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Buch der Woche

Die schrecklichen Kinder der Neuzeit

Ein Schwarzbuch über die Zukunft

20.06.2014

Der Mensch ist das Tier, dem man die Lage erklären muß. Hebt es den Kopf und blickt über den Rand des Offensichtlichen, wird es von Unbehagen am Offenen bedrängt. Unbehagen ist die angemessene Antwort auf den Überschuss des Unerklärlichen vor dem Erschlossenen. Früh manifestiert sich solches Unbehagen in Erkundigungen nach Anfang, Ziel und Bedeutung der menschlichen Situation. Griechische Philosophen haben es als »Staunen« mystifiziert, seit sie vorgaben, diese Empfindung sei intellektuell stets anregend und existentiell erhaben. Die Romantiker sind den Philosophen gefolgt. Sie erhoben das Phänomen in den Geheimniszustand. Sie wollten die Quelle der Poesie in ihm erkennen, als sei das Staunen die Reaktion der Alltäglichkeit auf das Mysterium. Erst Descartes hat das Staunen entzaubert, als er das estonnement als die erste und unangenehmste unter den Leidenschaften der Seele« anführte. Sie könne immer nur von Übel sein. Dem alltäglichen Empfinden war der mißliche Charakter des Zustands ohnedies nie auszureden. Du kennst die Anfänge nicht, die Enden sind dunkel, irgendwo dazwischen hat man dich ausgesetzt. In der Welt sein heißt im unklaren sein. Am besten ist es, man hält sich an den Schein des Sich-Auskennens in der näheren Umgebung, die man seit einer Weile die »Lebenswelt« nennt. Verzichtest du auf weitere Fragen, bist du vorläufig in Sicherheit. Nicht das Wort war am Anfang, sondern das Unbehagen, das nach Worten sucht. Dem Mythos fiel die Aufgabe zu, Wege aus der ersten Unklarheit anzuzeigen. Wovon man nicht schweigen konnte, davon mußte man erzählen. Erzählen heißt, so zu tun, als wäre man am Anfang dabeigewesen. Erzähler spiegeln gerne vor, sie könnten mit dichten Gefäßen an langen Seilen aus dem Brunnen der Vergangenheit schöpfen. Öfters wurde die Behauptung, höhere Erzählmacht zu besitzen, von der Suggestion begleitet, man habe aus gewöhnlich gut unterrichteten Jenseitskreisen bevorzugte Einsichten in die näheren Umstände des Endes erhalten. Durch den Erfolg des Christentums hat sich in der westlichen Zivilisationssphäre die biblische Auslegung des Unbehagens am In-der-Welt-Sein durchgesetzt. Die übermittelt mittels einer kurzen Erzählung eine einleuchtende, obgleich düstere Lektion: Fühlen wir uns vom Befund unseres Daseins nicht selten befremdet, so aus einem begreiflichen Grund. Wir sind Vertriebene, fast von Anfang an. Wir alle haben eine Heimat gegen ein Exil getauscht. Sind wir hier in der Welt, so weil wir nicht würdig waren, an einem besseren Ort zu bleiben. Im Licht des mächtigsten Mythos des Westens sind die Post-Adamiten Wesen, an denen eine Bestrafung ihre Spuren hinterlassen hat, unverbüßlich, irreversibel, in jeder Generation von neuem. Er handelt von der fortbestehenden Vertreibung, die uns aus der paradiesischen Situation in die jetzige Verlegenheit versetzt hat. Die Lage des Menschen ist Sündenfolge. Der Mythos hebt das Unbehagen nicht auf, er macht es erträglich, indem er es erläutert. Die Grundregel der Mythodynamik besagt: Jede Geschichte ist besser als keine Geschichte. Auch ein dunkler Mythos erhellt die Lage, indem er dem Unbehagen eine Fassung gibt. Oft unterdrückt er sogar das Aufsteigen des Unbehagens, indem die Erklärung der Empfindung zuvorkommt. Jedoch kann aufgrund paradoxer Nebeneffekte bei der Auslegung des Unbehagens am In-der-Welt-Sein der Effekt auftreten, daß das schwer Erträgliche in gesteigerter Form wiederkehrt: dann nämlich, wenn die unklare Lage infolge der Auslegungen des Mythos noch um vieles schlimmer erscheint als die anfängliche Irritation, zu deren Behebung die Erzählung in Gang gesetzt wurde. Für eine solche Übersteigerung des Unbehagens durch seine Erklärung bietet die Ideengeschichte Alteuropas kein stärkeres Beispiel als die Auslegung der biblischen Erzählung von der Vertreibung der menschlichen Ureltern aus dem Paradies bei Aurelius Augustinus (354-430).Aufgrund seiner Intervention wurde aus dem Unbehagen Bestürzung.

