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Moocs

Die Revolution in der Online-Bildung

Christoph Drösser14.05.2013

Die Vorlesung ist eine Institution aus der Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks. Damals musste der Gelehrte seinen Studenten tatsächlich etwas vorlesen, denn die handgeschriebenen Bücher waren kostbare Einzelstücke. 500 Jahre später ist die Vorlesung nach wie vor die dominierende Lehrform an den Hochschulen. Manchem Dozenten gelingt es dabei, sein Auditorium zu fesseln und mitzureißen. Bei anderen macht sich Gähnen breit: Das sind jene, die seit zehn Jahren die gleichen Vorträge herunterbeten und garantiert immer an denselben Stellen dieselben Scherze einbauen. Aber ist das die beste Form des Lernens? Die Vorlesung findet immer zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort statt. Sie geht linear vom Anfang zum Ende, und das Tempo bestimmt der Lehrende. Man kann ihn nicht anhalten, um einen Gedanken in Ruhe nachzuvollziehen, oder ihn gar bitten, eine schwierige Passage noch einmal zu wiederholen.

Wandel der Gewohnheiten

Die Studenten von heute sind digital natives, sie sind mit dem Internet aufgewachsen, und sie sind es gewohnt, dass sie im Netz Informationen jederzeit abrufen können. Schon dass die Tagesschau zu einer bestimmten Zeit anfängt, hat für sie etwas Unnatürliches. Kein Wunder also, dass sich diese Studenten von heute in Scharen einer neuen Lehrform zuwenden, die der traditionellen Vorlesung zunehmend Konkurrenz macht: In den sogenannten Moocs (Massive Open Online Courses) spricht der Professor per Bildschirm zu ihnen, ihm lauschen nicht nur die 200 angehenden Akademiker, die in einen Hörsaal passen, sondern 20.000 Hörer und mehr. Die Studenten sind über die ganze Welt verteilt, jeder schaut sich das Unterrichtsvideo an, wann er Lust dazu hat. So ist das Internet dabei, nicht nur das gesamte Kommunikationsverhalten auf dem Planeten zu revolutionieren, sondern auch die höhere Bildung. Und die Universitäten machen mit – die besten Hochschulen der Welt stellen die besten Vorlesungen und Seminare ihrer besten Professoren ins Netz, und überall rund um den Globus können Wissbegierige nun die Kurse verfolgen, ihren Lernfortschritt mithilfe von Tests bemessen und zuletzt sogar ein Zertifikat erwerben. Und das alles kostenlos, allenfalls für die Prüfungen ist ein moderater Preis zu entrichten. Bildung, so die Essenz dieser Bewegung, ist nicht mehr an den Besuch einer Universität gekoppelt. Was ist da los? Eliteanstalten, bei denen die Ausbildung eine sechsstellige Dollarsumme kostet, geben plötzlich ihre wertvollsten Schätze kostenlos her? Droht den Hochschulen jetzt die Pleite? Oder wird da gerade eine Erfolgsstrategie sichtbar, die der Welt – nach dem Vorbild von Google und Wikipedia – massenhaft Wissen verfügbar macht? Tatsache ist: Es herrscht Goldgräberstimmung bei den Unternehmen der Online-Bildung. Venture-Kapitalisten investieren Millionensummen, aber auch die altehrwürdigen Universitäten, zunächst vor allem in den USA, stecken Geld in den neuen Trend. Als Auslöser der Mooc-Welle gilt der ehemalige Hedgefonds-Manager Salman Khan. Der stellte 2006 kleine Mathematik-Lehrfilmchen auf YouTube – für eine Cousine, die Mathe-Probleme hatte. Weil er offenbar ein Händchen dafür hatte, wuchs die Zielgruppe binnen kurzer Zeit von einer Person zunächst auf Tausende, dann auf Millionen, die seine kostenlose Nachhilfe in Anspruch nahmen. Heute bietet die Khan Academy Kurse in allen Fächern an. In 20.000 amerikanischen Klassenzimmern wird bereits mit ihren Videos gearbeitet.

Im Jahr 2011 sah Sebastian Thrun einen Vortrag von Khan. Thrun ist Professor für Künstliche Intelligenz (KI) an der Universität Stanford und Leiter der Forschungsabteilung von Google. Er entschloss sich, seinen Universitätskurs auch online anzubieten. Voll Zuversicht rechnete er mit 10.000 Teilnehmern – es wurden schließlich 160.000. Thrun legte daraufhin seine akademische Tätigkeit auf Eis und gründete die Firma Udacity, die mit den neuen Onlinekursen Geld verdienen will.

