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Der Wert der Erfahrung

Die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens hängt nicht nur von technologischer Modernisierung, sondern entscheidend von seiner Alterskompetenz ab.
In vielen Organisationen verschiebt sich derzeit das Altersgefüge – leise, aber tiefgreifend. Während die Belegschaften altern, schrumpfen gleichzeitig die Jahrgänge der Nachwuchskräfte. Was lange als Zukunftsthema galt, ist längst betriebliche Realität geworden. Fachkräftemangel und verlängerte Erwerbsbiografien beschleunigen diese Entwicklung zusätzlich.
Ausgangslage: Vom demografischen Trend zur betrieblichenRealität
Der Anteil der über 50-Jährigen steigt in fast allen Branchen kontinuierlich. In der Industrie und Energiewirtschaft liegt er teilweise bereits bei über 40 Prozent. Gleichzeitig sinkt die Zahl qualifizierter Berufseinsteiger – besonders in technischen und handwerklichen Berufen.
Auch in Dienstleistungssektoren zeigt sich diese atypische Altersstruktur, die Innovationskraft, Geschwindigkeit und Wissensverfügbarkeit herausfordert. Diese Verschiebung verändert betriebliche Kulturen und Entscheidungsweisen – mit spürbaren Konsequenzen für Innovationsfähigkeit und Anpassungsgeschwindigkeit.
Wenn langjährige Mitarbeiter ausscheiden, geht kritisches Erfahrungswissen verloren, weil es weder dokumentiert noch systematisch transferiert wird. Organisationen verlieren damit ihr internes "Gedächtnis" – das Wissen um bewährte Verfahren, Fehlerquellen und situatives Handeln.
Ferner fehlt in Transformationsprojekten häufig genau dieser kollektive Erfahrungskern, der neue Technologien und Prozesse alltagstauglich macht. Ohne Lernfähigkeit und Wissenskontinuität steigt die Anfälligkeit für operative Fehlentscheidungen – insbesondere in komplexen Märkten, in denen Routinen und implizite Expertise über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.
Tun Unternehmen wirklich genug, um ihre seniore Belegschaft effektiv auf diese jeweilige Transformationsreise mitzunehmen, so dass deren tägliche Selbstwirksamkeit zum Gestalter von Veränderung wird?
Erfahrungswissen ist weit mehr als gespeicherte Information. Es ist implizit, kontextbezogen und oft unbewusst verankert. Es ermöglicht realistische Risikoabschätzung, schnelle Entscheidungsfähigkeit in Ausnahmesituationen und sichert die Verknüpfung zwischen Innovation und Umsetzbarkeit.
Teams, in denen erfahrene Mitarbeiter aktiv eingebunden sind, treffen häufig robustere und pragmatischere Entscheidungen. Dieses Potenzial ist häufig vorhanden, bleibt aber ungenutzt, weil Unternehmen Wissensträger nicht gezielt aktivieren oder deren Expertise nicht sichtbar einbinden.
Künstliche Intelligenz kann Datenmuster erkennen, aber sie versteht keine Betriebslogik. Ohne Erfahrungswissen fehlt ihr die "Ground Truth". Nur langjährig Beschäftigte kennen die nicht dokumentierten Abläufe, Sonderfälle und Grenzbedingungen. Sie wissen, welche Prozessschritte automatisiert werden können – und wo menschliches Urteil unverzichtbar bleibt. Damit gilt: KI kann Effizienz steigern, aber nur dann, wenn Menschen mit tiefem Erfahrungswissen als Ausgangspunkt dienen.
==> Kernbotschaft: Technologie lernt nur von denen, die wissen, wie es wirklich funktioniert.
Handlungsdruck: Warum jetzt?
Jeder Monat ohne strukturierte Aktivierung oder Sicherung von Erfahrungswissen bedeutet unwiederbringlichen Verlust. Organisationen befinden sich in einem Wettlauf gegen die Zeit – denn mit jedem Renteneintritt verschwindet gelebte Erfahrung, die nicht digital oder schriftlich nachbildbar ist.
Transformationen benötigen die Kombination aus frischen Ideen und stabiler Erfahrungsbasis. Rahmenbedingungen, Unternehmenskultur und Timing entscheiden darüber, ob Alterserfahrung zum Motor oder zum Hemmfaktor der Erneuerung wird.
