Interview
Antisemitismus und Propaganda
Der ungelöste regionalpolitische Konflikt im Nahen Osten wurde in den letzten Jahren religiös aufgeladen, bis zum Terror der Hamas, sagt der Israel-Kenner Martin Engelberg.
Er kennt Israel aus vielen Perspektiven. Viele seiner Verwandten leben dort. In unzähligen Besuchen hat er mit Israelis und mit Palästinensern gesprochen, im privaten Umfeld und im Rahmen von politischen Missionen. Martin Engelberg hält den jüngsten Anstieg von Antisemitismus durchaus für politisch gewollt. Durch die Provokation Israels sei der Gaza-Krieg dafür von der Hamas bewusst ausgelöst und in Kauf genommen worden.
Kein Mensch auf der Welt bestreitet, dass der 7. Oktober absoluter Terror war. Trotzdem gibt es weltweit Demos gegen Israel. Sie sind Psychoanalytiker, wie erklären Sie sich diese Täter-Opfer-Umkehr?
Das ist einfach ganz bewusste Propaganda, die da der Hamas und ihren Sympathisanten gelingt. Dabei nimmt diese fundamental islamistische Terrororganisation, gesponsert vom Iran, die palästinensische Sache für sich in Geiselhaft.
Aber warum gibt es jetzt so viel Sympathie für die Palästinenser?
Es gibt eine große schweigende Mehrheit, die klar auf der Seite Israels steht. Ich glaube, dass die Solidarität mit Israel noch nie so groß war wie jetzt. Israel ist Teil der westlichen Welt. Aber es gibt lautstarke Gruppen an Sympathisanten mit arabisch-muslimischem Background, sehr links orientiert und antisemitisch, die sich da verbünden. Das ist sehr ideologisch geworden. Die Attentäter jetzt und die, die vor ein paar Jahren in Paris die jungen Leute in diesem Theater niedergemetzelt haben, und auch der Attentäter in Wien hatten alle den gleichen Background. Und wir haben gewisse Politiker, leider bis hin zum Uno-Generalsekretär, die in einer altlinken Denkweise verhaftet sind und der Sache damit nichts Gutes tun.
Die Frage ist aber, ist das Eintreten für die palästinensische Sache schon automatisch auch Antisemitismus?
Nein, das ist selbstverständlich richtig und möglich. Die Palästinenser haben einen legitimen Anspruch auf einen eigenen Staat. Das ist aber vollkommen getrennt zu sehen. Der Hamas geht es um die Zerstörung des Staates Israel und um die Vernichtung von Juden. Antisemitismus liegt dann vor, wenn Israel dämonisiert wird, wenn man dem Staat Israel die Existenzberechtigung abspricht und wenn drittens in einer Doppelbödigkeit für Israel andere Standards angewendet werden als für alle anderen Länder. Es gibt ja gerade in Israel auch politische Gruppierungen, die für Palästinenser demonstrieren und sie unterstützen. Das ist legitim und in einer Demokratie auch wichtig und gut. Aber wir dürfen nicht in die Falle gehen, Hamas und palästinensische Anliegen zu vermischen.
Nun ist der Antijudaismus ja Jahrhunderte alt, es geht aber nicht immer um die Ablehnung des Judentums im religiösen Sinne. Das heißt, wie sehr hat der Konflikt einen religiösen und wie sehr hat er einen regionalpolitischen Hintergrund?
Ich bin kein Koran-Spezialist, aber es gibt schon antisemitische Kapitel im Koran und es gibt im Islam auch eine Tradition des Antisemitismus, wenngleich Juden in muslimischen Ländern über viele Jahrhunderte zwar nicht gleichberechtigt waren, aber zumindest nicht verfolgt wurden, wie in europäischen Ländern. Aber jetzt geht es schon um eine politische Agenda, nämlich ob die Araber das Existenzrecht des Staates Israel akzeptieren können.
