https://rotary.de/clubs/distriktberichte/auf-sucht-programmiert-a-25190.html
Hanau

Auf Sucht programmiert

Hanau - Auf Sucht programmiert
Plakat zur Vortragsreihe © Ellen Atzler

Kinder und Jugendliche sollten bis zum 16. Lebensjahr keinen eigenen Zugang zu kommerziellen Social-Media-Diensten haben.

16.04.2025

Das haben Referentinnen und Referenten im rotarischen Jahresprojekt 2024/25 des Rotary Clubs Hanau unter Hinweis auf die konsekutiv negativen Folgen der Reizüberflutung durch Social Media auf die Gehirnentwicklung gezeigt. Unter dem Titel "Hilfsmittel digitale Medien – Wo ist mein Weg?" hat der Club über das ganze rotarische Jahr hinweg die allgemeine Öffentlichkeit zu insgesamt zwölf Fachvorträgen eingeladen. Zudem wird zur Inhaltsverdichtung unter dem Titel "Kompass Digital" mit dem jeweils ausgewiesenen Spezialisten ein Podcast auf allen gängigen Plattformen veröffentlicht. 

Die Initiative wie auch die Konzeption des Projekts ging vom diesjährigen Präsidenten des RC Hanau, Chefarzt Dr. Wolfgang Ditzen, sowie dessen Ehefrau, der Pädagogin Eva Bollandt-Ditzen, aus. 

Zu den monatlichen Vorträgen sind jeweils bis zu 80 interessierte und bisweilen betroffene Eltern, Großeltern, Schüler, Lehrer, lokale Unternehmer wie auch Politiker erschienen. Bürgermeister Dr. Maximilian Bieri hat für das Jahr 2025 die Schirmherrschaft über die Reihe übernommen. Zudem freuen sich die beiden Initiatoren, dass sich auch der hessische Kultusminister Armin Schwarz unlängst der Thematik angenommen hat und Impulse zur Medienkonsumreduzierung auf Bundesebene einbringt.

Tech-Konzerne kannibalisieren das Leben unserer Kinder

Die sogenannten Smart Devices oder Bildschirmmedien, so fassen die Initiatoren des Projekts zusammen, griffen zweidimensional in die komplexe, sich entwickelnde Hirnarchitektur der Kinder und Jugendlichen nachhaltig ein und hinterließen damit lebenslange, schädigende Spuren in den Gehirnen ihrer Nutzer. Das Smartphone fungiere als eine Art sich verschärfende Droge. Das kindliche Gehirn könne dagegen keine Abwehrmechanismen entwickeln. Die Anzahl internetsüchtiger Kinder und Jugendlicher steige enorm. Die von den Tec-Konzernen auf Sucht programmierten Geräte "kannibalisierten" das Leben von Kindern und Jugendlichen. Kreative Perioden der Stille, Langeweile und des Sinnierens entfielen. 

Als referentenübergreifendes Fazit stehe die generelle Empfehlung der Social-Media-freien Ausbildung in der Grundschule sowie in den ersten drei bis fünf Jahren in den weiterbildenden Schulen als auch ein wieder in den Vordergrundrücken analoger Beschäftigungen wie altersgerechtes Lesen, sportliche Aktivitäten, musische Bildung und ein größeres Angebot weiterer altersgerechter analoger Herausforderungen.

Reizüberflutung stört Entwicklung des Gehirns

Die Neurobiologin Prof. Dr. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt stellte als Fazit ihrer mittlerweile jahrzehntelangen Untersuchungen fest, dass die "sich in der Kindheit und Jugend allmählich herausbildenden systematischen Verschaltungen" des Gehirns auch topographisch im Gehirnzentrum des Hippocampus stehen, der in seiner Funktion vergleichbar mit einem "Sekretär" über schleifenartige Verschaltungen mit allen Hirnregionen kommuniziert und somit in alle Hirnaktivitäten von Anfang an eingebunden ist. Die im Laufe einer gesunden Entwicklung zunehmenden dreidimensionalen Erfahrungen werden hierbei in physiologischen Dosen von Dopaminausschüttung als "Belohnungsmoment" zurückgekoppelt und tragen somit als Reifungsanreiz an alle Hirnareale zur zunehmenden Ausgestaltung der Gehirnentwicklung bei.

