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Präsenzpflicht – ein Problem?

Das Präsenzproblem

Für die einen wäre die Abschaffung der Präsenzregeln ein Verlust, die anderen sähen darin eine Befreiung. Wie relevant ist das Thema für die Zukunft?

Jörg Goll01.12.2015

Rückblick 1975: Als Stipendiat der Georgia Rotary Student Foundation lerne ich die 100-Prozent-Clubs in Atlanta kennen: jede Woche alle Mitglieder in bester Laune. Die anregende Atmosphäre, das Interesse der Mitglieder erfreuen mich, die gelebte Gemeinschaft, Freundschaft und die vielen Projekte beeindrucken mich. Das Thema Präsenz ist irrelevant.


Anwesenheitsregeln sind Ergebnis eines 1916/17 von Rotary International (RI) ausgeschriebenen Präsenzwettbewerbs. Die Ziele sind Stärkung der Freundschaft, größere Gemeinsamkeit im Denken und Handeln und mehr Wissen über Rotary. Dieser Wettbewerb braucht klare Spielregeln. Das detaillierte Berichtssystem wird in die RI-Satzung aufgenommen. Der Wettbewerb wirkt bis heute und veranlasst Tausende Rotarier,  100-prozentig anwesend und darauf stolz zu sein. Doch ist bereits ein guter Rotarier, wer sehr regelmäßig kommt? Woche für Woche motivieren uns Clubpräsidenten und -sekretäre zur Präsenz. Dabei geht es häufig gar nicht mehr um die Anwesenheit, sondern um die (Un-)zuverlässigkeit der An- und Abmeldung.  Mir scheint verfrüht, ein Urteil über Präsenzpflicht oder deren Abschaffung zu treffen. Das Thema spaltet weite Teile der Mitgliedschaft – nicht nur im deutschsprachigen Raum. Was die einen als Befreiung unnötiger Regelsucht verurteilen, sehen andere als Verlust eines Erfolgsbausteins von Rotary. Beide Sichtweisen reduzieren Sachverhalte auf eine Schwarz-Weiß-Sicht, die der Komplexität unserer Gesellschaft und ihrer Veränderungen nicht gerecht wird.


Eine Stärke von Rotary sind klare Regeln. Deren Änderungen erfolgen über den in dreijährigem Abstand tagenden gesetzgebenden Rat oder Council On Legislation (kurz: COL) in demokratischer Weise. Dort kann jeder Club und Distrikt seine Anträge und Forderungen einbringen, um mitzugestalten. Sie finden sich im blauen Verfahrenshandbuch (Manual of Procedure, http://sites.rotary.org/de/document/468). Die Realität nährt jedoch den Eindruck, dass eine (zu) geringe Zahl der Mitglieder diese Änderungen des COL 2010 und 2013 kennen und sie in ihren Clubverfassungen oder -satzungen nachvollzogen haben. Das betrifft die Teilnahme an Club-Serviceprojekten, geförderten Veranstaltungen und Aktionen etc. Für das COL 2016 werden weitere Anträge zur Anwesenheit zur Abstimmung gebracht, zum Beispiel die Gleichstellung der Hybridclubs oder Überführung der Anwesenheitsregeln in die jeweilige Clubsatzung.


Präsenzen Neu denken
Wer pauschal NEIN dazu sagt, wird feststellen (müssen), dass sich die Welt ohne ihn weiterdreht und von anderen gestaltet wird – wie bereits bei der erfolgreich gelebten Vielfalt der Mitgliederentwicklung in Bezug auf Alter, Geschlecht und neue Berufsfelder.


Vergessen wir nicht, dass die Teilnahme an unseren Clubtreffen primär Vorteil und Vorrecht ist, die wir weltweit genießen. Mit unserem JA akzeptieren wir auch die (neuen) Spielregeln, die wir in Freundschaft und Fairness beachten und einhalten. Dazu drei Fragen:

 

  • Wie oft könnten wir es uns in unserem beruflichen Umfeld leisten, Termine mit unseren Kunden, Mandanten, Patienten, Mitarbeitern oder Geschäftspartnern nicht einzuhalten?
  • Wie häufig würden sich Freunde noch mit uns treffen wollen, wenn wir wiederholt deren freundliche Einladung zu einem Treffen unbeantwortet ließen?
  • Erwarten wir nicht auch, wenn wir Freunde einladen oder Mitarbeiter zu einem Gespräch bitten, dass sie antworten und Wort halten?