Eine"Wise Organization" erkennt den demografischen Wandel in der Belegschaft als strategische Kernaufgabe und nutzt gezielt die Erfahrung älterer Mitarbeitender zur Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit, Innovationskraft und Nachhaltigkeit. Sie setzt auf "Wise Management" – einen Führungsansatz, der den Generationenaustausch fördert, institutionelles Wissen erhält und altersübergreifende Zusammenarbeit stärkt.
Im Gegensatz zu rein kurzfristigen HR-Maßnahmen verankert eine "Wise Organization" Altersdiversität in ihren strategischen Prioritäten und bezieht die besonderen Stärken jeder Altersgruppe aktiv ein. Der Business-Case ergibt sich aus den Herausforderungen wettbewerbsintensiver Märkte, Fachkräftemangel und der Notwendigkeit, Produktivität und Innovationsfähigkeit trotz alternder Belegschaft zu sichern. Kernthemen sind:
- Strategische Implikationen: Demografischer Wandel beeinflusst langfristige Unternehmensziele
- Talentmanagement: Erfahrung älterer Mitarbeitender wird systematisch aktiviert gehalten
- Innovation und Anpassungsfähigkeit: Altersgemischte Teams steigern Kreativität
- Personalplanung: Frühzeitige Vorbereitung auf Ruhestandswellen sichert Schlüsselpositionen
- Unternehmenskultur und Engagement: Abbau altersbezogener Vorurteile erhöht Motivation
Demografische Ignoranz gefährdet jegliche Form von Prozessoptimierung, Transformationen und Nachhaltigkeitsstrategien durch Wissensverlust, sinkende Innovationskraft, Produktivitätslücken, erhöhte Kosten, kulturelle Reibungen, Talentengpässe und Compliance-Risiken.
Ein zentrales Risiko ist die "Routinefalle", in der erfahrene Mitarbeitende stagnieren, ihre Kompetenzen überaltern und der Flow-Zustand – Quelle für Motivation und Spitzenleistung – verloren geht. Fehlende Weiterbildung und Engpässe beim Reskilling verschärfen Produktivitäts- und Kostenprobleme. "Wise Organizations" vermeiden dies durch gezielte Lern-, Entwicklungs- und Veränderungsangebote für Mitarbeitende über 50, um Wissen jung zu halten, individuelle Zufriedenheit zu fördern und langfristige betriebliche Leistungsfähigkeit zu sichern.
Aktivierung und Bindung von Erfahrungswissen
In einer "Wise Organization" werden unter anderem diese Lösungsansätze sichtbar gelebt:
- Wissensmanagement neu denken: Persönlicher Wissenstransfer statt Dokumentenarchive
- Mentoring & Tandemarbeit: Generationenübergreifende Teams fördern gegenseitiges Lernen
- Rollenwechsel: Ältere Mitarbeiter als Wissensmentoren und Co-Designer digitalerProzesse
- Anreizsysteme: Sichtbare Wertschätzung und Zeitbudgets zur Aktivierung von Wissen mit höherem Impact
- Integration in die Transformationsstrategie: Erfahrungswissen als Kernbaustein verankern.
Diese Maßnahmen schaffen die Voraussetzung, damit Erfahrungswissen nicht als nostalgische Erinnerung, sondern als Wettbewerbsfaktor wirksam wird.
Unternehmen, die Alterskompetenz gezielt fördern, verbessern nachweislich die Produktivität ihrer Prozesse, die Innovationsquote und Qualitätssicherung. Gemeinsame digitale und analoge Lernräume erhöhen die Aktivierung von Wissen und fördern Verbindlichkeit im Austausch.
Eine Unternehmenskultur, die Erfahrungs- und Technologiewissen gleichwertig behandelt, schafft nachhaltige Veränderungsfähigkeit – und zugleich eine neue Form von Stolz und Verbundenheit im Betrieb.
Fazit
Der demografische Wandel ist kein äußerer Zwang, sondern ein interner Strategie-Test. Nur wer Erfahrung als Erneuerungsfaktor erkennt und nutzt, kann Prozessoptimierung und technologische und organisatorische Transformation erfolgreich gestalten.
Buchtipp
Christian Jerusalem
Wise Up! Unlock experience and make an advantage
Haufe Verlag 2025, 264 Seiten, 39,99 Euro
Christian Jerusalem ist Leadership Advisor mit über 25-jähriger Erfahrung in namhaften global agierenden Beratungsunternehmen. 2020 gründete er "WiseForce Advisors", eine Unternehmensberatung, die antritt, um das Potential der Ü50-Belegschaft für mehr Wachstum, Innovation und Produktivität zu realisieren. 2021 gründete er als Charter President den Rotary Club Düsseldorf-International.
