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Bildungsspecial

Neue Schüler verzweifelt gesucht

15.05.2014

An einer staatlichen Schule im Landkreis Dahme-Spreewald meldeten sich immer weniger Schüler an – es drohte sogar die Schließung. Da entschloss man sich zu einem ungewöhnlichen, ja  fast verzweifelten Schritt: Für jeden neuen Schüler, hieß es auf dem Infoblatt, gebe es ein „Begrüßungsgeschenk im Wert von 50 Euro“ sowie eine jährliche Erstattung von Bus- und Büchergeld ab der künftigen 7. Klasse. Eine Schule in der Eifel, der Schüler fehlten, legte ebenfalls einen Köder aus: 500 Euro Prämie gebe es für Eltern, die Kinder neu anmeldeten, berichtete der Trierische Volksfreund.

Einzelne Anekdoten? Mitnichten, höchstens besondere Ausreißer in einem mittlerweile bundesweit stattfindenden, beinharten Konkurrenzkampf. „Überall da, wo Schülerzahlen sinken, ist mehr Wettbewerb entstanden“, sagt Florian Becker, Pressesprecher des Verbandes der Privatschulen (VdP), und nennt vor allem die ländlichen Regionen der fünf östlichen, aber auch der nördlichen West-Bundesländer. So wurden seit 1990 in Brandenburg bereits 230 von einst 450 weiterführenden Schulen und rund 200 von 650 Grundschulen geschlossen. Der Osten Deutschlands ist dabei nur Vorreiter einer Entwicklung, die auch im Westen immer schärfer werden wird.

Dass Schulen untereinander konkurrieren, ist nicht neu. Sie unterliegen als Dienstleistungsunternehmen den Gesetzen des Wettbewerbs – ob sie wollen oder nicht. Die Zeiten, da die nächste Schule automatisch die beste war, sind mit dem wachsenden Interesse der Eltern an Lerninhalten und Pädagogik und der kritischen Diskussion über die Bildungslandschaft schon lange vorbei. Doch nun verschärft sich der Wettbewerb – es geht nicht mehr nur um das bessere Konzept, sondern um jeden Schüler. Vor allem staatliche Schulen, die sich bisher um ihren Fortbestand keine Sorgen machen mussten, arbeiten deswegen heute an ihrem Image, schärfen ihr Profil und betreiben intensive Öffentlichkeitsarbeit. Eine Schule ohne  Homepage hat schon verloren, Informationsabende werden mit Musikeinlagen der Schüler verziert, gerne gibt es auch Präsentationen der Einrad-AG, der Jonglierklasse oder dem Breakdance-Kurs.

PRIVAT NICHT GLEICH ELITÄR

Denn die Konkurrenz ist nicht nur zwischen den staatlichen Schulen hart. Privatschulen, oder wie es korrekt heißt, öffentliche Schulen in freier Trägerschaft, erfreuen sich nicht nur in Sachsen höchster Beliebtheit, wo deren Schülerzahl in den letzten fünf Jahren um 50 Prozent auf 3000 gestiegen ist – bundesweit sind Neugründungen mit freien Trägern auf dem Vormarsch. In Brandenburg stieg die Anzahl der freien Schulen von 55 im Jahr 2000 auf 191 im Schuljahr 2012/13.

Dabei sind freie Schulen keineswegs immer eine Entscheidung gegen das staatliche Angebot, sondern vielmehr der Versuch, überhaupt ein Angebot in einem Ort mit schwindender Einwohnerzahl zu erhalten. „Das sind keine elitären Einrichtungen, sondern Ergebnisse echten Bürgerengagements“, sagt VdP-Sprecher Becker. Und dieses Ergebnis, die neuen Schulen, komme nicht nur den Kindern zugute, sondern auch den Ortschaften, weil Schulen eben auch Infrastruktur verbürgen. Darüber hinaus könnten freie Träger wendiger und effizienter arbeiten, sagt Becker. Schließlich stehen sie unter hohem Druck, sie müssen sich größtenteils selbst um die Finanzierung kümmern. Staatlichen Schulen fehle diese Flexibilität, weil alles zentral gesteuert sei. Den Wettbewerb um Schüler sieht er gelassen: „Private Schulen werben für sich über ihre pädagogische Profilierung.“ Marketingmaßnahmen? „Allenfalls indirekt, durch Geschwisterrabatte etwa.“ Schließlich zeigten die Erfolge der Privatschulen, dass man offenbar biete, was Eltern wollen: mehrsprachigen Unterricht, bessere Lehrerschlüssel, individuelle Förderung.

Der Politik, die um ihr bisheriges Bildungsmonopol bangt, ist diese Entwicklung des privaten Sektors nicht geheuer. Mitunter versuchen deswegen auch Landesregierungen in den Wettbewerb einzugreifen  – gegen die Privatschulen. Die vielen Neugründungen bedeuteten eine „Kannibalisierung“ staatlicher Einrichtungen, wetterte unlängst Sachsens Kultusminister Roland Wöller und blies zur Attacke. Sein Ziel war der empfindlichste Punkt der privaten Anbieter, die Finanzierung. Erst nachdem betroffene Eltern und Gründer massiv protestiert hatten, und Oppositionsabgeordnete beim Bundesverfassungsgericht klagten, ließ Wöller von seinem Vorhaben ab.

