Titelthema
Der gesunde Mittelweg

Maximalforderungen führen nicht zum Ziel. Dem demografischen Wandel begegnen wir am besten mit pragmatischen Kompromissen in der Rentenpolitik
Seit Jahrzehnten ist es bekannt: Mehr ältere Menschen wollen Rente beziehen und benötigen Gesundheits- und Pflegeleistungen; weniger junge Menschen sollen dafür Beiträge in die Sozialkasse zahlen. Nun passiert es: In den zehn Jahren zwischen 2023 und 2032 werden insgesamt über vier Millionen Menschen mehr in den Ruhestand gehen, als junge Menschen nachrücken. So senkt der demografische Wandel gleich zweifach das Wirtschaftswachstum: durch die höhere Belastung durch Steuern und Sozialabgaben – und durch den Arbeitskräftemangel.
Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass Deutschland keineswegs die großzügigsten Renten zahlt. Im Gegenteil gehört es unter den reichen Industriestaaten nur in das untere Drittel, was das Rentenniveau angeht. Altersarmut ist zwar beeindruckend selten, aber die Durchschnittsrenten in Deutschland sind deutlich niedriger als zum Beispiel in den Niederlanden oder Dänemark.
Die Rentenpolitik steht daher vor einem Dilemma: Ist sie zu großzügig, belastet sie die Beitragszahler und den Bundeshaushalt. Ist die Rentenpolitik zu sparsam, schadet dies den sozial und gesundheitlich Schwachen. Daher sind kluge Kompromisse gefragt und keine Maximalforderungen.
Eine der Maximalforderungen ist es, dauerhaft und für alle eine einheitliche Haltelinie des Rentenniveaus von 48 Prozent einzuziehen. Dies würde den Nachhaltigkeitsfaktor dauerhaft ausschalten, der, wie der Name sagt, für eine nachhaltige Rentenfinanzierung sorgt und die Belastung durch den demografischen Wandel in etwa gleichmäßig auf Junge und Alte verteilt. Der Nachhaltigkeitsfaktor ist daher auch ein Generationengerechtigkeitsfaktor. Durch die Haltelinie werden jedoch die Rentner geschont, während die gesamte demografische Belastung auf die jüngere Generation fällt. Umgekehrt ist ein Rentenniveau von 48 Prozent für Personen mit niedrigem Einkommen auch im internationalen Vergleich bescheiden; eine weitere Senkung ist diesen Menschen kaum zuzumuten. Was liegt da näher, als – als klugen Kompromiss – die Haltelinie nur denen zugutekommen zu lassen, die geringe Einkommen hatten, während der Nachhaltigkeitsfaktor für alle anderen wieder gelten sollte?
Deutschland gehört unter den reichen Industriestaaten nur in das untere Drittel, was das Rentenniveau angeht
Auch bezüglich des Renteneintrittsalters gibt es die Maximalforderung, es wieder auf eine feste Zahl einzufrieren, selbst wenn wir dank medizinischem und gesellschaftlichem Fortschritt weiter länger leben. Aber auch die entgegengesetzte Maximalforderung ist unklug, nämlich für jedes gewonnene Lebensjahr ein Jahr länger arbeiten zu müssen. Ein kluger Kompromiss ist es, die gewonnenen Jahre zwischen Arbeit und Rente so aufzuteilen, dass das Verhältnis zwischen Lebensarbeitszeit und der in Rente verbrachten Zeit konstant bleibt. Genau dann bedeutet eine längere Lebenserwartung nämlich keine Belastung der Rentenkasse mehr. Konkret heißt das, jedes zusätzliche Jahr Lebenserwartung, das wir gewinnen, in acht Monate mehr Arbeit und vier Monate längerer Rente aufzuteilen, also so wie das ganze Leben in gut 40 Jahre Arbeit und rund 20 Jahre Rente aufgeteilt ist.
Allerdings findet die Mehrheit der Renteneintritte bereits vor dem Regelrentenalter statt. Hier kommt der „Rente mit 63“ eine besondere Bedeutung zu, da fast jeder dritte Eintritt in die Altersrente auf dieser Regelung basiert. Damit gehen der Rentenversicherung nicht nur eine große Zahl von Beitragszahlenden verloren, sondern auch der Wirtschaft viele Arbeitskräfte. Entgegen landläufiger Vorstellung wird die „Rente mit 63“ überwiegend von gut ausgebildeten, überdurchschnittlich verdienenden und gesünderen Menschen in Anspruch genommen. Dadurch wird der Fachkräftemangel weiter verschärft. Auch hier bietet sich ein kluger Kompromiss an: Anstatt auch den überdurchschnittlich verdienenden und gesünderen Menschen eine subventionierte Frührente zu erlauben, sollte die abschlagsfreie „Rente mit 63“ nur denen zugutekommen, denen aus Gesundheitsgründen kein längeres Arbeiten zugemutet werden kann.
Eine weitere große Baustelle im deutschen Rentensystem ist eine kluge Mischung von Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren. Auch hier sind Maximalpositionen fehl am Platz. Das deutsche Umlageverfahren, in denen die Jüngeren mit ihren Beiträgen die Rente der Älteren finanzieren, hat sich bewährt, vor allem auch in Krisen- und Umbruchsjahren. In Zeiten des demografischen Wandels belastet es aber die Jüngeren, weil die Älteren in der Überzahl sind. Das Umlageverfahren sollte daher dadurch entlastet werden, dass ein Teil der Renten aus der Ersparnis der Generation, die diese Renten auch erhält, via Kapitaldeckungsverfahren finanziert wird. Ein reines Kapitaldeckungsverfahren ist aber auch unklug, weil es die Menschen zu stark den Schwankungen des Kapitalmarkts aussetzt. Ein kluger Kompromiss zwischen Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren ist daher eine Mischung.
Die große Frage ist, wie die Ersparnis im Kapitaldeckungsverfahren organisiert werden soll. Die Riesterrente hat sich nicht mit großem Ruhm bekleckert, da diese Form der individuellen kapitalgedeckten Altersvorsorge zu hohen Kosten und niedrigen Renditen geführt hat. Das entgegengesetzte Modell ist der Staatsfonds, mal als „Deutschlandfonds“, „Aktienrente“ oder „Generationenfonds“ angepriesen. Die internationale Erfahrung zeigt jedoch, dass auch solche zentralisierten Fonds unterdurchschnittliche Renditen abwerfen. Da das Kapitalanlagegeschäft große Kostendegressionen aufweist, ist das Kunststück im Kapitaldeckungsverfahren wiederum – statt Extremen nachzugehen –, einen Mittelweg zu wählen, der einerseits durch Gruppenbildung Kosten spart, aber andererseits Konkurrenz und Anlagendiversität erlaubt. Hier hat Deutschland mit der Betriebsrente viele auf die jeweilige Branche zugeschnittene Modelle entwickelt, die sich bewährt haben. Es ist eindrucksvoll, wie es unsere Nachbarn in den Niederlanden und Dänemark – beides ausgeprägte Sozialstaaten mit starker Rolle der Sozialpartner – geschafft haben, mit einer Mischung aus gesetzlicher Rente und verpflichtenden Betriebsrenten ihren Bürgern deutlich höhere Alterseinkünfte als in Deutschland zu verschaffen.

Axel Börsch-Supan gründete 2001 das Mannheimer Forschungsinstitut Ökonomie und Demographischer Wandel an der Universität Mannheim. Seit Januar 2011 ist er Wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft.
Foto: privat