Anfängliche Konfusion wandelte sich in Perplexit. Der Bischof von Hippo hatte den Weg vom Mythoszum Logos mit jener Folgerichtigkeit zurückgelegt, die die Wesensverwandtschaft von Theologie und Extremismus ahnen läßt. Sie macht bis heute schaudern, sollte man sich noch einmal der Mühe unterziehen, den Vorgang aus den Akten aufzurollen. Es war der Übergang von einem Ursprungsmärchen voll symbolischer Bezüge und archetypischer Obertöne in eine Katastrophendoktrin von primärmasochistischer Eindringlichkeit. Die Steigerung des vagen Unbehagens zum metaphysischen Debakel bewirkte die Lehre vom peccatum originale – einem theologischen terminus technicus, den man im Deutschen seit dem 13. Jahrhundert mit dem sachlich völlig angemessenen Begriff »Erbsünde« wiedergibt. Sie resultierte aus der unnachgiebigen Rationalisierung der biblischen Erzählung von der Vertreibung der Menscheneltern durch den – mit Origines und dem Pseudo-Areopagiten – ambitioniertesten Gottes-Logiker des ersten nach-christlichen Jahrtausends. Das Judentum, dem die Urheberrechte an dem Vertreibungsm.rchen geh.rten, hatte sich in der Regel damit begnügt, den Aufenthalt der Menschen in einer suboptimalen Welt recht und schlecht zu motivieren, indem es die in nach-babylonischer Zeit kolportierte Geschichte zusammen mit dem übrigen Hausvorrat erbauender und ermahnender Überlieferungen von Generation zu Generation weitertrug. Die jüdischen Rezipienten konnten den psychischen Gewinn aus der mythischen Erklärung verbuchen, da sie nun immerhin wissen durften, woran sie waren. In ihre so erklärte Lage fanden sie sich mit dem mutigen Realismus, der ihrer Weisheitstradition von alters her eigen war. Augustinus hingegen löste mit seiner verschärften Sünden-Doktrin eine Verdüsterung aus, von der sich die westliche Welt bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt. Er wollte sich nicht damit zufriedengeben, den außerparadiesischen status quo der Menschen demütig zur Kenntnis zu nehmen. Er drängte darauf, den Fall tiefer zu motivieren, indem er ihn zu einem Entfremdungsdrama zwischen Mensch und Gott überhöhte, bei dem die Rolle des böse lachenden Dritten dem Satan zufiel, dem selbstverliebten Anführer der aufrührerischen Engel. Der nordafrikanische Bischof, Ex-Manichäer und Platoniker, der der weltlichen Weisheit abgeschworen hatte, erwies sich einmal mehr als die Diva der Theologie: Eine Arie vorzutragen, ohne ihre eigene Note in sie zu legen, kam für sie nicht in Frage. Dem Hysteriker von Hippo, aufgrund seiner Begabung für Schuldgefühle zu höheren kirchlichen Aufgaben prädestiniert, schien es geboten, den kritischen Vorgang aus der mythischen Vergangenheit herauszulösen, um ihn im Leben jedes einzelnen zu reaktualisieren.

Man könnte das Manöver zunächst für eine Sache der nachzureichenden Plausibilität halten: Die Idee der Gerechtigkeit Gottes gerät ja leicht in ein bedenkliches Licht, wenn die Nachkommen Adams ausnahmslos für eine einzige, in ferner Vorzeit begangene Sünde eines ansonsten profilschwachen Vorfahren büßen müssen, ohne in eigener Sache Schuld auf sich geladen zu haben. Hatte schon der Mythos in seiner schlichten Gestalt das Risiko mit sich gebracht, daß die gewöhnliche Vernunft nach der Verhältnismäßigkeit zwischen Fehltritt und Strafe fragen könnte – denn Tod, Not und Krankheit, eines wie das andere im Paradies unbekannte Übel, sollen nach der Aussage des Apostels Paulus als die gerechten Folgen der Urelternsünde gelten –, stellt sich hinsichtlich der ferneren Nachkommen um so mehr das Problem, warum auch sie, Jahrtausende post eventum, noch immer für die Verfehlung der Vorfahren büßen sollten. Es lohnt sich, auf die augustinischen Antworten und ihre Ausarbeitungen durch die Theologie des folgenden Jahrtausends einen Blick zu werfen, wäre es auch nur, weil man auf diese Weise Einsicht in die Fabrikation der alteuropäischen Psyche und einige ihrer bestimmenden Komplexe gewinnt. Die klassische Erbsünden-Lehre läßt sich in einen logischen und einen moralisch-sexualpathologischen Teil aufgliedern. Welcher von beiden für modernes Empfinden und Argumentieren befremdlicher ist, wäre nicht leicht zu sagen. Der logische Aspekt der Lehre vom peccatum originale mutet dem zeitgenössischen Interessenten die Aufgabe zu, sich auf den Standpunkt antiker Ursprungsphilosophie und ihrer mittelalterlichen Überarbeitungen zurückzuversetzen. Ihr zufolge w.re alles Entsprungene »auf gewisse Weise« im »Ursprung« enthalten und verkörpere nur dessen zeitlich und phänomenal versetzte »Entfaltung«. Alle später lebenden