Neues Lernen – und Lehren

Ein Mooc ist mehr als ein reiner Vorlesungsmitschnitt. Die Videos sind kürzer, selten länger als 15 Minuten. Dazwischen werden dem Studenten am Computer ständig Verständnisfragen gestellt – so kann er kontrollieren, ob er dem Stoff auch wirklich folgt. Außerdem können sich die Studierenden in Online-Foren austauschen und sich gegenseitig helfen. Ursprünglich wurden vor allem Kurse in naturwissenschaftlichen Fächern angeboten, inzwischen umfasst das Spektrum auch geisteswissenschaftliche Kurse aus Geschichte, Kunst und Literatur. Parallel zu Thrun gründeten zwei weitere Stanford-Professoren, Daphne Koller und Andrew Ng, die Firma Coursera, die heute die meisten Kurse im Programm hat. Und an der amerikanischen Ostküste gingen die Traditionsuniversitäten Harvard und MIT einen anderen Weg: Sie investierten 60 Millionen Dollar und gründeten ein Non-Profit-Unternehmen namens edX für die Vermarktung ihrer Onlinekurse. Aber auch diese Firma soll Geld verdienen. Die Frage ist: Wie geht das, wenn man die Kurse weiterhin kostenlos anbieten will, wie alle drei Rivalen unisono versichern? Man hofft auf mehrere Quellen: Erstens Gebühren für Prüfungen, die man zunehmend anbietet. Die Preise sind für den Prüfling erträglich, liegen unter 100 Euro pro Zertifikat. Für den Anbieter soll aus vielen kleinen Beträgen ein Gewinn werden. Zweitens: Lizenzierungen – die Software erlaubt es, Versionen der Kurse auch für einen engeren Nutzerkreis zu erstellen. So kann eine Universität oder eine Firma gegen Gebühr einen Kurs lizenzieren, um ihre Studenten oder Mitarbeiter gezielt zu schulen. Und drittens hofft man, dass Firmen an den Absolventen der Kurse interessiert sind und sich die Vermittlung geeigneter Fachkräfte auch Geld kosten lassen. Alle drei großen Mooc-Anbieter machen Geschäfte mit den Daten ihrer Teilnehmer, allerdings nur, wenn die Studierenden eingewilligt haben. So könnte sich dann eine deutsche Firma Adressen von Absolventen eines bestimmten Kurses im Großraum München besorgen und online deren Lebenslauf abrufen. Bezahlt wird nach erfolgreicher Vermittlung. Aber kann ein Onlinekurs überhaupt aussagekräftige Zeugnisse ausstellen? Ist dem Pfusch und dem Betrug da nicht Tür und Tor geöffnet? Abgesehen davon, dass auch im wirklichen Leben viel betrogen wird: Die Veranstalter mühen sich, für die kostenpflichtigen zertifizierten Prüfungen betrugssichere Lösungen zu finden: So geht der Prüfling beispielsweise in ein Testcenter in seiner Nähe, wo er unter Aufsicht an einem Computer sitzt. Die Firma Coursera bietet auch Prüfungen für zu Hause an: Der Student identifiziert sich über seine Computerkamera mit einem Ausweis plus Foto, und per Software können die Tester feststellen, ob er etwa nebenbei noch ein Wikipedia- oder Google-Fenster geöffnet hat. Während die USA vom Hype um die Moocs erfasst worden sind, ist es in Deutschland bislang eher ruhig geblieben. Zwei deutsche Universitäten bieten bereits Kurse auf ihren eigenen Seiten an: Das Hasso-Plattner-Institut der Universität Potsdam und die Leuphana-Universität in Lüneburg. Die Technische Universität und die Ludwig-Maximilians-Universität in München haben ein Abkommen mit dem Anbieter Coursera geschlossen und werden bald die ersten Kurse veranstalten. Einen gewissen Schub erwartet sich der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft von einem Wettbewerb, den er im März angeschoben hat: Professoren, die innovative Onlinekurse entwickeln wollen, können sich um Produktionshilfe bewerben – zehn Ausgewählte sollen je 25.000 Euro erhalten, im Juni werden die Preisträger verkündet. Hinter dem Wettbewerb steckt die Firma iversity, die laut ihrem Geschäftsführer Marcus Riecke fest entschlossen ist, „das deutsche Coursera“ zu werden. Während Investoren vom großen Geschäft mit den Moocs träumen, beharren die Gründer auf ihrer Vision der kostenlosen Bildung für alle. Es ist kein Zufall, dass die amerikanischen Bildungsrevolutionäre alle Einwanderer in der ersten oder zweiten Generation sind, die Bildung als ein internationales Menschenrecht begreifen. In diesem Spannungsfeld wird sich die Zukunft der Online-Bildung entscheiden, von der die Moocs nur der Anfang sind.

Christoph Drösser
Christoph Drösser ist Redakteur im Ressort Wissen der „Zeit“. Bekannt ist er u.a. durch seine Kolumne „Stimmt's?“, in der er Fragen der Leser nach Legenden des Alltags beantwortet und die auch im Radioprogramm der NDR und des RBB läuft. Zu seinen zahlreichen Büchern gehört u.a. „Der Logikverführer. Schlussfolgerungen für alle Lebenslagen (Rowohlt, 2012 ). 2005 wurde er vom Medium Magazin zum Wissenschaftsjournalisten des Jahres gewählt. www.zeit.de