Das Thema „Frieden und Konfliktprävention“ steht an erster Stelle der „Six Areas of Focus“ der Rotary Foundation. Denn ohne Frieden kann Rotary auch seine anderen Ziele wie die Hygieneförderung oder den Schutz von Mutter und Kind nicht umsetzen. Ein Blick auf die lange Auseinandersetzung unserer Organisation mit dem Thema Frieden
01.05.2017
Wer in die rotarischen Annalen sieht, stellt fest, dass das Thema Frieden von Beginn an ein zentrales Anliegen Rotarys war. Zwar standen im „Club One“ in Chicago zunächst die lokalen Probleme der rasant wachsenden Metropole am Michigansee und die Berufsethik der Gründungsmitglieder im Vordergrund. Doch schon in den allerersten Tagen der Organisation wollte ihr Gründer Paul Harris nicht nur Freundschaft, guten Willen und Rechtschaffenheit in seiner Umgebung stiften; von Beginn an hatte er auch das große Ganze seiner Zeit, den Frieden der Welt, im Blick. Fast schon ein Klassiker aus jener Zeit ist Harris’ Ausspruch: „Der Weg zum Krieg ist gut gepflastert, der Weg zum Frieden ist eine Wildnis“.
Besonders stark engagierte sich Paul Harris in den Jahren der beiden Weltkriege. So sagte er 1917 angesichts des amerikanischen Eintritts in den Ersten Weltkrieg in seinen Ausführungen an die National Convention in Atlanta nicht nur, dass dieser Weltenkonflikt vielleicht ein verdeckter Segen für sein Land sein könne, in dem es herausgefordert wird, sich ernsthaft mit sich selbst zu befassen. Sondern er sprach auch davon, dass dieser Krieg dazu auffordert, respektvoll die Beziehungen der eigenen Nation zu anderen Ländern zu hinterfragen. Als amerikanischer Patriot, der Harris zweifellos war, sah er das eigene Land auf der Seite des Guten und die Kriegsgegner der europäischen Mittelmächte auf der Seite des Bösen. Harris sagte aber auch: „Rotary wurde auf dieser Seite des Ozeans geboren. Es könnte aber genauso gut in jedem anderen Land der Freiheit geboren worden sein. Es könnte jedoch niemals seine Wurzeln im Despotismus haben. Dieser große internationale Streit ist nun zu Amerikas Streit geworden. Es ist zu Rotarys Streit geworden. Rotary war immer der Feind des Unrechts. Rotary ist im 20. Jahrhundert der Zerstörer der Kasten, der Zerstörer der Heuchelei, der Feind des Unnatürlichen, der Freund aller echten Dinge und der Verbündete der Wahrheit und der Rechtschaffenheit.“
Ganz nebenbei brach der Rotary-Gründer hier mit einer Regel, die er selbst einmal aufgestellt hatte – nämlich dem Gebot, sich aus der Politik herauszuhalten (vermutlich meinte Harris mit diesem Gebot ohnehin nur, dass sich Rotary aus dem alltäglichen Gezänk der verschiedenen Parteien heraushalten sollte). In jedem Falle hat er mit seiner Atlanta-Rede klargestellt, dass die Rotarier stets dazu aufgefordert sind, sich dann einzumischen, wenn Frieden und Freiheit bedroht sind. Zwei Jahre später, auf der sogenannten „Victory Convention“ in Salt Lake City 1919, fragte Paul Harris in seiner Grußadresse, ob es für Rotary, da der Krieg vorbei war, noch etwas zu tun gebe. Seine Antwort: mehr als jemals zuvor. Niemals, so Harris, sei der Ruf nach gut gesinnten Kräften so groß gewesen. Zwar erscheine die Zivilisation durchaus in ihren Grundfesten erschüttert, doch gab er sich zugleich überzeugt davon, dass sie stärker als je zuvor aus der Krise herauskommen werde. Nicht zuletzt dank Rotary.
