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Wie moderne Wissenschaft mit Tieren kommuniziert

Am Puls des Planeten

Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie, erklärt, wie moderne Wissenschaft mit Tieren kommuniziert.

Martin Wikelski15.09.2013

»?Das tierische Talent, Tsunamis, Erdbeben oder Vulkanausbrüche einige Zeit vorher anzuzeigen, haben wir jetzt zum ersten Mal systematisch getestet?« Wir können vom Weltraum aus so ziemlich alles auf der Erde beobachten. Wir können das Gras wachsen sehen, das Schwerefeld der Erde bestimmen, Ozon messen, Wellenhöhen der Ozeane bestimmen – jedoch nicht die wesentlichsten Komponenten des Systems Erde verstehen: Tiere. Aber Bewegung ist die Essenz des Lebens; während Sie diese Zeilen lesen, sind überall auf unserem Planeten Milliarden von Tieren auf Wanderschaft. Sie verbinden die entferntesten Gegenden auf Land und in den Ozeanen. Wandernde Tiere bieten den Menschen essenzielle Ökosystem-Dienstleistungen. Sardinen und Lachse ernähren uns, Fruchtfledermäuse bestäuben Mangos und pflanzen Bäume quer durch fragmentierte afrikanische Savannen, und Singvögel kontrollieren Pflanzenschädlinge in Europa.

Gleichzeitig richten unsere wandernden Lebensgenossen aber auch tierischen Schaden an: Bis zu einem Fünftel der Menschheit leidet jährlich unter Milliarden von Wanderheuschrecken, Blutschnabelweber vernichten bis zu 15 Prozent der Ernten im Sahel, Fledermäuse und Vögel verbreiten hochgefährliche Viruskrankheiten wie Ebola, Nipah und West-Nil-Fieber. Die Wildformen mancher domestizierten Tiere beherbergen Viren, die wie Maul- und Klauenseuche große wirtschaftliche und gesundheitliche Bedrohungen darstellen. Doch bisher können wir in den meisten Fällen nicht nachvollziehen, wie Tiere sich auf der Welt bewegen. Sogar die größten Säuger, Wale, verschwinden immer noch für Teile des Jahres an unbekannten Orten des Globus, und von den geschätzten zehn Milliarden Vögeln, die jährlich auf ihrer Wanderschaft sterben, wissen wir nur von den wenigsten, was ihnen widerfahren ist und wie wir ihnen besseren Lebensraum bieten könnten. Aristoteles dachte noch, Schwalben überwintern im Sumpf. Heutzutage wissen wir zwar einiges besser, haben aber immer noch keine Ahnung, wie Schwalbenpopulationen reguliert werden. Oder warum es bei uns immer weniger gibt.

 Vernetzung globalen Lebens

Um diese enormen Wissenslücken zu schließen, fördert die Deutsche Luft- und Raumfahrtagentur zusammen mit der russischen Raumfahrtagentur Roskosmos das von der Max-Planck-Gesellschaft und der Universität Konstanz getragene ICARUS-Projekt. Die globale „International Cooperation for Animal Research Using Space“, 2002 gegründet von einer Gruppe internationaler Wissenschaftler, hat sich zum Ziel gesetzt, eine satellitenbasierte Systemtechnik zur lebenslangen Beobachtung auch kleinster Tiere zu etablieren.

Die grandiose Idee des deutschen Naturforschers Alexander von Humboldt von der „Beobachtung der Vernetztheit der globalen Lebensvorgänge“ wird nach zwei Jahrhunderten damit Wirklichkeit, denn mit der Anwendung modernster Kommunikationstechnologie in der Naturbeobachtung ist es erstmals möglich, Technik und Natur problemlos zu vereinen: Winzige Tiere, sogar Insekten, werden dafür mit kleinsten „Fahrtenschreibern“ ausgestattet. Diese Minisender senden ihre Daten in Echtzeit an „Movebank“, eine globale Datenbank und „modernes Museum“ für Tierbewegungen. Damit erhält die Menschheit eine Art „Blindenhund“: Endlich können wir Menschen mit wilden Tieren kommunizieren und durch ihre Sinne, die seit Jahrmillionen evolviert sind, ein Verständnis für das Leben auf der Erde erwerben, das unser Leben bereichert und erleichtert. Wie viel besser wird es uns als Menschheit gehen, wenn wir nicht nur lokale Spürhunde einsetzen, sondern uns weltweit auf die Hilfe von tierischem Wissen verlassen können: in der Klimavorhersage (wie beim „Kalenderwurm“ der alten Inkas), in der Katastrophenvorhersage (wie bei den von Ovid beschriebenen Wachgänsen oder dem Kanarienvogel im Kohlebergwerk) oder den Trinkwasser-Indikatorfischen. Für den Winter 2015 ist geplant, ein neues experimentelles Beobachtungssystem für kleine Objekte auf dem russischen Segment der Internationalen Raumstation ISS zu etablieren. Technisch ist dies eine große Herausforderung, denn die Fahrtenschreiber der Tiere sollen sich mit minimalstem Energieaufwand auf der ISS melden und dort einen Teil ihrer Daten abliefern.

