Titelthema
Dorftreff Gulaschkanone
Baden im See mal eben ja, hippes Eiscafé mal eben nein. Wer einen Umzug aufs Land plant, sollte vorher dort probewohnen – im Sommer und im Winter.
Weil es in den Städten immer enger wird, liebäugeln junge Familien zunehmend mit dem Leben auf dem Land. In Zeiten von Corona steigt das Sehnsuchtspotenzial – und dank Homeoffice rückt der Traum vom Häuschen im Grünen in greifbare Nähe. Doch die Arbeitsorganisation ist nicht die einzige Herausforderung.
In der Mittagspause springen sie jetzt jeden Tag in den See. Und morgens und abends auch. Seit Alexandra und Jonas und ihre beiden Töchter die Altbauwohnung in Prenzlauer Berg gegen ein Haus in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern eingetauscht haben, müssen sie dafür nur die Straße überqueren. Dass die Familie dort viel Zeit verbringt, sieht man: Die Mädchen sind braun gebrannt, die Haare strohblond von der Sonne. Andere Wege sind dafür länger geworden. Zur Kita fahren sie jetzt eine halbe Stunde mit dem Rad – und einen Bäcker, Kiosk oder Supermarkt gibt es auch nicht in dem 150-Seelen-Ort in der Nähe von Neustrelitz. „Da mussten wir uns umstellen. Alles, was wir in Berlin mal eben zwischendurch mitgenommen haben, jedes Eis und jede Brezel, müssen wir jetzt zu Hause haben“, sagt Alexandra, 37, Modedesignerin. Also wurde eine große Tiefkühltruhe angeschafft, randvoll mit Eis.
Alexandra und Jonas wussten genau, worauf sie sich einlassen, als sie vor zwei Monaten hergezogen sind. Freunde der Familie leben schon lange in dem Dorf, sie haben sie oft besucht. Eigentlich war der Umzug für das kommende Jahr geplant, aber als nun Corona kam, waren sie sich schnell einig: Wir gehen sofort. Die Wohnung ohne Garten, die Kita im Schichtbetrieb, die Spielplätze gesperrt – sie haben sich gefragt, was Berlin unter diesen Umständen eigentlich noch bietet. Und ihnen ist nicht viel eingefallen.
Den Ort zu wechseln war kein Problem: Beide arbeiten freiberuflich und können ihren Beruf von überall ausüben. Einzige Voraussetzung: schnelles Internet und guter Handy-Empfang. Weil in ihrem Ort noch kein Glasfaserkabel liegt, haben sie sich eine LTE-Antenne aufs Dach gestellt. So wie Alexandra und Jonas geht es derzeit zunehmend mehr Großstädtern, die in engen Wohnungen sitzen und sich fragen, wofür sie in der Stadt leben, wenn Konzertsäle und Theater geschlossen sind und man seine Freunde auch nicht mehr in großer Runde treffen kann. Wie es im Herbst oder Winter aussieht, weiß sowieso keiner: Wird das öffentliche Leben dann wieder komplett runtergefahren? Machen die Schulen zu?
Weil die Bundesregierung sogar ein „Recht auf Homeoffice“ plant, wird ein Leben abseits der Städte für immer mehr Menschen vorstellbar. Vor allem junge Familien, die an den hohen Mieten und dem ewigen Kampf um einen Platz im Schwimmkurs oder der Musikschule verzweifeln, werfen nicht nur sehnsüchtige Blicke in das Landlust-Magazin, sondern ziehen ernsthaft in Erwägung, aus den Zentren der Städte in die Peripherie zu ziehen.
Susanne Dähner, Mitautorin der viel beachteten Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung „Urbane Dörfer – Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann“, sagt, dass sie noch keine Zahlen dazu habe, ob sich die Abwanderung aufs Land durch Corona intensiviert habe. Sie sei sich aber ziemlich sicher, dass das generelle Interesse am Landleben nicht so schnell wieder versiegen werde: „Das ist kein Strohfeuer.“ Vor allem in der Familiengründungsphase sei das ein Thema. Die Vorzüge des Stadtlebens verlieren dann an Bedeutung, während die Nachteile, etwa Lärm, Hektik, Verkehr und Anonymität, schwerer wiegen. Viele der befragten Stadtflüchtlinge seien Wissensarbeiter und könnten zeitweise ortsunabhängig arbeiten, so Dähner.
Option ab zwei Tagen Homeoffice
Frederik Fischer hat den Eindruck, dass es eine magische Grenze gibt: Sobald jemand zwei Tage pro Woche von zu Hause aus arbeiten kann, wird der Umzug aufs Land eine echte Option. Der 39-Jährige ist einer der Gründer des „Ko-Dorfes“, einer Siedlung, die bis 2022 auf dem Gebiet der gut 100 Kilometer von Berlin entfernten Gemeinde Wiesenburg entstehen soll. Seine Idee: Stadtmüde tun sich zusammen, gründen eine Genossenschaft und ziehen gemeinsam ein ganzes Dorf in Brandenburg hoch – mit Highspeed-Internet. Etwa 40 Parteien sollen es am Ende sein; jede bezieht ein kleines, privates Holzhaus, aber teilt sich mit den anderen Genossen verschiedene Gemeinschaftsflächen wie etwa einen Coworking-Space in einem ehemaligen Sägewerk.
