Interview
„Bei uns liebt man Träume“
Israel befindet sich im Krieg – wieder einmal. Avi Primor spricht im Interview über die aktuelle Lage, die Zukunft und seine Hoffnungen.
Herr Primor, es sind schreckliche Bilder, die uns in diesen Tagen aus Israel und Gaza erreichen. Darum zuerst die Frage: Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie?
Uns geht es gut, danke. Wir waren schon mehrfach im Schutzkeller, aber bis jetzt ist uns noch nichts passiert. Ab und zu werden auch Raketen auf Tel Aviv abgefeuert, aber die allermeisten werden ja zum Glück abgefangen. Das macht zwar einen großen Lärm, aber richtet keinen Schaden an.
Wie erklären Sie es sich, dass der Überfall der Hamas überhaupt stattfinden konnte, und zwar auf dem Landweg und durch Raketenbeschuss? Warum gab es offenbar keine korrekte Lageeinschätzung?
Aus politischen und ideologischen Gründen. Wir haben eine Regierung, die zwar nicht nur zum extremen rechten Lager gehört, aber bis vor Kurzem ganz unter dessen Einfluss war. Sie hat dafür gesorgt, dass fast die gesamte Armee in den besetzten Gebieten im Einsatz war. Die Grenzen, inklusive die zum Gaza-Streifen, wurden vernachlässigt.
Der Mythos von der Souveränität der israelischen Geheimdienste ist schwer beschädigt.
Vor allem der Ruf der Führung der Streitkräfte ist ruiniert, noch mehr aber der der Regierung selbst. Nur darum hat Netanjahu nun eine Koalition mit der Opposition gebildet.
Ist diese sogenannte Notstandsregierung eine erzwungene und vorübergehende Einheit, oder rückt das tief gespaltene Israel jetzt wirklich näher zusammen?
Das hängt davon ab, wie der Krieg weitergeht. Ich persönlich glaube aber eher, dass es ein vorübergehender Zustand ist. Netanjahu ist seit dem 29. Dezember 2022 wieder Ministerpräsident und hat sich seitdem nur mit einer einzigen Sache beschäftigt: der Justizreform. Schon am 4. Januar hat der Justizminister die "Reform" angekündigt. Die aus Israel ein zweites Ungarn machen sollte. Sofort gingen die Proteste los. Mehr als neun Monate hat das Volk ununterbrochen dagegen demonstriert – das ist einzigartig, ohne jede Präzedenz. Die Proteste kamen jetzt nur durch den Krieg zum Stopp. Die Opposition hat verlangt, die Reform nicht weiter zu verfolgen, wenn sie in die Notstandsregierung mitgehen soll. Das hat Netanjahu akzeptiert, aber wer weiß, wie es nach dem Krieg aussieht.
Außerdem muss man berücksichtigen, dass die ohnehin schlechten Zustimmungswerte für Netanjahu seit Kriegsausbruch weiter stark eingebüßt haben. Der Mann steht auch seit drei Jahren vor Gericht, aber es geht kaum voran. Warum nicht? Weil die Richter von seinen Schergen unter Druck gesetzt werden. Ich bezweifle daher, dass es eine Einheit unter der Führung Netanjahus geben kann.
Sie sind Diplomat und haben sich immer wieder für die Zweistaatenlösung ausgesprochen – zuletzt in der Maiausgabe unseres Magazins. Sie sagten, Israel müsse sich von den besetzten Gebieten in Gaza und im Westjordanland trennen und endlich Frieden schließen mit der arabischen Welt. Was sagen Sie jetzt?
Das gleiche. Ich weiß nicht, ob meine Wünsche überhaupt noch realisierbar sind. Es bräuchte eine israelische Regierung, die die Kraft und den Mut aufbringt, die Siedlungen zu räumen. Es kann kein Palästinenserstaat entstehen, ohne zumindest einen Großteil der Siedlungen zu räumen. Ich gehe davon aus, dass Israel das Westjordanland annektieren wird und dass wir dann den Palästinensern widerwillig die israelische Staatsbürgerschaft anbieten müssen. Das hätte zur Folge, dass wir Juden in Israel die Mehrheit bald verlieren würden, denn die Geburtenraten der Palästinenser sind so hoch, dass sie uns zahlenmäßig bald überholen werden. Aber diese Gefahr will das rechte Lager gar nicht sehen. Wie sollen wir denn mit den Arabern umgehen? Eine Apartheid schaffen? Sie vertreiben? Das geht doch nicht!
Wie geht der Krieg weiter, womit rechnen Sie?
Der Krieg wird noch eine ganze Weile weitergehen, weil Israel zumindest offiziell den Wunsch hat, die ganze Hamas zu zerstören. Im Gaza-Streifen leben über zwei Millionen Menschen. Man kann nicht den ganzen Gaza-Streifen entwaffnen. Das sind Träume, aber bei uns liebt man Träume. Wenn die Waffen einmal schweigen, wird alles wieder zum Alten kommen. Wir werden die Grenze vielleicht verstärken, viel hängt von einer möglichen neuen Regierung in Israel ab, denn Netanjahu hat zu viel an Beliebtheit eingebüßt. Aber für den ewigen Konflikt wird es so oder so keine Lösung geben. In der Bibel heißt es im 1. Buch Mose: "Von deinem Schwert wirst du leben." Es gibt nicht wenige Leute, die jetzt diesen Vers zitieren und damit sagen wollen: Ja, wir werden ewig Krieg führen müssen.
Und woraus ziehen Sie Hoffnung?
(Lacht) Ich zitiere gern David Ben-Gurion, der sagte: "Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist." Ich möchte ein Realist sein. Interessant wird sein, wie es mit der großen Koalition in Israel weitergeht und wie stabil sie ist. Das werden wir in Kürze sehen.
Das Interview führte Björn Lange.