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Geschichte der Spaltungen und des Miteinanders

Die orientalische Christenheit

In turbulenten Zeiten, in denen der Orient hierzulande vor allem mit Ängsten und Sorgen verbunden wird, erinnert uns die biblische Geschichte von den Heiligen Drei Königen an die langen kulturellen, religiösen und auch ökonomischen Verbindungen zum Nahen und Mittleren Osten.

Wolfgang Hage01.12.2015

Der christliche Orient begegnet uns heute in einer Vielzahl von Kirchen. Sie sind das Ergebnis einer langen Geschichte mit ihren Auseinandersetzungen und Spaltungen, zu denen mancherlei Faktoren führten.

Es begann mit einem politischen, der zur Entstehung der Apostolischen Kirche des Ostens führte. Sie geht auf die Christenheit syrisch-aramäischer Sprache zurück, die sich im Osten jenseits des Imperium Romanum gebildet hatte. Unter persischer Herrschaft sah sie sich, als die Römer das Christentum im 4. Jahrhundert zur Staatsreligion erhoben hatten, blutiger Verfolgung ausgesetzt. Deshalb grenzte sie sich von der römischen Reichskirche ab und bildete im frühen 5. Jahrhundert eine eigene Kirche. Dabei wusste man sich zunächst noch im dogmatischen Einklang mit der römischen Staatskirche.

Erst am Ende desselben Jahrhunderts übernahmen die Christen Persiens in einem weiteren Schritt eine theologische Position, die man im Römerreich inzwischen als „Nestorianismus“ verurteilt hatte. Diese Kirche war im Mittelalter auf eine bemerkenswerte Weise missionarisch aktiv: bis nach Südarabien sowie über Zentralasien hin bis nach China und bis Südindien. In diesen fernen Gebieten überlebte allein die indische Thomas-Christenheit. Sie hatte in der Neuzeit (seit Ende des 15. Jahrhunderts) ihre eigene Geschichte, in der aus der einen apostolisch-ostkirchlichen Kirchenprovinz schließlich sieben Kirchen (bzw. Kirchengebiete) hervorgingen.

Konflikte in der römischen Reichskirche

Getrennt hatte sich also die Apostolische Kirche des Ostens von der Kirche im Reich der Römer (und dann Byzantiner), an deren Spitze der Kaiser stand mit seinen fünf Patriarchen in Rom, Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem. In dieser Christenheit der Reichskirche kam es im 5. Jahrhunderten zu einer heftigen und folgenreichen Auseinandersetzung, die hier nun theologisch begründet war und durchaus verglichen werden kann mit dem, was ein Jahrtausend später die abendländische Christenheit im Zeitalter der Reformation erlebte. In jener früheren Zeit ging es um das richtige Christus-Bekenntnis, um die heftig umstrittene Frage, wie der eine Christus als wahrer Gott und zugleich als wahrer Mensch verstanden werden sollte: als die eine Person in zwei Naturen (der göttlichen und der menschlichen) – oder als die eine Person mit nur einer Natur (der menschgewordenen göttlichen). Es war ein deswegen so umkämpfter Gegensatz, weil man auf der einen Seite den Akzent auf „wahre Gottheit und wahre Menschheit“ setzte (dafür stand die 4. Ökumenische Synode zu Chalzedon 451), auf der anderen Seite aber die eine Person Christi nicht gefährden wollte.

Im Patriarchat Rom, das den ganzen westlichen Mittelmeer-Raum umspannte, hielt man unbeirrt zu Chalzedon; in den vier östlichen Patriarchaten aber blieb es zunächst noch unentschieden, wem der Sieg letztlich zufallen sollte, bis im 6. Jahrhundert die Entscheidung fiel, die aber auch zur Kirchenspaltung führte. Denn es siegte nun auch im östlichen Teil der Reichskirche das Bekenntnis von Chalzedon: repräsentiert durch die Griechisch-Orthodoxen Patriarchate von Alexandria, Antiochia und Jerusalem.

Spaltung der Orthodoxie

Das war ein Sieg gegen den Großteil des Kirchenvolkes im Orient; und diese Opposition ließ sich weder durch Vermittlungsversuche, noch durch Gewalt überwinden. So entstanden auf dem Territorium des Reiches zwei selbständige Kirchen der (wegen ihrer Ein-Naturen-Lehre sogenannten) „Miaphysiten“: die Syrisch-Orthodoxe Kirche (mit eigenem Patriarchen von Antiochia) und die Koptisch-Orthodoxe Kirche (mit ebenfalls eigenem Patriarchen von Alexandria). Somit war der Titel dieser beiden Patriarchate durch den reichskirchlichen Chalzedonenser und sein miaphysitisches Gegenüber nun jeweils doppelt besetzt. Auch für Jerusalem einen Gegenpatriarchen einzusetzen, erübrigte sich. Denn dieser Stuhl war erst auf der Synode von Chalzedon zum Patriarchat erhoben worden, und mit der Ablehnung der Synode wurde dann auch dieser Akt nicht anerkannt; die miaphysitischen Gläubigen in diesem Kirchengebiet gehörten zum syrisch-orthodoxen Patriarchat.