Vom Patrioten zum Weltbürger Wer sich die Reden und Grußadressen von Paul Harris an die verschiedenen Conventions aufmerksam durchliest, wird darin eine gewisse Entwicklung des Rotary-Gründers feststellen: weg vom amerikanischen Patrioten, der davon überzeugt war, dass vor allem sein Land für das Gute in der Welt steht, hin zu einem nachdenklich reflektierenden Weltbürger, der zunehmend bestrebt ist, Brücken zwischen den Völkern der Welt zu bauen.
Ein Beispiel dafür sind seine Worte an die Convention 1921, die erstmals nicht in Amerika stattfand, sondern in Edinburgh. Damals forderte Harris, dass der Begriff der Freundschaft künftig alle Menschen einschließen müsse. Er sprach von einer Freundschaft, die nicht nur nationale Meinungsunterschiede toleriert, sondern diese auch als naturgegebenes Erbe der Menschheit versteht. Keine Nation, so Harris weiter, solle in Zukunft für sich allein leben, stattdessen sollen die privaten und gesellschaftlichen Kräfte des Fortschritts voneinander lernen. Und wörtlich: „Rotary glaubt, je besser die Menschen einer Nation die Menschen einer anderen Nation verstehen, umso niedriger ist die Wahrscheinlichkeit für Spannungen, und deshalb wird Rotary zu gegenseitigem Verständnis und zu Freundschaften zwischen den Individuen verschiedener Nationen ermutigen.“
Neben der Idee, Menschen verschiedener Herkunft zusammenzubringen, ragt hierbei vor allem der Wille heraus, auch auf Angehörige von Nationen zuzugehen, mit denen das eigene Land vor Kurzem noch im Kriege gestanden hatte. Auf der Konferenz von Edinburgh stimmten die Rotarier auch einstimmig dafür, den Einsatz für den Frieden in der Welt in ihre Verfassung und in ihre Statuten aufzunehmen. Wörtlich sprachen sie von der „Förderung der internationalen Verständigung, des guten Willens und des Friedens durch eine Weltgemeinschaft von Geschäftsleuten und Fachkräften aus dem Berufsleben im Ideal des Dienens“.
Das Zeichen von Wien Ein wichtiger Meilenstein im Einsatz Rotarys für den Weltfrieden ist die Convention im Jahre 1931 in Wien. Sie war nicht nur die erste weltweite rotarische Konferenz auf dem europäischen Festland, sondern auch die erste in einem Land, das im Ersten Weltkrieg zu den Gegnern Amerikas gehört hatte. Das Umfeld dieser Konferenz war alles andere als günstig. Die Völker der Welt, die sich nach dem Großen Kriege im Völkerbund zusammengefunden hatten, drohten, wieder auseinanderzufallen. Die Große Depression in der Wirtschaft bedrohte die innere Stabilität zahlreicher Gesellschaften, und in denjenigen Ländern, die den Weltkrieg verloren hatten, wuchs der Wille, Revanche für die Niederlage zu nehmen. In diese Zeit hinein startete der britische Außenminister Arthur Henderson eine Initiative zur Abrüstung, die letztlich zur Genfer Abrüstungskonferenz von 1932 bis 1934 führte.
