehnung an den Kunstwissenschaftler Panofsky begrifflich markieren, dass visuelle und akustische Komponenten von Aufführungen nur in Kombination jene durchschlagenden Wirkungen erzeugten, die politikaffin waren.

Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht hat überdies mit den Begriffen »Sinnkultur« und »Präsenzkultur« zwei Termini offeriert, die sich in heuristischer Hinsicht eignen, politikaffine Kulturmodi so zu strukturieren, dass ein Koordinatensystem entsteht, mit dem auch die Politikhaltigkeit von Hitlers Kulturpraktiken erfasst werden kann. Mit Hilfe solcher und daran anschließender Offerten aus der Schatzkammer der Kunstphilosophie und Literaturwissenschaft kann der Historiker begriffliche Ordnung in die kulturellen Praktiken Hitlers bringen und sie auf ihre politischen Potentiale abklopfen. Sinn und Präsenz sind gewiss nicht zwei unverbundene Sphären20 – und ebenso wenig handelt es sich bei dem sich in der Schrift mitteilenden wie dem im körperlichen Auftritt präsenten Hitler um zwei verschiedene Personen. Aber es wirft heuristischen Ertrag ab, wenn man die Darstellung Hitlers danach strukturiert, ob sie in den aisthetischen Medien des Zeigens oder den diskursiven Medien des Sagens erfolgt. Denn auf diese Weise kann vorgeführt werden, dass Hitler sowohl im Reich der Präsenzkultur als auch in der Welt der Sinnkultur heimisch war – was entscheidend dazu beitrug, dass seine Herrschaft kulturell so fest fundiert war.

Hitlers Stärken lagen nicht nur im performativen Auftritt, in der Eroberung des öffentlichen Raums durch seine Stimme und sein Bild, sondern er vermochte auch in Texte gegossene Diskurse für seine Herrschaftslegitimation zu mobilisieren. Ästhetisierung des Politischen meint im Falle von Hitler mithin, dass er präsenzkulturelle Praktiken wie sinnkulturelle Diskurse gleichermaßen als herrschaftliche Ressourcen nutzen konnte – und genau das ist der kulturtheoretische Hauptgrund dafür, dass Hitlers Herrschaft trotz einer Kette militärischer Niederlagen bis zum Untergang im »Führerbunker« nicht wirklich erodierte. Damit ist es möglich, in der bisherigen Forschung nicht systematisch beachtete Kulturtechniken Hitlers als politische Ermöglichungspraktiken aufzufassen. Wie sich Hitler vor einem performativ entwöhnten Auditorium hoher Generale rednerisch in Szene setzte und wie er die militärischen Lagebesprechungen, welche ihn die letzten vier Jahre seines Lebens allein vom Zeitdeputat her okkupierten, kommunikativ zu dominieren suchte – solche vermeintlich nebensächlichen Fragen werden auf diese Weise von der Peripherie ins Zentrum der wissenschaftlichen Betrachtung gerückt. In diesem Zusammenhang gewinnt Hitlers Umgang mit militärischen Lagekarten Bedeutung, weil das Lesen der Karten eine künstlerisch generierte visuelle Entschlüsselungskompetenz erforderte, die für die Okkupation militärischer Führerschaft im Laufe des Zweiten Weltkriegs unentbehrlich war.

