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Buch des Monats

Genschers Welten-Bilanz

25 Jahre nach der Wiedervereinigung schildert der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher (RC Bonn Süd-Bad Godesberg) nicht nur Erhellendes zur politischen Geschichte, er formuliert auch ein Vermächtnis für eine „Weltnachbarschaftspolitik“

01.10.2015

Es wäre unangemessen, den 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung ohne eine Wortmeldung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher zu begehen. Denn Genscher hat in den 18 Jahren seiner Amtszeit mit seiner überzeugenden Politik zu den Grundlagen für die deutsche Einheit wesentlich beigetragen. Da gebietet es schon die Selbstachtung, die geschichtliche Deutungshoheit nicht vollkommen anderen und auch nicht Helmut Kohl zu überlassen.


Diesem Kalkül ist das Buch zu verdanken, das jetzt bei Propyläen erschienen ist: „Meine Sicht der Dinge“. Im Gespräch mit Hans-Dieter Heumann, dem Präsidenten der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, trägt Genscher darin nicht nur viel Er­hellendes zur deutschen politischen Geschichte seit 1969 bei, sondern formuliert auch eine Art politisches Vermächtnis. Das betrifft zunächst Europa, das er durch den Zwist mit Russland gefährdet sieht.


Zwar lässt er über seine Beurteilung der Krim-Annexion keinen Zweifel („Bruch des Völkerrechts“), andererseits sei klar: „Stabilität im OSZE-Raum gibt es nicht ohne Russland und erst recht nicht gegen Russland.“ Der Westen habe nicht ausreichend gesehen, „dass Russland sich als eine Großmacht versteht, und das zu Recht“. Nehme man russische Interessen ernst, so müsse das an der fortgesetzten transatlantischen Partnerschaft nichts ändern, deren westlicher Brückenpfeiler ein selbstbewusstes Europa sein müsse.

Angst um europa
Der Zustand Europas besorgt Genscher. Der Einigungsprozess Europas habe für Deutschland nur Chancen gebracht, ein „Rückbau“ würde europäische und auch deutsche „Selbstentmachtung“ bedeuten. Europa aber müsse in einer Welt, die künftig gerade auch durch China multipolar sein werde, stark sein.


Genscher blickt auf den Zusammenbruch des kommunistischen Systems 1989 zurück, indem er eine zentrale These angreift: „Die Einschätzung, dass ökonomische Schwierigkeiten die Kursänderung im Kreml bewirkt haben könnten, halte ich für falsch.“ Es habe sich vielmehr insgesamt die innere Verfasstheit des Ostens und gerade auch der DDR durch die vielfältigen Ost-West-Kontakte verändert.


Michail Gorbatschow habe mit Perestroika und Glasnost neues Denken gewagt und legitimiert. Nicht er habe den „Untergang“ der Sowjetunion bewirkt, sondern Boris Jelzin. Die deutsche Einigung hält Genscher auch nicht für das wesentliche Verdienst Helmut Kohls, sondern für eine Folge konsequenter (auch sozialliberaler) Nato-Politik über den Harmel-Bericht von 1967, den KSZE-Prozess und die Nachrüstung.


Genscher skizziert abschließend eine „Zukunftsagenda“ mit den Punkten Europa, der Verwirklichung der „Charta von Paris“, einer globalen Friedensordnung als „Weltnachbarschaftspolitik“ sowie Abrüstung und Rüstungskontrolle. Das Buch ist ein wichtiges Dokument zu Genschers Außenpolitik, für die ihm die Nation zu Dank verpflichtet ist.