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Man darf so kommen, wie man geworden ist

 - Man darf so kommen, wie man geworden ist
Brote schmieren, Verpflegungstüten packen - es gab viel zu tun in der Vesperkirche. © RC Stuttgart

Mit einem Hands-on-Projekt für Obdachlose, Arme und andere Bedürftige zeigt sich der Rotary Club Stuttgart.

01.04.2017

Mitten in der Stuttgarter Innenstadt öffnet von Mitte Januar bis Mitte März die Vesperkirche ihre Pforten. Sie war vor 23 Jahren die erste Vesperkirche bundesweit, deren Vorbild inzwischen viele nachgefolgt sind. Für Obdachlose, Drogensüchtige, Prostituierte, arme Rentner, einsame Menschen, überschuldete Familien gibt es in der kältesten Jahreszeit für sieben Wochen warmes Essen, ärztliche Versorgung, auch mal einen Haarschnitt und am Sonntag Kultur.

Die Vesperkirche finanziert sich zum großen Teil aus Spenden: Rund 260.000 Euro werden pro Jahr benötigt. Vor allem aber benötigt sie Förderer, Unterstützer, Sponsoren und das Engagement der ehrenamtlich Mitarbeitenden, die ihre Zeit und ihre Kraft den Gästen zur Verfügung stellen. Auch der RC Stuttgart zählt seit langem dazu. So trafen sich Anfang Februar die Freundinnen und Freunde, teilweise begleitet von ihren Partnerinnen und Partnern in der Leonhardskirche Stuttgart. Nach einführenden Worten durch eine Diakonin und eindringlichen Hinweisen zur Hygiene werden die Schichten für Kasse, Essen, Trinken und Geschirrausgabe eingeteilt. Auch wird gebeten, sich mal zu den Gästen zu setzen, um ins Gespräch zu kommen, ein Lächeln zu schenken. Dabei solle man sich vor Augen halten, daß viele von ihnen vieles schon sehr lange entbehrten, sowohl im Materiellen wie auch die Liebe anderer Menschen.

Der Dienst startet mit Broteschmieren und Vespertütenpacken. Die nächsten Arbeitsstationen sind die Essens- und Getränkeausgaben. 1,20 Euro kostet ein Mittagessen und nach der Bezahlung gibt es ein Besteck durch Freundin Hartmann, die die Kasse versorgt. Jeder, der etwas essen möchte, muß an ihr vorbei. Das ist der Moment, wo wohl jeder ins Grübeln kommt. „Man überlegt, was ist das Schicksal des Einzelnen? Wie ist er oder sie hierher gekommen und, wie kommen sie damit klar?“, erzählt sie. Das nach Bezahlung erhaltene Besteck ist heute die Eintrittskarte für Schweinebraten, Champignonrahmsauce, Nudeln und Salat. Die Gäste äußern individuelle Wünsche – meist die Bitte um mehr Nudeln oder eine vegetarische Portion. Die meisten Gäste sind höflich, sind freundlich, manche aber hat der ewige Kampf und das Gefühl von Ungerechtigkeit verbittert. Doch wohl fühlen sich alle. Denn Essen und Trinken bedeuten auch Gemeinschaft, die Erinnerung an die Familie, wo gemeinsam gegessen und erzählt wurde. Für viele Menschen ist dies eine der schönsten Erinnerungen, die sie haben.

Ein Ort für Menschen in Not

Am Nachmittag wird es ruhiger, einige Gäste machen in der Kirche sauber, die Menschen kommen ins Gespräch miteinander, ein wenig erschwert durch die Blechbläser, die für ihre Aufführung am späten Nachmittag noch üben. Doch genau so hatte es sich der inzwischen verstorbene Gründer der Vesperkirche, Pfarrer Martin Friz, erträumt – einen Ort zu schaffen, an dem die Menschen ihre Not, ihre Verzweiflung nicht verstecken müssen und ihnen zugleich Teilhabe an Kultur zu ermöglichen, wie an diesem Sonntagnachmittag bei einem Bläserkonzert. Ganz wichtig war ihm dabei der Kerngedanke, den er so beschrieb: „Man darf so kommen, wie man geworden ist und so darf man auch wieder gehen, das heißt, hier muß man nichts rechtfertigen, hier muß man nichts erklären, hier muß man nichts versprechen.“

Inzwischen packen die Freundinnen und Freunde und ihre Partnerinnen und Partner seit Stunden gemeinsam an. Alle lernten sich heute wieder ein bißchen näher kennen, Schulter an Schulter an der Essensausgabe, beim Broteschmieren, beim Aufräumen. Am Nachmittag gibt es kostenlos die am Vormittag gerichteten Vesperbeutel. Sie sind üppig gefüllt und zugleich nur leicht zugeknotet, weil sonst die eine oder andere müde, rheumatische, kaputte Hand sie nicht mehr öffnen könnte. Niemand soll in Stuttgart während der Vesperkirche-Wochen über Nacht hungrig bleiben. Als letztes müssen noch einige Freunde die Tische abräumen und für das Kulturprogramm Stühle hinstellen, dann ist das Hands-on Projekt beendet. Es ist gut gegangen, man hat sich bestens verstanden, hat Freude gehabt und gemeinsam gelacht, man hat etwas Sinnvolles getan und Menschen kennengelernt, mit denen man sonst nie in Berührung kommt. Mancher ist nun nachdenklich, mancher glücklich, mancher sogar euphorisiert. Der Vesperkirchentag endet wie immer mit einer Andacht und dem "Vater Unser" mit der Zeile:"Unser täglich Brot gib uns heute“.