Besonders langsam, nämlich bis zum 25. Lebensjahr, reifen die Rindenfelder des für das Denken benötigten Stirnhirns in unterschiedlichen Stufen heran. 

Sehen Sie hier die Plakate zur Veranstaltungsreihe – einfach anklicken!

Am unteren Stirnhirn reift die Kontrolle zur Angstbewältigung bis zum siebten Lebensjahr, im mittleren Frontallappen die Kontrolle zur Konfliktlösung bis zum 14. Lebensjahr und im oberen Stirnhirn die Exekutive zur Problemlösung, Abstraktions- und Durchhaltevermögen sowie Bedürfnisaufschub und Selbstdisziplin bis zum 21. Lebensjahr.

Diese mit der normalen Kindheits- und Jugendentwicklung einhergehende, konstant langsam "tropfenartige" physiologische Belohnungserfahrung im Hippocampus, also dem Sekretär, wird durch die digitalen Medien einer zentralen, einfach auslösbaren "Reizüberflutung" mit Belohnungsbotenstoffen (Dopamin) ausgesetzt.

Eine Partyzone im Gehirn

Laut dem Diplom-Pädagogen Eberhardt Freitag können somit diese Digitaleinflüsse auf eine Kontrollzone im Gehirn Einfluss nehmen, die sich während der Pubertät und darüber hinaus noch lange im Wachstum befindet. Durch die Dauerbefeuerung mit digitalen Eindrücken und die sich aneinanderreihenden, durch Algorithmen erzeugten Belohnungserfahrungen entsteht im zentralen Gehirn um den Hippocampus herum im übertragenen Sinne eine "Partyzone", die Jugendlichen naturgemäß gefalle, nicht zuletzt, weil die Belohnungserfahrungen im digitalen Raum leicht zu erreichen sind.

Das reale Leben wirkt langweilig

Das Gefährliche: Seltenere Dopaminausschüttungen im realen Leben führen dazu, dass beispielsweise Schulunterricht oder die Arbeit bei der Jugendfeuerwehr nach Prof. Dr. Birgit Spies (Prof. für Medien und Psychologie) als vergleichsweise langweilig empfunden werden. Die "Leere" im analogen Leben steht schließlich einer als positiv empfundenen Dauerbefeuerung gegenüber. Hirnphysiologisch gesehen sind nach dem Biologen Prof. Dr. Martin Korte hierbei die in einem langen Entwicklungsprozess befindlichen Verschaltungsschleifen zwischen dem Hippocampus, dem Sekretär, und dem Stirnhirn sehr störanfällig und reagieren empfindlich auf negative Einflüsse von außen wie den Konsum bildschirmbasierter Medien. Kritisch sieht Korte hierbei ebenfalls den Umstand, dass weniger Zeit für wichtige, die Entwicklung fördernde analoge Tätigkeiten bleibt. 

Nach Prof. Dr. Dr. Teuchert-Noodt verkümmern die Verschaltungsschleifen graduell, das Stirnhirn erlangt lediglich eine "Notreifung", wenn das Belohnungssystem um den Hippocampus ständig in einer zentralen, verkürzten Dauerschleife mit Dopamin befeuert wird, somit ist diese Nervenimpulse beziehungsweise Transmitter verschlingende "Partyzone" laut Diplom-Pädagoge Eberhardt Freitag und Bildungswissenschaftler Nikolaus Franke dafür verantwortlich, dass die in dem analogen Reifungs- wie auch Verschaltungsprozess eingebundene periphere Hirnarchitektur und insbesondere das Stirnhirn regelrecht abgekoppelt werden.

Die Folgen eines früh einsetzenden und exzessiven Medienkonsums:

  • Einschränkungen/Veränderungen der Plastizität des Gehirns – ausgehend von einer zunehmend nur zweidimensionalen Erlebniswelt (Teuchert-Noodt, Spies, Korte)
  • Einschränkung der kognitiven Intelligenzentwicklung, Konzentrationsfähigkeit, der Fähigkeit des Bedürfnisaufschubs und der Selbstdisziplin (Teuchert-Noodt, Spies)
  • Verrohung, Vereinsamung, Abstumpfung durch Trennung von natürlicher menschlicher Beziehung, Verantwortung, Vertrautheit und emotional erfahrbarer, "erfüllender" Sexualität durch unkontrollierten Gewalt- und Pornokonsum (Freitag, Uffelmann-Kreis, Henninger)
  • Rückgang des Selbstwertgefühls und dadurch: exponentielle Zunahme von Depressionen, gerade bei Mädchen durch permanente Dauervergleichbarkeit über digitale, sogenannte virtuelle "Influencer-Einwirkungen" (Spies, Korte, Theissen, Franke)
  • Niedrigere Hemmschwelle zu kollektiver Ausgrenzung beliebiger Personen/Cybermobbing (Theissen, Freitag, Franke, Korte)
  • Erhöhung kriminellen Erpressungspotenzials wie zum Beispiel Sextortion (Uffelmann, Henninger)
  • Erhöhung aller physischen und psychischen Formen von Suchtverhalten (Theissen, Spies, Korte, Teuchert-Noodt, Freitag, Franke)

Lust auf Geltung wird unstillbar

Das naturgemäße Bedürfnis nach Aufmerksamkeit kann im digitalen Raum perfekt befriedigt werden, führt jedoch nach Erkenntnissen des Diplom-Pädagogen Freitag aufgrund der Flut von Posts und Nachrichten dazu, dass man sich immer gewagtere Fotos (Killfies) in riskanten Situationen ausdenken muss, um ein kleines Stück der begehrten Ressource "Aufmerksamkeit" zu bekommen. Den Wunsch nach Geltung haben die Tecfirmen schon längst detailliert und subtil erkannt und monetarisiert (Korte) – erneut zu Lasten der Kinder und Jugendlichen, die in ihrem Ringen um Anerkennung und soziales Ansehen viel zu geben bereit sind (Freitag).

Was zu tun ist, um Social Media den bereits errungenen Status als maßgebende Sozialisationsinstanz wieder zu entziehen:

  • bis 3 Jahre bildschirmfreie und medienfreie Umgebung
  • keine Smartphones, Smartwatches etc. in Grundschule wie auch die ersten drei bis fünf Jahre (Spies, Korte) in einer weiterbildenden Schule (Spies, Freitag Franke)
  • bis mindestens 14 Jahre bildschirm- und medienfreie Kinderzimmer (Spies, Freitag, Franke, Teuchert-Noodt);
  • frühestens ab 16 Jahren eigener Social-Media-Account mit konstruktiver elterlicher und schulischer Begleitung wie auch Funktions- und Zeitbegrenzung als Erziehungsmoment zur zunehmenden Ausbildung einer Medienmündigkeit (Spies, Freitag, Franke)
  • hierbei auch klare inhaltliche und zeitliche Grenzen (Freitag)
  • Medienzeit nicht als "Währung" einsetzen, zum Beispiel für gute schulische oder soziale Leistungen (Freitag)
  • unablässiges Animieren zu eigenem altersgerechten Lesen
  • vorlesen in regelmäßig wiederkehrenden Zeitfenstern (Teuchert-Noodt)
  • Smartphonefreie Zeit für alle Familienmitglieder, etwa bei gemeinsamen Mahlzeiten
  • Entfernung von Smartphones aus Schlaf- und Kinderzimmern, insbesondere vor dem Schlafengehen (Spies, Freitag, Franke, Korte)
  • Regeln der Mediennutzung, Schutz der Privatsphäre, zum Beispiel durch Führen eines Medientagebuchs, Bildschirmprüfung, Zeit für Stille (Korte, Freitag, Franke, Spies, Theissen, Teuchert-Noodt)
  • Klassen-/Schulvereinbarungen - phone free classes, phone free school (Freitag, Spies)
  • analoge Herausforderungen: dem Kind Dinge zutrauen, die es noch nie gemacht hat (Teuchert-Noodt, Spies, Freitag)
  • sportliche Aktivitäten und musische Bildung fördern (Teuchert-Noodt, Spie)
  • Zeit haben für Bedürfnisse, Gedanken, Ängste und Sehnsüchte der Kinder (Teuchert-Noodt, Freitag)

Denn: "Der Mensch ist die stärkste Droge für den Menschen – durch Wörter, Blicke und Körpersprache." (Joachim Bauer)

Dr. Wolfgang Ditzen und Eva Bollandt-Ditzen