Menschen wären also »im Samen Adams« mit-präsent gewesen, da gemäß  dieser inzwischen außer Dienst gestellten Logik noch die fernste Folge im ersten Beginn angelegt ist. Es gibt nichts Neues in der Welt, nur die Entfaltung präformierter Substanzen.Hat Adam, der Ursprungs-Mann, seine bei der Schöpfung intakte Substanz durch erste Sünde korrumpiert, geht die Korruption auf die Nachkommen über, da diese »in ihm« mitenthalten sind. Nicht bloß die ursprünglich heile Substanz soll teilbar und dennoch in jedem ihrer Teile in Gänze anwesend sein. Für die Korruption der Substanz gilt das Gesetz der Anwesenheit des Ursprungs im nachgeordneten Glied wie das der Anfangsmacht in der Folgeerscheinung in gleicher Weise. Jeder Nachkomme Adams ist darum »in Adam« mitkorrupt. Hat die zeitgenössische Vernunft schon einige Mühe mit der bizarren Mengenlehre des Ursprungs-Denkens, so wird sie durch den moralischen und sexualpathologischen Teil des Erbsündendogmas erst recht heftig vor den Kopf gestoßen. Mit ihm wird die Doktrin psychologisch invasiv und moralisch zudringlich. Sie gibt vor, eine Phänomenologie der Sünde zu liefern, die zu zeigen vermöge, wie das erste Fehlverhalten sich in jedem einzelnen der Adamskinder spontan reaktualisiert. Der Tatbestand des peccatum originale gilt als erfüllt, wenn sich die Erbverfehlung des Vorfahren in der eigenen Verfehlung des Nachgeborenen wiederholt. Der Erbsündenprozess darf sich nicht nur als passive Übernahme einer alten Last vollziehen, obschon das Gewicht der Passivität in der außerparadiesischen Verfassung des Menschen schwer genug wiegt. Zusätzlich ist zu erweisen, wie das Wiederaufflammen der Sünde im einzelnen zustande kommt, damit sie ihm auch als persönliche Tat zugerechnet werden kann. Nicht bloß als Erbe des adamitischen Makels ist der Nachkomme zur Sünde disponiert; er wird zum Sünder aus eigener Intensität. Allein dieses moralisch-theologische Arrangement schützt die Gerechtigkeit Gottes gegen den Vorwurf, sie antworte auf Adams Fehltritt mit einer Überreaktion. Die Nachkommen haben das peccatum originale auf eigene Rechnung erneut zu begehen, um ihre Verdammnis – genauer ihre Verdammnis zur Verdammnis – zu verdienen. Und sie begehen es unfehlbar, weil sie mit dem Makel des Sündigen müssens ins Leben treten. Das ist es, was Augustinus’ listige und zudringliche Wendung vom non posse non peccare als letzte Wahrheit der natürlichen conditio humana nach den Fall besagt. Die Korruption ist dem Menschen zuvorgekommen. Der Mensch ist das Lebewesen, das nicht nicht sündigen kann, solange nicht die Gnade einigen Wenigen einen Weg der Rückkehr in die Integrität aufzeigt. Daß es wenige sind, die zu den Erwählten rechnen werden, steht für Augustinus außer Zweifel. Am Hof Gottes sind ja nur die beim Aufruhr der Engel freigewordenen Platze nachzubesetzen. An einem darüber hinausgehenden Kontingent an Kandidaten der Erlösung besteht im Jenseits weder Bedarf noch Interesse. Für sentimentalen Universalismus gibt es in der vera religio von der ersten Minute an keinen Raum, was auch immer spätere, universalistisch überventilierte Apostel und deren philosophischer Nachtrab hierzu sagen werden. Das authentische Christentum, wie es von Paulus bis Augustinus kodifiziert wurde, bleibt als strikte Erwählungs und Gnaden-Religion eine Sache der Wenigsten, einiger erratischer verbaler Gesten »an alle« und pro multis ungeachtet. Seine heilige Schrift, recht verstanden, ist eher einBuch für keinen als für alle. Den Hebelpunkt für seine Lehre von der anhaftenden Erblichkeit der Sünde findet Augustinus im Generationsprozeß: Wie das zweigeschlechtliche Leben als solches ist die Sünde eine sexuell übertragbare Krankheit. Mehr noch: Der Modus der Übertragung, der Geschlechtsakt, beinhaltet die Wiederholung der ersten Sünde, weil er nicht ohne superbia, das heißt nicht ohne die überhebliche Selbstbevorzugung des Geschöpfs vor seinem Schöpfer, zustande kommt. Der sexuelle Höhepunkt ist die Spur des teuflischen Hochmuts, in dem sich die Kreatur von ihrem Ursprung abwendet, um sich selber an die erste Stelle zu rücken. Wären die Menschen fähig geblieben, sich fortzupflanzen, ohne ihren sinnlichen Aufruhr zu genießen, wären sie dem Heil näher geblieben. Doch im postlapsarischen Zustand haben sie den Stachel des Strebens nach selbstbezüglicher Lust im Fleisch. Die sinnliche Wollust, sofern sie die Wendung zum Vorrang des Ich vollzieht, verwirkt die Ewigkeit. In modernen Kontexten würde man das augustinische Argument in die These kleiden, wonach sich in der Lust an