Die Convention von Wien fand somit im Vorfeld der Genfer Abrüstungskonferenz statt – und setzte deshalb das Thema Frieden und Abrüstung auf die Tagesordnung. Eindringliche Gedanken hierzu trug der Viscount Cecil of Chelwood vor. Für ihn waren Investitionen in Waffen schlicht eine Verschwendung zulasten des Wohlstands der Gesellschaft. Und weiter: „Wenn wir die Arbeit und das Kapital, das heute für die Herstellung von Waffen eingesetzt wird, in produktivere Bereiche transferieren könnten, stünden alle – einschließlich derer, die heute noch in Waffenschmieden beschäftigt sind – besser da.“ Am folgenden Tage dann erklärten die Freunde in ihrer Resolution Nr. 28, dass sie mit tiefer Besorgnis die Pflege der Waffenarsenale der Nationen auf ihrem gegenwärtigen Niveau als ultimative Bedrohung für den Frieden der Welt und für eine Hetze zum Krieg ansehen. Zugleich erklärten sie im Namen ihrer 158.000 Mitglieder in 67 Ländern, dass sie jeden möglichen Schritt jeder Regierung begrüßen, der unternommen wird, um die im Jahre 1932 anstehende Genfer Abrüstungskonferenz zu einem Erfolg und zu einer substanziellen Abrüstung der Waffen in der Welt zu führen.
Auch Paul Harris beteiligte sich in seinem Grußwort an den Beratungen in Wien. Als einen wesentlichen Baustein für den Frieden der Welt sah er den Begriff der Freundschaft an: „Freundschaft schafft eine Bereicherung für das Leben. Ohne sie wäre das Leben wirklich karg. Verständigung ist die Dienerin der Freundschaft. Ohne sie kann Freundschaft nicht existieren. Wo Freundschaft wächst, verschwinden Überlegenheitsgefühle ebenso wie Minderwertigkeitskomplexe. Wir sind alle Gottes Kinder. Und so wie ein Mitglied einer Familie essenziell wichtig ist für die anderen Angehörigen, so ist jede Nation in der großen Völkerfamilie von essenzieller Bedeutung für alle anderen Nationen.“
Die Wiener Resolution Nr. 28 und die Worte von Paul Harris waren große und starke Worte für eine noch größere Sache. Doch verschärften sich bekanntermaßen nur kurze Zeit darauf weltweit die politischen Verhältnisse, und ein neuer Krieg brachte noch mehr Leid über die Menschheit als der Große Krieg rund 25 Jahre zuvor. Natürlich hat Rotary die Rückkehr von Diktatur und Krieg nicht verursacht und in keiner Weise zu verantworten. Und doch waren die Bemühungen der rotarischen Freunde, den Frieden der Welt zu sichern, am Ende nicht erfolgreich. Ein Grund dafür war vielleicht, dass diese Organisation damals zwar schon eine beachtliche Größe erreicht hatte, aber letztlich doch zu klein war, um die Gesellschaften wichtiger Länder wirklich zu prägen.
Gründung der Vereinten Nationen Auch inmitten des Zweiten Weltkrieges leistete Rotary – das durch Verbote der Clubs in den faschistisch, nationalsozialistisch oder kommunistisch regierten Ländern wieder mehr oder weniger zu einer Organisation in den westlichen Ländern geschrumpft war – einen signifikanten Beitrag für den Frieden. Auf ihrer Convention in Havanna 1940 forderten die Anwesenden „Frieden, Gerechtigkeit, Wahrheit, die Heiligkeit des sicheren Wortes und Respekt vor den Menschenrechten“ ein. Diese Forderung wurde später, im Jahre 1948, zum Gerüst für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Im Jahre 1942 organisierten Rotary Clubs aus 21 Nationen eine Konferenz in London, um gemeinsam eine Grundlage für die künftige Bildung, Wissenschaft und Kultur nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu entwickeln. Diese Londoner Konferenz gilt als eines der Fundamente der späteren UNESCO. Und dann, im April 1945, gehörte Rotary zu den maßgeblichen Kräften der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen in San Francisco. Dass Rotary International dazu offiziell als Beobachter eingeladen war, zeigt, welches Ansehen sich die Organisation beim Thema Friedenssicherung erworben hatte.