Wir trauen uns zu, unsere Berufsgebiete im lokalen Umfeld angemessen zu repräsentieren. Was uns im Berufsleben selbstverständlich oder „professionell“ ist, darf gerade bei Freunden und damit auch in der rotarischen Welt keinesfalls vernachlässigt werden. Neue Rahmenbedingungen setzen Trends
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern sich auch für Rotary. Drei neue Trends seien beispielhaft dafür genannt:


1. Das Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung des Individuums über die Verwendung der Zeit wird größer. Die Ursachen liegen in der Intensivierung der Arbeit, der schwierigen Vereinbarkeit von Familie und Beruf und unserer dauernden Erreichbarkeit und Ablenkbarkeit.


2. „Beständige“ Freundschaften – real und/oder virtuell – gewinnen für den Einzelnen und für die Gesellschaft an Bedeutung. Wer langjährige Freundschaften pflegt und lebt, fühlt sich zufriedener, belastbarer und im sozialen Leben verankert, er lebt auch länger und gesünder, selbstsicherer und vertrauensvoller, da er Rückhalt in Freundschaften findet. Freundschaften – in Zeiten von Singles, diskontinuierlichen Erwerbsbiografien und hohen Mobilitätsanforderungen – schaffen somit Stabilität und Bindungskräfte. Sie machen erfahrbar, was oft erodiert: Vertrauen und Verantwortlichkeit.


3. Mehr Aufmerksamkeit für soziales Engagement ist gefragt, das zunehmend von Bürgern geleistet wird (siehe Flüchtlinge). Das Spektrum wird breiter und die Arbeit professioneller. Diese Veränderungen gehören zu Rotary, werden zu flexibleren Spielregeln führen und Anwesenheit leichter machen. Dies ändert nichts an der Erkenntnis, dass heute die „Attraktivität“ entscheidender wird, um Beliebigkeit und Zuhausehocken zu vermeiden.


Die Basis jedes Clubs im Sinne der Dienstbereitschaft müssen dafür die lokalen und internationalen Projekte bleiben. Lokale Projekte ziehen unsere Mitglieder an, hier ist man zu Hause, hier werden Aktionen sichtbar. Internationale Projekte in den sechs Fokusgebieten, Polio oder der Jugendaustausch machen unser Profil aus und schaffen Identifikation. Ohne diese Projekte werden Clubs wenig Zukunft haben.


Diese Attraktivität gelingt am besten im Team. Jedes Jahr hat der Club einen neuen Präsidenten, gleichsam Dirigent seines Clubs. Die Mitglieder sind das Orchester, das die Musik spielt. Der Präsident initiiert, wählt im Team Programm und Projekte aus und schlägt den Takt. Für jedes Stück gilt es, den einzelnen  Instrumentengruppen (Projektteams) bis hin zum stummen Orchesterdiener den Einsatz, das „piano“ und „forte“ zu geben. So wird echtes Teamverständnis entwickelt. Und wenn wir Mitglieder merken, dass hier etwas wächst und geschieht, dann ziehen meist alle mit, die Anwesenheit und Mitwirkung steigt, und die Öffentlichkeit profitiert.


Präsenz an sich ist kein attraktives Alleinstellungsmerkmal – für Attraktivität hat der Club zu sorgen. Denn Rotary ist nicht, was der Club uns gibt, sondern was wir – jeder Einzelne – dem Club an Ideen, Kraft, Energie und Freude geben können. Die Wirkung kommt von selbst an uns zurück, im besten Fall als Begeisterung und Vorfreude auf das nächste Mal – so wie bei mir vor 40 Jahren in Atlanta.