der Lust die »narzisstische« Disposition der Psyche geltend macht: Diese freilich ist, um zur religiösen und metaphysischen Diktion zurückzukehren, mit der Einordnung des Geschöpfs in die kosmischen Hierarchien nicht verträglich. Die Verkehrungstendenz haftet den Sterblichen aufgrund ihrer primären Libido-Orientierung unauslöschlich an. Im Stand der Korruption ist der Mensch zur Selbstbevorzugung verdammt. Der Wille der Eigenmacht wohnt dem Nachkommen Adams allzu tief inne, als daß er ihn aus eigenem Entschluß abstreifen könnte. Die Liebes-Ordnung ist bei ihm von Grund auf verdreht. Er instrumentalisiert das Absolute und vergöttlicht die Instrumente. Obendrein ist er dazu verurteilt, seine Verfassung vor sich selbst zu verbergen – die Verkehrung hat die Unaufrichtigkeit zur ständigen Begleiterin. Die Geschichte der Selbstbevorzugung, die zugleich die halbbewußte mauvaise foi ist, führt in »Gottferne«, Aufstand, Abfall, Irre, Sünde, Perversion und wie die großen Titel der Verfehlung sonst heißen. An ein Ende gelangte sie nur, wenn dem Menschen gezeigt wird, wie er sich anzustellen hätte, wollte er dem Schöpfer wieder den Vortritt lassen. Dies könne ausschließlich das Hören auf das Evangelium leisten. Es allein solle zum posse non peccare der wirklichen Gläubigen und zum non posse peccare der Verklärten zurückführen.

Damit wird der Sturz in die Erbsünde immerhin für einige Erwählte reversibel. Die augustinische Rekonstruktion der menschlichen Geschichte nach dem Fall läßt deutlich werden, wie sehr das Christentum der Bemühung entsprang, die ursprüngliche Überreaktion Gottes gegen Adams Verfehlung durch ein Erlösungswerk zu kompensieren, das dem Menschen eine geringe Heilschance zurückgab, ohne daß der im Zorn zu weit gegangene Gott das Gesicht verlieren mußte. Die Schriften Augustinus’ sind von der Einstimmung in das Klima der Überbestrafung durchzogen: Es kann für den strengen Bischof von Hippo kein irdisches Elend geben, an dem der Mensch nicht letztlich selber schuld wäre. Es gehört zu Augustinus’ problematischen Verdiensten, wenn die westliche Zivilisation durch seine Anregungen einen Gedanken der Erblichkeit von Schuld, Sünde und Korruption zu entwickeln vermochte, der es mit dem indischen Konzept des Karma von ferne aufnehmen konnte. Indem Augustinus alle spontanen Intuitionen der moralischen Alltagsvernunft auf den Kopf stellte, konzipierte er eine Form von Sündigkeit, die durch die Tatsachen der Fortpflanzung unmittelbar auf sämtliche Nachkommen Adams überging – einzig den jungfräulich empfangenen Erlöser ausgenommen. Mit Hilfe seines Erbsünde-Konzepts gelang dem melancholischen Bischof die Konstruktion eines Kontinuums irdischer Geschichte, das ganz im Zeichen der zugleich angeborenen und immer spontan erneuerten Auflehnung der Einzelnen gegen Gott stünde. Die civitas terrena ist nichts als ein langes Défilé von Aufständen, Anmaßungen und Verbrechen, das von den Bemühungen einiger redlicher Herrscher und Richter um die irdische iustitia nur unzulänglich eskortiert wird. Aufstand ist das Wesen des Menschen: Der Mensch wird wie Gott, indem er dessen Privileg, nein sagen zu können, auf Gott selbst anwendet. Als Albert Camus im Jahr 1951 seinen Großessay Der Mensch in der Revolte publizierte, hatte er noch immer kaum mehr anzubieten als eine um aktuelle Beispiele bereicherte Paraphrase der Lehren seines Landsmanns Augustinus. Man darf von der tiefsinnig-heimtückischen Konstruktion der ersten menschlichen Verfehlung und ihrer unvermeidlichen Weitergabe durch den Akt der Fortpflanzung ohne Zorn und Eifer behaupten, sie habe aus psychohistorischer Sicht über die Entwicklung des Westens einen Schatten geworfen, dessen Aufhellung durch philosophische, theologische, psychologische, soziologische und literarische Aufklärung bis heute nicht als abgeschlossen gelten kann. Nach wie vor sind die Einprägungen des metaphysischen Masochismus augustinischer Herkunft mitsamt seiner Fracht an politischer Phobokratie und existentieller Körperfeindschaft in den Archipelen des Christentums spürbar1 – zwei Grundübel, zu denen sich Inquietismus, Erwählungspanik, Kulpabilismus, sexualneurotische Befangenheit und Kult des Elends gesellen. Kein harmloser Befund, bedenkt man, daß das Christentum mit über zwei Milliarden nominellen Gläubigen bis auf weiteres die numerisch größte, zudem theologisch intensivste Religionsmacht der Welt darstellt, mögen auch die düsteren Erbsachen heute fast überall in die unauffälligen Dialekte von Empathie, Sozialarbeit und Solidarität umcodiert worden sein.