Ein Jahr darauf, auf der Convention von Atlanta 1946, zeigte sich Paul Harris zu Recht stolz darauf, dass die Regierungen der Welt mit dieser Gründung einen Weg gegangen sind, der 41 Jahre zuvor von Rotary gebahnt worden war: „In über 70 Ländern haben Rotarier dafür die Vorarbeit geleistet, sie haben auf das Denken ihrer Landsleute eingewirkt. Und nun kommt die Ernte. Die Völker der Welt kommen zusammen im Namen der Vereinten Nationen. Rotary hat leidenschaftlich und betend für diesen Tag gearbeitet. (…) Rotarier waren die Vorsitzenden von sieben nationalen Delegationen auf der San-Francisco-Konferenz, und insgesamt saßen in allen Delegationen über 50 Delegierte und Berater. Und deshalb können wir definitiv sagen, dass der Geist Rotarys beim Verfassen der Charta der Vereinten Nationen mitgewirkt hat.“ Es sollte die letzte Grußadresse von Paul Harris an eine Rotary Convention sein – was für ein Vermächtnis!
Projekte und Friedensinitiativen Nach dem Pathos der Gründung der Vereinten Nationen begann die praktische rotarische Arbeit für die Schaffung des Weltfriedens. In unzähligen Projekten und Initiativen waren und sind Rotarier maßgeblich daran mitbeteiligt, dass immer mehr Regionen der Welt in Wohlstand, Freiheit und Frieden leben konnten.
Einen wesentlichen Beitrag zur Völkerverständigung leisten etwa die Länderausschüsse. Nicht zu vergessen ist auch der rotarische Jugenddienst. Zudem vergibt Rotary jedes Jahr an sechs Rotary Friedenszentren in aller Welt Stipendien an Studenten, die sich in ihrer Arbeit dem Thema Frieden widmen.
Eines der größten rotarischen Friedensprojekte wird von den meisten Rotariern oftmals gar nicht als solches wahrgenommen: PolioPlus. Doch hat die Einsicht, dass die Impfung gegen einen fürchterlichen Erreger letztlich allen Beteiligten zugutekommt, dazu geführt, dass selbst in heiß umkämpften Kriegsgebieten Waffenruhen möglich wurden, um Impfungen in Ruhe durchführen zu können. Oft folgte auf die kurzzeitige Unterbrechung der Kampfhandlungen eine längere Waffenruhe; manchmal bildeten die Polio-Schutzimpfungen sogar den Auftakt zu Friedensprozessen.
Eine Frage der Stärke Wenn man die ersten Jahrzehnte Rotarys mit der Zeit nach 1945 vergleicht, kann man feststellen, dass Rotary heute erfolgreicher ist als damals, zu Beginn der dreißiger Jahre, als es nicht gelang, den Frieden der Welt zu sichern. Eine wesentliche Ursache dafür waren und sind die weltpolitischen Rahmenbedingungen, die Rotary nicht zu verantworten hat. Wenn die Welt insgesamt friedlicher ist, fällt es auch Rotariern leichter, für den Fortbestand des Friedens zu wirken.
Daneben gibt es jedoch auch einen anderen Grund dafür, dass Rotary heute erfolgreicher ist als vor dem Zweiten Weltkrieg – die Mitgliederstärke. Als 1931 die Convention in Wien tagte, hatte Rotary circa 3400 Clubs und 158.000 einzelne Mitglieder aus 67 Ländern. Heute sind es 34.000 Clubs mit über 1.200.000 Freunden in nahezu 200 Ländern.
Der Erfolg Rotarys dürfte also auch damit zusammenhängen, dass die Organisation heute nicht nur honorige Eliten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vereint, die auf internationalen Konferenzen wichtige Beschlüsse fassen, sondern zahlreiche Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die einfach dort anpacken, wo sie gebraucht werden. Die Stärke Rotarys liegt in der einzigartigen Mischung aus lokalen, nationalen und internationalen Leistungs- und Entscheidungsträgern. Insofern ist die Größe Rotarys und ein – behutsames – Wachstum dieser Organisation kein Selbstzweck, sondern die Voraussetzung für die Erfüllung ihrer Ziele.