Dass sich der oberste Befehlshaber der Wehrmacht den von ihm entfesselten Krieg körperlich vom Leibe hielt, dass er der Furie des Krieges selbst in Gestalt des Bombenkrieges nicht ins Auge blickte, ist für die dynamische Verschränkung künstlerisch angelegter kultureller Praktiken mit politisch-militärischem Entscheidungshandeln ebenfalls kein Randphänomen. Und dass ausgerechnet der »Augenmensch« Hitler von 1943 an das Licht der Öffentlichkeit scheute und visuelle Abstinenz übte, hat unmittelbare Relevanz für die Beschaffenheit von Hitlers Herrschaft und die sich im Laufe des Krieges ergebenden tiefgreifenden Veränderungen. Insofern will die vorliegende Studie einen Beitrag auch zur begrifflichen Vermessung von Hitlers Herrschaft leisten – einer Herrschaft, die immer einen ästhetischen Kern besessen hat, der durch die Polarität von »Präsenzkultur« und »Sinnkultur« begrifflich zu konturieren ist. Daraus erwachsen Konsequenzen für die terminologische Markierung von Hitlers Herrschaft, auf die im Zusammenhang mit der zweiten Leitfrage dieser Studie näher einzugehen ist. Doch kehren wir zur künstlerischen Disposition Hitlers in dessen vermeintlich vorpolitischer Phase zurück. Hitler hatte sich seinen Kosmos mittels eines spezifischen Kunstverständnisses und bestimmter Kunstvorlieben erschlossen, die in inhaltlicher Hinsicht zunächst nicht eindeutig politisch zuzuordnen waren. An dieser Stelle ist unter systematischen Gesichtspunkten auch seine Passion für das musikdramatische Werk Richard Wagners einzuordnen. Man kann Hitlers Beziehung zu Richard Wagner nicht auf die Frage reduzieren, ob Wagner in Sachen Antisemitismus ein entscheidender politischer Lehrmeister Hitlers gewesen sei.

Dazu fehlt es schon rein quellenmäßig an belastbaren Belegen, die eine im engeren Sinne ideologische Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen Wagner und Hitler nachweisen; zudem engt eine solche Frage die Beziehung zwischen dem Kunstrevolutionär Wagner und dem Wagner-Verehrer Hitler auf mögliche politische Zulieferdienste Wagners ein und blendet die für unsere Leitfrage relevante kulturhistorische Dimension aus. Viel ergiebiger ist daher die Frage, ob Wagners Theorie des Gesamtkunstwerks, die er in seinem musikdramatischen Schaffen zur praktischen Aufführung brachte, vor allem in wirkungsästhetischer Hinsicht Hitlers Vorstellung gelungener Theatralität so prägte, dass Wagner zwar nicht der antisemitische Stichwortgeber Hitlers gewesen ist, nach dem so gerne Ausschau gehalten wird, wohl aber jener Großmeister der Kunst, der mit seinem Programm einer Ton-Bild-Wort-Raum-Interaktion auf der Bühne das für politische Performanzkünstler attraktivste Angebot offerierte. Der eigenbrötlerische und bettelarme Hitler, der bis zum Frühjahr 1919 ein für das großstädtische Künstlerproletariat nicht untypisches Einzelgängerdasein führte, war bis zum Beginn seines politischen Lebensabschnittes kein politisch Suchender, kein rastlos Getriebener, der von der Politik Heil und Erlösung erwartet hätte. Es war daher kein Zufall, dass dieser menschenscheue Außenseiter in einem besonderen politischen Biotop zur Politik fand: im durch Kriegsniederlage, Revolution, Räterepublik, Gegenrevolution und Versailler Vertrag aufgewühlten München der turbulenten Zeit von Januar bis September 1919.

In München herrschte damals ein einzigartiges politisches Treibhausklima, in dem die Austauschbeziehungen zwischen Kunst und Politik intensiver waren als in jeder anderen deutschen Großstadt. Hier übernahmen Künstler wichtige politische Funktionen nicht obwohl sie Künstler waren, sondern weil sie als Künstler vor allem in performativer Hinsicht die Erwartungen an neue Ausdrucksformen des Politischen besser erfüllten als saturierte Honoratioren und versierte Parteifunktionäre. Bislang hat die Forschung vergeblich nach einer Initialzündung gefahndet, die Hitler zu einem fanatischen, sich mit Haut und Haaren der Politik verschreibenden politischen Kämpfer werden ließ. Auch diese Studie hat einen solchen archimedischen Punkt nicht ausfindig machen können. Aber möglicherweise verstellt die übereifrige Suche danach den Blick. Denn es könnte sein, dass weniger umherschwirrende politische Offerten in einer politisch aufgeheizten Atmosphäre Hitler den Sprung in die Politik wagen ließen als der Umstand, dass er in der bayerischen Metropole viele Monate lang das einmalige Experiment aus nächster Nähe miterlebte, wie sich Künstlertum in politische Performanz umsetzen ließ. München lehrte Hitler, dass es kein Malus, sondern eher ein Startbonus war, als Politiker auf eine künstlerische Vorgeschichte zurückzublicken. Auf jeden Fall schlug er im politisch erhitzten München der Nachkriegsjahre die politische Richtung ein, die er bis zu seinem Untergang verfolgte.