Zur Entstehung dieser beiden Gegenkirchen hatte also vordergründig der theologische Streit um das Christus-Bekenntnis geführt. Aber zugleich wirkte hier der ethnisch-nationale Faktor. Denn dem chalzedonensischen-miaphysitischen Gegensatz entsprach ziemlich genau (in Ägypten deutlicher als in Syrien) das Gegenüber von Griechentum und nationalem Volkstum. Reichskirchlich-chalzedonensisch war die griechisch-sprachige Bevölkerung; die Sprache der Syrisch-Orthodoxen Kirche aber war das Syrisch-Aramäische, die der Koptisch-Orthodoxen Kirche das Koptische. Ausnahmen, die es anfangs von dieser Regel noch gab, bestätigen sie nur. Konfession und Sprache bedingten sich also gegenseitig.

Zwei weitere Kirchen schlossen sich ebenfalls dem miaphysitischen Bekenntnis an, ohne damit zugleich aus dem Bestand der Reichskirche hervorgegangen zu sein: Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche hatte seit dem 4. Jahrhundert den Charakter einer Staatskirche im Reich von Aksum, unterstand aber von Anfang an dem Patriarchat Alexandria, das nun (in der überwältigenden Mehrheit seiner Bevölkerung) koptisch-orthodox war. So ergab es sich also ganz von selbst, dass auch die Äthiopier dem Bekenntnis der Kopten folgten.

Einen eigenen Weg zum miaphysitischen Bekenntnis ging die Armenisch-Apostolische Kirche. Sie war seit etwa 300 Staatskirche im armenischen Königreich, das bald seine politische Selbständigkeit verlor und unter römische, bzw. persische Herrschaft geriet. Die Kirche Armeniens folgte zunächst der dogmatischen Entwicklung in der benachbarten römischen Reichskirche, schloss sich schließlich im 6. Jahrhundert dann aber doch dem Kreis der non-chalzedonensischen Kirchen an.

Das Verhältnis zu Rom

Zu Anfang des 7. Jahrhunderts unternahm der byzantinische Kaiser einen letzten Versuch, die miaphysitischen Kirchen wieder mit der Reichskirche zu vereinen: auf der Basis einer theologischen Formel, auf die sich die christologischen Gegner (ohne ihre jeweilige Position aufgeben zu müssen) verständigen sollten. Denn eine erfolgversprechende Diskussion über die chalzedonensische Zwei-Naturen-Lehre und die anti-chalzedonensische Ein-Naturen-Lehre war längst undenkbar geworden. So sollten sich beide Seiten darüber einigen, von nur einem Willen in Christus zu reden („Monotheletismus“). Die große Mehrheit der Kontrahenten auf beiden Seiten widersprach schließlich (natürlich aus entgegengesetzten Gründen) dieser Kompromiss-Formel, und nur eine kleine Gruppe im byzantinischen Patriarchat Antiochia nahm sie an. Es waren syrisch-aramäisch sprechende Chalzedonenser in Nordwest-Syrien, die also eine Ausnahme von der genannten Regel konfessioneller und ethnischer Identität bildeten. So entstand die Kirche der Maroniten mit nun ebenfalls eigenem Patriarchen von Antiochia. Sie zogen sich bald in den Nordlibanon zurück, und zur Zeit der abendländischen Kreuzzüge unterstellten sie sich gänzlich dem Papst zu Rom.

Es sollte die einzige orientalische Kirche bleiben, die Rom ganz gewann. Aber es gab auch in den anderen Kirchen Gläubige, die sich der Autorität des Papstes unterstellten. So spaltete sich die orientalische Christenheit zusätzlich auch auf diese Weise, denn es steht seitdem neben der jeweiligen orthodoxen Kirche die mit Rom unierte katholische mit ihrem eigenen Oberhaupt: die Syrisch-Katholische Kirche, die Koptisch-Katholische, die Armenisch-Katholische, die Äthiopisch-Katholische und die (aus der Apostolischen Kirche des Ostens hervorgegangene) Chaldäisch-Katholische Kirche. Und unierte Gläubige aus den drei chalzedonensisch-orthodoxen Patriarchaten Antiochia, Alexandria und Jerusalem wurden zusammengefasst zu einem Melkitisch-Katholischen Patriarchat von Antiochia. Somit teilen sich heute fünf Patriarchen den Titel dieser Stadt: der chalzedonensisch-orthodoxe mit seinem griechisch-katholischen Amtskollegen, der syrisch-orthodoxe mit seinem syrisch-katholischen Gegenüber und der maronitisch-katholische Patriarch. Drei dieser Patriarchen unterstehen also Rom, aber sie zu einer unierten Kirche zu vereinen, war und ist nicht möglich. Denn sie haben ihre unterschiedliche Tradition, die sich zumal im Liturgie-Formular und in der Liturgie-Sprache ausdrückt.

So entstand das bunte Bild der orientalischen Christenheit auf ihrem Weg von der Einheit zur kirchlichen Vielfalt, auf einem Weg, den nicht nur theologische, sondern auch ethnisch-sprachliche und politische, bzw. kirchenpolitische Faktoren prägten. 

Wolfgang Hage
Prof. Dr. Wolfgang Hage war seit 1975 Professor für „Orientalische (insbesondere syrische) Kirchengeschichte“ an der Universität Göttingen und von 1981 bis 2001 Professor für Kirchengeschichte mit dem Schwerpunkt Ostkirchengeschichte an der Philipps-Universität Marburg. Zuletzt erschien „Das orientalische Christentum“ (Kohlhammer 2007). www.kohlhammer.de