KRITIK AN DEN AUSWÜCHSEN

Manche kritisieren die Auswüchse des Konkurrenzkampfes. Über Werbeaktionen wie die der Schule im Landkreis Dahme-Spree kann Günther Fuchs vom GEW-Vorstand Brandenburg nur den Kopf schütteln. Er betont die Verantwortung des Landes zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Dazu gehöre die Bereitstellung staatlicher Schulen. „Es kann nicht sein, dass staatliche Schulen schließen und private das auffangen.“ Wenn der Wettbewerb zur Profilbildung führe, sei das sinnvoll. Doch der Konkurrenzgedanke an sich sei falsch. Es gehe darum, unterschiedliche Angebote und damit Wahlmöglichkeiten zu schaffen. „Wir haben zu viele Schulformen und zu wenig Schüler“, sagt er und mahnt eine „vernünftige Pluralität“ an. „Vom Wettbewerb allein werden es ja nicht mehr Schüler.“

Es geht ja auch ohne finanzielle Köder und überbunte Info-Abende. Werner Munk etwa, Schulleiter der staatlichen Kreuzberger Reinhardswald-Grundschule, setzt seit Jahren auf das Alleinstellungsmerkmal, das Schulen sich eben erarbeiten müssten, „und zwar bis sich Eltern dafür interessieren.“ Nicht um Schüler, sondern um bessere Konzepte gelte es zu konkurrieren, und das sei ein hartes Stück Arbeit, in dem keine Tricks wirkten. „Von einem guten Ruf kann man nur ein paar Wochen leben.“ Seine Schule hat großen Zulauf, zwischen 60 und 100 Anfragen muss er pro Schuljahr enttäuschen. „Gute Schule ist kein Hexenwerk, das kann jeder nachmachen.“ Eine zweite Fremdsprache anbieten, nennt er einen häufig geäußerten Elternwunsch, „das kann doch jede Schule!“

Er sieht deswegen auch keinen Grund, Eltern zu hofieren. „Die Mehrheit der Eltern übt bescheidene Zurückhaltung“, sagt der Schulleiter. „Ich mach noch nicht mal einen Tag der Offenen Tür.“ Beim Info-Abend warnt er sogar Interessierte davor, sich per Scheinummeldung in den Einzugsbereich der Schule mogeln zu wollen. „Ich lasse das nicht durchgehen“, betont er.

Viele Eltern sind zudem unsicher, haben Angst, die falsche Entscheidung zu fällen. In der Studie „Eltern unter Druck“ der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Jahr 2008 heißt es: „Vor allem in der bürgerlichen Mitte sind die Belange der Schule zum beherrschenden Thema des Familienlebens geworden.“ Die Studie konstatiert ein „Leiden an Schule“. Sie offenbart, wie viel Unruhe es unter Eltern gibt und welche zentrale Rolle die Schule dabei spielt.

DAS BESSERE KLIMA

Denn die Wunschliste, die die Schulen erfüllen sollen, ist lang. Andreas Wegener, Geschäftsführer der Privaten Kant-Schule in Berlin, kennt die Erwartungen der Eltern aus den Aufnahmegesprächen. Das Wichtigste sei die individuelle Entfaltungsmöglichkeit des Kindes, danach folgen Ganztagsbetrieb, Angebote wie Englischunterricht ab der ersten Klasse, musische, kreative, sportliche AGs, Hausaufgaben-Erledigung möglichst in der Schulzeit, Verlässlichkeit und kein Unterrichtsausfall, keine bürokratischen Verfahren, kurze Informationswege zwischen Eltern und Lehrern und nicht zuletzt ein reibungsarmes Verhältnis zwischen Elternhaus und Schule. Denn vieles von der Liste leisten mittlerweile auch staatliche Schulen, doch bei der Atmosphäre hakt es hier oft. „Privatschulen sind pädagogisch nicht besser. Unumstritten ist aber, dass an Privatschulen ein besseres Klima herrscht und die Eltern zufriedener sind“, sagt der Bildungsökonom und Privatschulkritiker Manfred Weiß. Die Zufriedenheit der Eltern allerdings sei ein Qualitätsmerkmal, das in der Bildungsforschung bislang kaum eine Rolle spiele, dort geht es meist um messbare Leistung.

Andere Bildungsökonomen sehen zudem in der privaten Konkurrenz nicht nur einen Anreiz für einige staatliche Schulen, besser zu werden. „Privatschulen sind eine Flut, die viele Boote hebt.“ Ludger Wößmann, Bildungsökonom an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Schulen in freier Trägerschaft waren oft Vorreiter gesellschaftlicher Entwicklungen, die dann später auch in der staatlichen Schule ankamen. Von freien Trägern kamen die Impulse, auch Mädchen, ganztätig oder reformpädagogisch zu unterrichten: Altersmischung, fächerübergreifender Unterricht, Freiarbeit, binnendifferenzierter Unterricht, verbale Beurteilungen statt Noten in den ersten Klassen – viel davon haben staatliche  Schulen längst kopiert. Der begehrte Deutsche Schulpreis der Robert-Bosch-Stiftung, um den sich seit 2006 schon 1500 Schulen beworben haben, wurde bisher fast ausnahmslos an staatliche Schulen vergeben. Gewinner dieses Wettbewerbs sind damit offenbar vor allem die richtigen: die Kinder.

Von Gerlinde Unverzagt ist Publizistin und Journalistin. Sie schreibt über Konfl ikte in sozialen Beziehungen, insbesondere über Erziehungs- und Partnerschaftsprobleme. 2010 erschien „Eltern an die Macht. Warum wir es besser wissen, als Lehrer, Erzieher und Psychologen“ (Ullstein).