Auch für die Nachdunkelung des Berichts von der Vertreibung aus dem Paradies durch die augustinische Erfindung der Erbsünde gilt das mythodynamische Grundgesetz, das im Feld des primären Unbehagens regiert: Jede Erzählung ist besser als keine Erzählung. Keine dunkle Erzählung kann sich jedoch den Wirkungen von Aufklärung entziehen, die alte Geschichten unter neue Beleuchtungen stellt. Je düsterer die Redaktion einer alten Geschichte ausfiel, desto heftiger manifestiert sich später das Bedürfnis, die Erzählung durch Umerzählung aufzuhellen.
Diese Beobachtung läßt sich an den Schicksalen der Erbsündenlehre in moderner Zeit erläutern. Schon Rousseau lieferte eine weltliche Umschreibung der Doktrin, indem er die Vertreibung aus dem Paradies der Eigentumslosigkeit als den Gründungsakt der bürgerlichen Gesellschaft auslegte: An die Stelle der Erbsünde tritt die erste Regung des Sinns für Privatbesitz: Mit dem Satz: Ceci est à moi! – »dies gehört mir« beginnt die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, die nach Rousseau eine einzige Sequenz von Entfremdungen und Verkünstlichungen darstellt. Betrachtet Rousseau das Eigentum auch als den Ursprung zahlreicher zivilisatorischer Übel, streitet er die Unvermeidlichkeit dieser Erfindung nicht ab. Er hatte – wie nach ihm Bismarck– begriffen, daß alle Legitimität letztlich auf einer verjährten Illegitimität beruht. Mit seiner Neudeutung der Urkatastrophe vollzieht er den Schritt, der die künftigen Stellungnahmen der Modernen zur Frage nach dem ersten Übel vorzeichnet: Er enttheologisiert das B.se und verlagert die Quelle der Korruption auf das Feld des Sozialen. Immanuel Kant, der Bewunderer Rousseaus, löst die Geschichte des Sündenfalls vollends aus dem religiösen Kontext und versetzt sie in eine zivilisationsgeschichtliche Perspektive: Es begründet in seinen Augen die Ehre des Menschengeschlechts, aus dem Paradies vertrieben worden zu sein, da es nur so auf den Weg der Vernunft und des Fortschritts gebracht werden konnte.2 Indem die Ureltern ihre Bequemlichkeit verloren, wurden ihre Nachkommen zu Agenten der Sittlichkeit und der immer strebenden Bemühung. Das bürgerliche Dasein beginnt, wo die paradiesische Faulheit endet. Bei Friedrich Schiller findet man schließlich die vollständige Umwertung der Vertreibungsgeschichte: Er läßt den Prozeß der menschlichen Freiheit geradewegs mit dem Sündenfall beginnen, ja, er zelebriert diesen als »die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte«. Sie eröffnete die Bahn der Selbsttätigkeit. Weit davon entfernt,eine Erbschuld zu begründen, gibt der ursprüngliche Ungehorsam gegen Gott unter dem Baum der Erkenntnis die erste Probe der erwachenden Vernunftkr.fte. Mit einem ihrer unwürdigen, trägen Paradies im Rücken blickt die Menschheit von alten Tagen an voraus auf ein besseres, ein aktives, ein reflektiertes Paradies: Den Zugang zu diesem erarbeitet sie sich durch den Gebrauch ihres Erkenntnisvermögens und ihrer Freiheit aus eigenen Stücken. Auch Johann Gottlieb Fichte hat die Säkularisation der Erbsünde durch seine Lehre von der Selbst-Setzung des Ich in der »That-Handlung«paradox vorangetrieben: Sie brachte das mehrdeutige Resultat hervor, wonach die endliche Ichheit, indem sie sich selbst aktuell generiert, gleichsam unter philosophischer Anleitung den »transzendentalen Sündenfall« begeht, aber durch die folgende Besinnung auf das absolute Leben den notwendig angerichteten Schaden wiedergutmacht: Das besonnene endliche Ich streicht sich selbst durch und stellt sich ins Unbedingte zurück. Wenn schließlich Friedrich Nietzsche gegen Ende des 19. Jahrhunderts die These vorbringt, zum Atheismus der Zukunft werde notwendig auch eine Art von »zweiter Unschuld«gehören, redet er nicht nur der Loslösung der Menschheit von dem bislang vorherrschenden Gefühl dasWort, »Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima zu haben«. Er rückt auch, für diesmal unpolemisch und ohne Nennung des Urhebernamens, die augustinischen Konstruktionen beiseite, über die er in ruhigem diagnostischem Ton bemerkt, sie mußten mittels der Emportreibung eines maximalen Gottes zugleich ein Maximum an menschlicher Schuld erzeugen. An die Stelle der Erbsünde tritt bei den Menschen der Neuzeit die janusköpfige Entdeckung des realen Erbes als Last und Chance. Wo die moderne Welt