Ist es also mehr ein regionalpolitischer Konflikt oder ein religiöser Konflikt?
Meiner Meinung nach ist es ein regionalpolitischer Konflikt. Die arabische Welt wollte über viele Jahrzehnte unter keinen Umständen dulden, dass es diesen Staat gibt, und das ist in den letzten Jahren durch den Islamismus religiös aufgeladen worden. Es gab und gibt ja einen Friedensprozess, Ägypten und Jordanien haben schon vor Jahren Friedensabkommen mit Israel geschlossen haben, auch weitere arabische Staaten, und jetzt war Saudi-Arabien als zentraler Faktor gerade drauf und dran, ein solches Friedensabkommen zu schließen. Dieser Anschlag sollte genau das hintertreiben.
Die Welt schaut jetzt auf den Gazastreifen. Aber hängt das Geschehen dort nicht auch zusammen mit den Geschehnissen im Westjordanland? Unterfüttert die aggressive Siedlungspolitik radikaler Siedler im Westjordanland nicht auch den Zorn der Palästinenser in anderen Gebieten?
Das ist natürlich auch in Israel ein heiß diskutiertes Thema. Das berührt die Frage: Wem gehört das Westjordanland? Die letzte Nation, die einen legitimen Anspruch hat, ist Großbritannien, durch ein Völkerbundmandat 1920 für das Gebiet Palästina. Bei der Staatsgründung 1948 hat Jordanien das Westjordanland besetzt und annektiert, ohne gültigen Titel, Israel hat es 1967 besetzt, auch ohne gültigen Titel. Es ist heute die vorherrschende Rechtsansicht in Israel, dass man sagt, es ist ein umstrittenes Gebiet.
Auch wenn das historisch richtig ist, geht es nicht doch um die psychologische Frage, nämlich dass sich die Palästinenser mit dieser aggressiven Siedlungspolitik verdrängt fühlen, was dann auch auf den Gazastreifen abfärbt?
Wieder ein historischer Exkurs. Das ursprüngliche Mandatsgebiet Palästina umfasst das gesamte Gebiet von Israel, Westjordanland, Gazastreifen und ganz Jordanien. In den 20er-Jahren wurde von den Briten das Gebiet östlich des Jordans abgetrennt und es wurde Transjordanien gegründet, ein vollkommen neuer Staat. Der ist eigentlich ein palästinensischer Staat. 70 Prozent der Einwohner dort sind Palästinenser, auch wenn die Haschemiten die Regenten sind. Die Frau des Königs ist eine Palästinenserin. Weiters muss man berücksichtigen, dass 20 Prozent der Bevölkerung Israels Araber sind, und dann stellen sich die Israelis die Frage, warum können nicht 20 Prozent der Bevölkerung im Westjordanland Juden oder Israelis sein, wenn die da leben wollen? Das heißt, es müsste ein Staat Palästina, der da entsteht, auch tolerieren, dass sich Israelis dort niederlassen oder dort bleiben wollen, so wie es Araber gibt in Israel.
Es geht im Kern ja immer darum, wie gelingt ein Miteinander?
Zunächst haben die arabischen Staaten gesagt, wenn das Palästinenserproblem gelöst ist, dann können wir Frieden schließen. Weil aber viele Verhandlungen gescheitert sind, hat sich das gedreht. Vor allem die palästinensische Seite hat diese Verhandlungen immer wieder scheitern lassen. Dann haben die arabischen Staaten begonnen zu sagen, okay, fangen wir mal an mit dem Friedensschluss, dann werden wir irgendwann auch das palästinensische Problem lösen. Das heißt, weder kann Israel das lösen, noch der Westen. Es können nur die arabischen Staaten lösen. Es wird einen Staat Palästina geben. Aber Länder wie Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien müssen dort als Ordnungsmacht sicherstellen, dass eben keine Terrorstrukturen mehr entstehen. Es wird sicher über lange Zeit noch eine israelische Kontrolle über die Außengrenzen geben müssen und so weiter, und so kann sich dann vielleicht in vielen Jahren ein Nebeneinander entwickeln.