Vögel tragen die anfangs zirka fünf Gramm schweren Geräte normalerweise als Rucksack, Säugetiere eher als Ohrclip oder als Hals- oder Armband. In jedem Fall muss möglichst viel Energie aus Solarzellen gewonnen werden, damit die Individuen idealerweise ein gesamtes Leben beobachtet werden können. Die Fahrtenschreiber werden zirka alle fünf bis 30 Minuten einen GPS-Punkt aufnehmen und zudem minütliche 3-D-Beschleunigungsmessungen durchführen, aus denen sich das individuelle Verhalten der Tiere rekonstruieren lässt. Frisst das Individuum? Fliegt oder schwimmt, kämpft oder schläft es? In naher Zukunft werden auch Herzratenfunktionen, Körpertemperatur und andere physiologische Parameter in die Fahrtenschreiber integriert werden, um den Gesundheitszustand des Tieres zu beobachten. Nebenbei können die Tiere auch Daten aus ihrer Umwelt messen, zum Beispiel Windgeschwindigkeit, Ozon, CO2 oder den Salzgehalt des Ozeanwassers – alles Parameter von hohem Interesse zum Beispiel auch für Klimamodelle. Besonders praktisch ist diese Technik für Gegenden, in denen wenige oder gar keine Bodenstationen vorkommen. Durch den Technologieschub dieser Entwicklungen wird sich in kurzer Zeit eine weitere Miniaturisierung der Fahrtenschreiber ergeben, das Gewicht der Fahrtenschreiber wird vermutlich etwa alle zwei bis vier Jahre halbiert werden können.

Ein wesentlicher Bestandteil des globalen Tierbeobachtungssystems wird auch die Vorhersage von Naturkatastrophen sein. Das tierische Talent, Tsunamis (Elefanten, Seeschlangen), Erdbeben (Kröten und Schlangen) oder Vulkanausbrüche einige Zeit vorher anzuzeigen, haben wir jetzt zum ersten Mal systematisch getestet und konnten am Beispiel von halbwilden Ziegen am Vulkan Etna in Sizilien zeigen, dass sie tatsächlich schon Stunden vor größeren Ausbrüchen ihr Verhalten signifikant änderten. Eine Patentanmeldung für „Ziegen als Anzeiger für Vulkanausbrüche“ ist bereits eingereicht, sie soll vor allem zeigen, wie wertvoll die von Tieren kommunizierte Information über unsere Welt sein kann.

Die weltweit gesammelten Daten dienen sowohl der Wissenschaft als auch allen anderen Interessierten und erlauben das unmittelbare Auffinden der Tiere in der Natur. Dafür entwickeln wir gerade eine „App“, die anzeigt, wo man sich selbst befindet und welche besenderten Tiere sich im Umkreis aufhalten. Hiermit können Tiere wie zum Beispiel die Waldrappen besser vor illegalem Abschuss geschützt werden. Gleichzeitig werden auch Menschen mit Wildtieren und derem Verhalten vertraut gemacht, die bisher nur sehr wenig Zugang zur Natur hatten. Kinder sind für solche Neuheiten besonders aufgeschlossen, sie lieben die Verbindung modernster Kommunikationstechnik, Natur und den Lebensgeschichten von Tieren.

Dank dieser Technik macht Tierbeobachtung noch mehr Spaß. Oder um mit Humboldt zu sprechen: „Wissen und Erkennen sind die Freude und die Berechtigung der Menschheit“.

Zur Person:
Prof. Dr. Martin Wikelski (RC A81-Bodensee-Engen) ist Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell am Bodensee und Professor für Ornithologie an der Universität Konstanz. Er erforscht als Ökologe die Wanderbewegungen von Tieren.


Martin Wikelski

Prof. Dr. Martin Wikelski (RC A81) ist Geschäftsführender Direktor am Max-Planck Institut für Ornithologie in Radolfzell am Bodensee und Professor für Ornithologie an der Universität Konstanz. Er erforscht als Ökologe die Wanderbewegungen von Tieren weltweit.

www.orn.mpg.de