wirklich modern wird, nimmt sie die Form eines Experiments über die Zulassung von Ambivalenzen an. Wo große Lasten zu tragen sind, dürfen entsprechende Vorteile nicht fehlen. Der größte unter den neuen Vorteilen wird darin bestehen, daß der Akzent vom Leben nach dem Tod auf das Dasein davor versetzt werden kann. Zu bedauern ist, wie sehr dieser Akzentwechsel, in seinen Anfängen nicht weniger strittig als der platonische Titanenkampf zwischen der Ideenpartei und der Materiepartei, heute in der postmetaphysischen Trivialität verblaßt. Oft genug hat man, zumeist auf den Spuren Nietzsches, konstatiert, daß die Moderne in hohem Maß auf dem antiplatonischen Affekt beruhe: Wer modern empfindet, stimmt ohne langes Nachdenken der Forderung zu, das Leben in der Immanenz sollte reich genug aufgefaßt werden, um alles, was vormals in der Transzendenz unterzubringen war, in seinen eigenen noch längst nicht ausgemessenen Umfang aufzunehmen. Die Mahnung, der Erde treu zu bleiben, steht über dem Eingang zu den tausendundeinen Nächten moderner Lebenskunst und den tausend Plateaus erfinderischer Tagesarbeit. Seltener hat man bemerkt, wie die Moderne dem antiaugustinischen Affekt eine ebenso günstige Bühne bot. Mochte der alte Adam so viele Mängel mitbringen, wie ihm beliebte; sollte er so schlimme Verbrechen begehen, wie nicht zu verhindern waren: Mangel und Verbrechen waren doch keinesfalls Ausflüsse einer erbsündigen Vorbelastung, sondern entweder Resultate des Daseins in unterprivilegierten Milieus oder Initiativen eines nicht weiter rückführbaren bösen Einzelwillens, der von Gelegenheiten und Ausreden Gebrauch macht. Wenn es etwas gibt, was die Modernen spontan belächeln, ist es, neben der Idee, die Sonne kreise um die Erde, vor allem die Doktrin, alles menschliche Leben sei durch Erbsünde gezeichnet. Doch zu eben der Zeit, als die Idee der Erbsünde zunächst der Lächerlichkeit, dann der Gleichgültigkeit verfällt, wendet sich das anthropologische und politische Denken der Modernen auf breitester Front den Phänomenen des Erbe-Seins und Erbe-Habens als solchen zu. Das 19. Jahrhundert entdeckt die Erblichkeit aus allen Perspektiven, zumeist in belastender Tendenz und nur selten mit aufsteigendem Elan. Von der Erbsünde emanzipiert, begreift sich der Mensch als das in Erbgeschichten verstrickte Wesen: Er ist das Tier, das aufgrund sexueller Selektion Anlagen geerbt hat, die es bis auf weiteres unkorrigierbar physisch definieren – darunter zuweilen schwere Erbkrankheiten, die sich nicht mehr, wie im Altertum, zu heiligen Zeichen umdeuten lassen. Er ist das Tier, das eine Klassenlage erbt, aus der es sich nicht leicht befreien kann, es sei denn durch politische Revolte oder kulturelle Subversion. Er ist das Tier, das symbolische Abrichtungen erbt – später mit listigem Zungenschlag »Sozialisation« genannt –, die seine kulturelle Zugehörigkeit und sein zentralnervöses Repertoire fast irreversibel festlegen, es sei denn, es korrigiert sich selbst früh genug durch autodidaktische Ausbrüche aus den erworbenen Beengungen. Obendrein ist er das Tier, das nolens volens in einen Familienroman von mehr oder weniger neurotischer Färbung eingesponnen wird: Dem könnte es nur dank einer therapeutischen Kehre ein emanzipiertes Kapitel anfügen. Wenn Mephistopheles sagt: »Weh dir, daß du ein Enkel bist!« und Konsul Jean Buddenbrook doziert: »wir sind … wie die Glieder einer Kette«, so bewegen beide sich in derselben Matrix. Sie reden über die Pflicht zur Übernahme erblicher Lasten, ohne daß es zu deren Motivierung nötig oder auch nur erlaubt wäre, die Erbsünde zu bemühen. Eher möchte man glauben, die Erblichkeit als solche erscheine jetzt als ein Makel, gegen den die Modernen sich auflehnen, wo immer es ihnen gelingt, einen Widerstandspunkt zu entdecken. Sie weisen immer öfter zurück, was sie an alten Mitgiften bedrückt – ob es die Versklavung durch biologische Determinierungen ist oder die Prägungen durch Klasse, Schule, Kultur und Familie. Daß solche »Versklavungen« durch das Herkommen zugleich positive Bedingungen konkreten, geglückten, bestimmten Lebens sein könnten, mögen die Agenten der Losreißung nicht gerne wahrhaben. Im übrigen gesellen sich zu diesem Ensemble von Fatalitäten in der neuzeitlichen Kreditwirtschaft die Gläubiger, die auf der Rückzahlung von Darlehen so hartnäckig