Es greifen aber auch die USA stark als Ordnungsmacht ein. Die haben im arabischen Raum nicht wirklich einen großen Vertrauensvorsprung. Kann das hilfreich sein in dieser Situation? Oder geht es nur um militärischen Druck?
Die starke Militärpräsenz der USA hat das Ziel, dass der Iran und die Hisbollah im Libanon ruhig halten. Aber ich sehe weder Israel noch die USA noch Europa als diejenigen, die mit den Palästinensern eine Lösung herbeiführen können. Das geht nur mit den arabischen Staaten. Die sind auch längst dieses Konflikts müde und wissen genau, es gibt für all diese Länder keine Zukunft ohne eine Partnerschaft mit Israel.
Sie haben in einem TV-Interview gesagt, die Uno agiert sehr unglücklich. Was meinten Sie damit?
Ich finde, die Uno nimmt da eine tragische Rolle ein. Sie wurde gegründet im Schatten des Holocaust und hat seit vielen Jahre eine sehr einseitige Haltung gegen Israel, weil sie, man kann sagen, in Besitz genommen wurde von den arabischen Staaten und von Dritte-Welt-Ländern. Man spricht heute bei den Ländern des globalen Südens von einem Kampf gegen die früheren Kolonialmächte und meint damit auch Israel. Das ist verrückt. Im Menschenrechtsausschuss wurde Israel mehr als doppelt so oft verurteilt wie alle anderen Länder dieser Welt zusammen, also auch Libyen und Syrien. Da bin ich sehr stolz auf die Haltung Österreichs, dass die Resolution in der Generalversammlung, die nicht imstande war, die Verbrechen der Hamas klar zu benennen, abgelehnt wurde. Die Enthaltung von Deutschland war da schon ein wenig merkwürdig.
Könnte die EU eine Vermittlerrolle einnehmen?
Die EU könnte dann eine Rolle spielen, wenn sie eine gewisse Glaubwürdigkeit wiedererlangte, vor allem gegenüber Israel. Aber leider nimmt sich Europa durch Uneinigkeit, nicht nur gegenüber Israel, sondern auch in vielen anderen Konflikten selbst immer mehr aus einer gestaltenden Rolle heraus.
Und könnte ein Land wie Österreich hier eine Rolle spielen?
Österreich hat in den letzten zehn Jahren so etwas wie eine Wende vollzogen in der Politik, was ich wirklich gut und sehr mutig finde. Österreich hat in den letzten Jahren die richtigen Worte gefunden und wir haben ja auch eine strategische Partnerschaft mit Israel unterschrieben. Wir werden heute in Israel als echte Partner und Freunde angesehen, und das nicht nur im historischen Kontext. Wir sind natürlich ein sehr kleines Land, wir sind militärisch neutral, aber nicht politisch-moralisch. Österreich ist es schon mehrfach gelungen, Achsen zu bilden, etwa innerhalb der EU oder wenn es um den Westbalkan geht. Und ja, ich könnte mir vorstellen, dass Österreich vielleicht auch in einer Gruppe von Ländern eine führende Rolle spielt, wenn es um den Nahen Osten geht.
Zumal aus Zeiten von Bruno Kreisky und Kurt Waldheim auch gute Verbindungen in den arabischen Raum bestehen oder bestanden haben.
Ich glaube, Österreich wird auch weiterhin im arabischen Raum als Partner und als kundiges Land angesehen. Also, wenn die EU das nicht leisten kann, würde ich mir wünschen, dass vielleicht Österreich mit einigen anderen Ländern eine entsprechende Partnerschaft bildet.
Bei pro-palästinensischen Demonstrationen in Europa sahen zuletzt viele, auch der Deutsche Vizekanzler Robert Habeck, einen importierten Antisemitismus. Haben die recht?