In der bayerischen Kunstmetropole entwickelte er jene explosive Mischung aus eliminatorischem Antisemitismus, völkischem Radikalnationalismus und vehementem Antiliberalismus, die ihn bis an sein Lebensende begleitete und den er noch in seinem politischen Testament bekräftigte. Hitler betrat nicht ganz ohne feste Überzeugungen und Grundsätze die politische Bühne; bei seinem vehementen Antiklerikalismus und seiner tiefen Aversion gegen übernationale Ordnungssysteme wäre etwa ein Engagement des nominellen Katholiken Hitler für den politischen Katholizismus gänzlich ausgeschlossen gewesen. Darüber hinaus brachte er bei seinem politischen Debüt aber vor allem ein aus seinem breiten Kunstinteresse resultierendes Gespür dafür mit, dass Politik massentauglicher Aufführungsformen bedurfte, dass Ton, Wort, Bild und Raum zu einer Einheit verschmelzen mussten, wenn er das Publikum im Akt des gelungenen politischen Auftritts in seinen Bann schlagen wollte. In den ersten sechs Kapiteln dieser Studie begleiten wir Hitler auf dem Weg vom hungerleidenden Künstler und einzelgängerischen Frontsoldaten einer Künstlerkompanie zum Politstar der Münchner Politikszene der frühen 1920er Jahre. Wir verfolgen, wo der Jungpolitiker gesellschaftlichen Nachhilfeunterricht erhielt und wie er sein anfänglich überaus karges politisches Portfolio allmählich ergänzte. Dabei erfahren wir auch von bislang unbekannten Lehrmeistern des politischen Newcomers in der bis heute viel zu wenig beachteten völkischen Kunstszene Münchens, bei denen Ästhetik und Politik bereits eine Einheit bildeten.

Bis 1923 war Hitler kein weltanschaulich gefestigter und politisch kompletter Politiker, doch er lernte von seinen frühen politischen Weggefährten aus der Kunstszene etwas, das für den aufstrebenden Provinzpolitiker von großem Nutzen sein sollte, nämlich, dass politisches Engagement immer ein fundamentum in arte besitzen müsse. Der Politiker Hitler ist ohne den Künstler Hitler nicht denkbar – dies ist das Thema des ersten großen Abschnitts dieser Studie, in dem immer wieder auf literatur- und kulturwissenschaftliche Anregungen zurückgegriffen wird. Insbesondere dieser Teil ist nicht zuletzt für Literatur- und Kulturwissenschaftler geschrieben worden – wie sich überhaupt diese Studie als eine interdisziplinäre Forschungsleistung versteht, die sich keineswegs ausschließlich an Fachhistoriker wendet. Bislang liegt noch keine aus den Quellen gearbeitete Monographie eines disziplinären Allgemeinhistorikers vor, welche die systematische Frage nach den dynamischen Austauschbeziehungen von Kunst und Politik in das Zentrum einer größeren Studie über Hitler rückt.

In der im Großen und Ganzen bis heute nicht überholten Studie von Joachim Fest klingt dieses Leitmotiv zwar gelegentlich an, aber es wird nicht methodisch-begrifflich verfeinert, obgleich sich Fest nicht scheut, Hitler das Künstlertum implizit zu konzedieren.26 Aber kategorial war Fest nicht gerüstet, um diese grundlegend wichtige Beobachtung für die Grundanlage seiner Studie fruchtbar zu machen und daraus systematischen Ertrag für das Agieren des Politikers Hitler abzuleiten, so dass er zu der analytisch unbefriedigenden Kategorie der »historischen Größe« greifen musste.27 In diesem Zusammenhang ist für das limitierte Interesse der akademischen Geschichtswissenschaft an ästhetischen Fragen im Allgemeinen und an dem hier behandelten Forschungsgegenstand im Besonderen ein bezeichnendes Symptom, dass die jüngste und gewichtigste Monographie zu Hitlers Kunstverständnis der Feder einer Kunsthistorikerin entstammt.

Wolfram Pyta: Hitler.Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse. Siedler, 2015. 848 Seiten, 39,99 Euro.