bestehen wie vormals die Rachegöttinnen auf der Exekution eines Fluchs. Wo immer das Interesse an Enterbung und Neubeginn aufflammt, stehen wir auf dem Boden der authentischen Moderne. Dynamit, Utopie, Arbeitsniederlegung, Familienrecht, genetische Manipulation, Drogen und Pop sollen die Sprengstoffe liefern, um die Erbmasse des sogenannten Bestehenden in die Luft zu jagen. Die Säkularisation der Erbsünde hat zwar das metaphysische Gift neutralisiert, das, destilliert in der Hexenküche des Augustinismus, im »Abendland« über anderthalb Jahrtausende weitergereicht wurde. Doch hat die Ausschaltung der Erb-Belastung a priori zugleich den Blick auf zahlreiche Formen ambivalenter Erblichkeiten im säkularen Bereich freigegeben. Um vorsichtiger zu reden: Sie hat das Bewußtsein von den Schwierigkeiten des Erbe-, Nachkomme- und Schuldner-Seins auf neue Bahnen gelenkt. Ein Massenansturm auf Positionen des »voraussetzungslosen Lebens« garantiert den Modernisierungen ihren Zulauf. In diesem Punkt ist die entente cordiale zwischen dem Liberalismus und dem Sozialismus mit Händen zu greifen. Die scheinbar unversöhnlichen Gegenspieler sind die besten Freunde, wenn es darum geht, die familialen, genealogischen und in erfolgreichen Filiationen gegründeten Prämissen des sozialen Lebens« zu verdunkeln. Zögernd machen sich die aktuellen Kulturwissenschaften bewußt, daß scheinbar zu Ende gedachte Grundbegriffe wie Generation, Filiation und Erbe von ihr noch nie mit dem Ernst durchdrungen wurden, den die Abgründigkeit der Sache verlangt. Um zur Behebung dieses Mangels beizutragen, wird mit den nachstehenden Überlegungen eine nicht-theologische Neubeschreibung menschlicher Erbverlegenheiten unternommen, bei welcher Begriffe wie Filiation, Transmission, Bastardentum, Hiatus, genealogisches Intervall, Bodenlosigkeit, Asymmetrie, Freisetzung, Enterbung, kreative Diskriminierung und genealogische Modernisierung eine erhellende Rolle spielen. Zu einer Restauration der »Erbsünde« geben die folgenden Beobachtungen keinen Anlaß. Sie möchten jedoch zu einer erneuten Sichtung der Korruptionseffekte beitragen, die von alters her sich in den Generationsprozessen einnisten, und dies nachhaltiger, als das alltägliche Bewußtsein je zur Kenntnis nehmen wollte: sporadisch seit der klassischen Antike, verstärkt mit dem Anbruch der Neuzeit und inflationär in den Verhältnissen, die auf die technischen, politischen und juristischen »Revolutionen« des 18. und 19. Jahrhunderts folgten. Die Kulturtheorie unserer Tage nimmt somit die Herausforderung an, die religiös codierten Sachgehalte der augustinischen Beobachtungen in weltlichen Ausdrücken zu reformulieren, sei es juristisch, klinisch, kulturwissenschaftlich oder in medientheoretischen Begriffen. Sie erlaubt die Frage, wie sich die von Augustinus notierten Lasten, die auf der conditio humana ruhen, so rekonstruieren ließen, daß ältere und neuere Intuitionen sich begegnen. Durchwegs geht die Kulturtheorie dabei von der Grundregel der empathischen .bersetzung aus. An die Stelle des peccatum originale treten aus zivilisationsdynamischer Sicht die Kopierfehler bei der Überspielung von kulturellen Programmen auf die nachfolgenden Träger. Statt von den »Sünden der Väter« sprechen wir von den imagined communities des Traumas und von der neurotischen Fesselung der Nachkommen durch die Komplexe der Vorfahren. Statt von der Auflehnung gegen den Schöpfer handeln wir vom schädlichen Intervall zwischen den Generationen. Für das generationelle Intervall und seine moralisch-kulturellen Implikationen steht in diesem Buch die emblematische Figur der »schrecklichen Kinder«. Daß Kinder solcher Art implicite auf entsprechende Eltern verweisen, ist weder eine billige Riposte noch eine esoterische Unterstellung. Hat aber die aktuelle Gesellschaftswissenschaft je das Défilé bemerkt, in dem »die schrecklichen Kinder der Neuzeit « von spätmittelalterlichen Tagen an den kommenden Jahrhunderten entgegenzogen? Hat einer der Autoren, die sich in den letzten Jahrzehnten zu meistens methodisch verdrehten Phänomenen wie Globalisierung, Mundialisierung, Modernisierung, Hybridisierung, Dekolonisierung, Kreolisierung, métissage etc. äußerten, darauf geachtet, daß der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts tonangebende Kontinent der Moderne, das protuberante westliche