Ja, überhaupt keine Frage! Unser Nationalratspräsident Sobotka hat schon zweimal wissenschaftliche Umfragen in Auftrag gegeben, und da kommt zutage, dass der Antisemitismus bei Menschen mit türkischem oder arabischem Background rund doppelt so hoch ist wie im Rest der Bevölkerung. Wir haben beim traditionellen Antisemitismus aus meiner Wahrnehmung erfreulicherweise einen langsamen, aber doch klaren Rückgang. Demgegenüber steht einerseits die türkische Community. Die überwiegende Mehrheit der Moslems in Österreich haben einen türkischen Background. Da spielt Präsident Erdogan eine sehr unglückliche Rolle, indem er die Gegnerschaft zu Israel immer wieder befeuert mit einer religiösen Fanatisierung. Anderseits werden in Ländern wie Syrien oder Ägypten die klassischen alten europäischen antisemitischen Stereotype, wie Blutrünstigkeit, Kindermord und weitere gepflegt und jetzt mit den Flüchtenden sozusagen reimportiert.
Welche Auswirkungen wird das auf die Migrationspolitik haben?
Ich glaube, dass wir in ganz Europa vor diesem Problem stehen. Wir können das nicht weiter zulassen. Wir müssen strenger werden. Das betrifft nicht nur den Antisemitismus, sondern auch die Ablehnung des Staates, unserer Zivilisation, unseres Rechtssystems. In Berlin, in Neukölln, ist ein Fernsehteam herumgegangen und hat gefragt, was ist wichtiger, das staatliche Recht oder die Scharia, und da haben sehr viele gesagt, die Scharia. Wenn wir das zulassen, haben wir ein Problem. Das ist am schlimmsten aus meiner Sicht in Frankreich, wo auch bei der dritten, vierten Generation an Moslems keine Integration gelungen ist, zum Teil gibt es sogar eine Verschärfung der Radikalisierung. Das könnte zu einer unglaublichen Polarisierung führen, die wir alle nicht wollen.
Wie haben sich die jüngsten Ereignisse auf das jüdische Leben in Österreich ausgewirkt?
Es gibt neben der Betroffenheit auch Angst und Sorge. Man hört von Jüdinnen und Juden, die als solche erkennbar sind, dass sie bespuckt oder beschimpft werden und so weiter. Kinder erzählen davon, dass sie in normalen Schulen belästigt oder angegriffen werden.
Haben Sie selbst auch solche Erfahrungen?
Nein, also auf sozialen Medien passiert alles Mögliche, aber ich habe keine persönliche Erfahrung in der Richtung. Im Gegenteil, das Ausmaß an Sympathiebekundungen von Bekannten oder auch von Leuten, die ich nicht kenne, habe ich wirklich so noch nie erlebt, und das gehört auch anerkannt. Das sage ich auch in der jüdischen Gemeinde immer wieder, wir müssen beide Seiten sehen.
Wie ist die Situation in Osteuropa? Es gibt ja traditionell enge Verbindungen zwischen Österreich und den jüdischen Gemeinden dort.
Also, Ungarn hat, glaube ich, die viertgrößte jüdische Gemeinde in Europa. Ich habe nicht gehört, dass es in den mittel-osteuropäischen Ländern jetzt eine besondere Bedrohung gegeben hätte. Die haben natürlich auch kaum Moslems. Das ist eben die andere Seite der sehr restriktiven Zuwanderungspolitik zum Beispiel Ungarns. Ich sehe die große Sorge vor allem in Frankreich, wo ja die größte jüdische Gemeinde in Europa ist, auch in Großbritannien, Belgien, Schweden oder Deutschland.
Das Gespräch führte Hubert Nowak.
Zur Person
Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, Consultant und Coach, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group und Immobilienunternehmer. Seit 2017 Abgeordneter zum Nationalrat (ÖVP). Engagiertes Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) in Wien und Gründer der jüdischen Zeitschrift NU.