Europa der nach-kolumbianischen Jahrhunderte, den Globus nicht nur in Unruhe versetzte mit seinen paradigmatischen Exportgütern: dem Geldwesen, der Hochsee-Schiffahrt, den Naturwissenschaften, dem Ingenieurswesen, der zeitgenössischen Kunst, dem Nationalstaat, den Massenmedien und der Unisex-Ideologie? Hat man die Tatsache berücksichtigt, wonach Europa – in der Folge überflügelt von seiner amerikanischen Filial-Kultur – an so gut wie alle anderen ethnischen Ensembles bzw. »Kulturen« der Erde seine paradoxeste und am wenigsten analysierte Erbschaft weitergab – die irrlichternde Botschaft von der Überflüssigkeit eines Erbes? Hat man in Rechnung gestellt, wie Europa, gemeinsam mit seinem amerikanischen Partner, im Namen der jungen, wandelbaren und angriffslustigen Göttin »Freiheit« sein riskantestes Experiment in die fernsten Regionen des Planeten hinaustrug: seine Wette, Herkunftsunsicherheit – nenne sie Enterbung, Bastardentum oder Hybrid-Identität – sei bei der Suche nach Zukunftskompetenz nicht länger ein Makel, vielmehr eine sinnvolle Option, ein fruchtbarer Mangel, ein chancenträchtiger Stimulus, ja eine nahezu unentbehrliche Qualifikation? Weil dem zeitgenössischen Denken der Zugang zum Konzept der Erbsünde nicht mehr offensteht, weder litteral noch in zeitgeistverträglichen Exegesen, müssen die Vorgänge zwischen Generationen, die zum Einbruch korrumpierender Elemente in die Übermittlung von genetischen und symbolischen Erbgütern beitragen, aufmerksamer wahrgenommen werden, als es bisher geboten und üblich schien. Zum Verständnis der modernen Welt gehört, wie wir jetzt verstehen, eine säkulare Hermeneutik der Korruption. Der Augenblick ist gekommen, den Begriff »Korruption« für die historische Anthropologie zu reklamieren und seine Monopolisierung durch Politologen, Juristen, Steuerfahnder und Entwicklungstheoretiker zu bestreiten. Korruption ist nicht nur das, was Staatsdienern widerfährt, wenn sie dem Charme eines zweiten Einkommens nicht widerstehen, oder was Machthabern den Gedanken einflößt, Recht und Gesetz seien nur andere Namen für ihre Launen. Man muß demonstrieren, warum der Mensch, heute wie seit alter Zeit, als das korrumpierbare Tier existiert – ohne daß man die Korruption essentialistisch überhöhen dürfte. Ebenso ist darzustellen, wodurch es sich von Korruption befreit. Eine zeitgenössische Ethik soll erläutern k.nnen, wie Korruptionen durch Wandlungen und Erholungen korrigierbar sind. Einer der neben Kierkegaard und vor Nietzsche anregendsten Moraldenker des 19. Jahrhunderts – der zu Unrecht vergessene franz.sische Geschichtsphilosoph Pierre-Simon Ballanche (1776-1847) – hat in seinem Werk über die »soziale Palingenesie«, das heißt, die Wiedergeburt des lernenden und reuefähigen Geistes bei seinem Gang durch die Generationen, die Grundlagen für eine realistische historische Ethik geschaffen. Es handelt von der permanenten Revolution der schuldhaften Exzesse und ihrer Korrektur durch den Lauf der Dinge: Fortschritt durch Prüfungen (épreuves)ist die einzig glaubhafte Devise in Zeiten evolutionärer Turbulenz.1 In seinem Gang formiert sich »die Menschheit« als ko-immune Gemeinschaft2 von geschichtlichen Wesen, die sich an ihre Fehler, Irrtümer und Verbrechen erinnern und diese Erinnerungen in kritischen Selbstdefinitionen aufbewahren. Aufhebung der Korruption wäre das weltliche Gegenstück der Reue, mit der in christlicher Tradition die Wiederaufrichtung des Menschen nach dem Fall beginnt. Die Aufhebung der Korruption ist der Ernstfall des Lernens. Wer ein Lernender ist, häuft nicht bloß Informationen an. Er versteht, daß wirkliches Lernen etwas von einer Bekehrung an sich hat. Gäbe es in der Kulturtheorie ein Pendant zu dem, was im katholischen Altaraufbau das Allerheiligste verkörpert, es könnte nichts anderes sein als dieser am weitesten heruntergekommene Begriff der Gegenwart: »Lernen«. Im kommenden Jahrhundert sollte man ihn wie eine numinose Präsenz in einem Offenbarungszelt hüten. An seltenen Tagen dürfte man ihn für einige Momente enthüllen. Ist nicht der Verdacht begründet, das Lernen sei der unbekannte Gott, von dem es seinerzeit in einer Anmerkung von seherischer Dunkelheit hieß, nur noch ein solcher könne uns retten?

Quelle: Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Suhrkamp Verlag 2014, 489 Seiten, 26,95 Euro