Es gibt gerade in Brandenburg einige Projekte, die dem „Ko-Dorf“ vergleichbar sind, wo sich also größere Gruppen von Städtern zusammenfinden, um gemeinsam rauszuziehen. Brandenburg profitiert dabei von der Nähe zu Berlin und von seinem Immobilienbestand. Denn noch finden die Stadtflüchtlinge hier genau die Objekte, von denen sie träumen: alte Bahnhöfe, verlassene Werkshallen oder ehemalige LPGs – zumindest weiter draußen auch noch zu finanzierbaren Preisen.
Die Nachfrage nach einem Platz im „Ko-Dorf“ habe seit Corona merklich angezogen, sagt Fischer, der schon ein zweites „Ko-Dorf“ in Erndtebrück in Westfalen plant. „Viele wollen den Schritt aufs Land lieber zusammen mit anderen wagen, die sie schon kennen.“ Es ist eine Frage, die fast alle umtreibt, die mit dem Gedanken spielen, aufs Dorf zu ziehen: Finde ich da Anschluss?
Auch Alexandra hat ihre Freunde aus Berlin am Anfang vermisst. Sie habe eine Zeit gebraucht, um sich auf ihr neues Umfeld einzulassen. Auf dem Dorf ist die Nachbarschaft durchmischter als in ihrem Prenzlauer-Berg-Kiez: Nicht jeder Zweite macht irgendwas mit Medien oder Kunst. Ihre eine Nachbarin ist Altenpflegerin, der andere arbeitet bei den Stadtwerken. In den Kinderzimmern stapeln sich auch mal die Plastik-Einhörner und der Prinzessinnen-Kram. Bei den Berliner Freundinnen der Töchter lag eher die Holzspielzeug-Kollektion im Regal. Alexandra sagt, sie finde es gut, dass ihre Töchter jetzt mal andere Lebensweisen kennenlernen.
Sie und Jonas haben die meisten neuen Nachbarn auf einer Dorfversammlung kennengelernt. „Da haben wir uns unter einem Baum getroffen, jeder hat seinen eigenen Stuhl mitgebracht und es gab eine Gulaschkanone.“ Dazu alle wichtigen Neuigkeiten. Sie hat schnell gemerkt, dass es im Dorf einen anderen Gemeinschaftssinn gibt. Man denke bei vielen Entscheidungen für das Dorf mit. „Man fragt sich: Was wird hier noch gebraucht?“ Sie hat den Eindruck, dass dort vieles möglich ist. Wenn man Ideen hätte, würde man unterstützt und gefördert. „Wo Berlin satt ist, gibt es hier noch Bedarf.“ Alexandra, die Modedesignerin, kann sich vorstellen, ein Atelier in Neustrelitz zu mieten und dort Workshops anzubieten.
Viele Landstriche abseits der Großstädte sind für ihr Überleben darauf angewiesen, dass Zuzügler kommen. Die Gemeinden in der tiefen Provinz kämpfen seit Jahren mit Abwanderung. Weil Arbeitsplätze fehlen, es zu wenige Schulen und Ärzte gibt, die Internetverbindung zu langsam und das Mobilfunknetz zu wackelig ist. Vor allem die, die jung und gut ausgebildet sind, laufen davon. Es ist ein Teufelskreis: Je mehr Leute die Region verlassen, desto mehr schrumpft auch das Angebot. Und desto unattraktiver werden die Kommunen.
Das weiß auch Marco Beckendorf, Bür- germeister der Gemeinde Wiesenburg/ Mark, wo Frederik Fischers „Ko-Dorf“ entstehen soll. Beckendorf ist Feuer und Flamme für das Projekt: „Genau das, was da entsteht, brauchen wir. Die Leute, die dort hinziehen, wollen sich dauerhaft hier niederlassen.“ Seine Hoffnung: Dass die Gemeinschaft so stark sein wird, dass die Bewohner langfristig in der Region bleiben. „Die Coworking-Spaces können die neuen Treffpunkte werden. So wie es früher die Dorfkneipen waren.“ Der ganze Landkreis würde von dem Dorfzuwachs profitieren, davon ist er überzeugt. Die neuen Siedler und ihre Besucher würden die Nachfrage nach Dienstleistungen und Waren vor Ort ankurbeln – ein entscheidender Impuls für eine strukturschwache Region.
Auch andere Gemeinden, die mit Abwanderung kämpfen, versuchen, junge, gut ausgebildete Anwohner anzuziehen. Manche Orte wie Wittenberge, Görlitz oder Homberg (siehe vorige Seite) bieten Interessenten sogar an, dort für eine Zeit „probezuwohnen“. Dafür stellen sie ihnen eine Wohnung und einen Arbeitsplatz in einem Gemeinschaftsbüro zur Verfügung. Wie zum Beispiel auch der freien Journalistin Juliane Wiedemeier, 37, aus Berlin. Im vergangenen Sommer hat sie ihre Sachen gepackt und für einen Monat am Probewohnen in Görlitz teilgenommen. Vieles dort gefiel ihr – die Neißeauen, die historischen Bauten in der Altstadt sowieso und das Internet war auch schnell genug. Aber die große Liebe wurde es trotzdem nicht.
Im Vergleich zu Berlin ist eben auch eine Stadt mit 55.000 Einwohnern eher ein Dorf. Wer es gewohnt ist, zu jeder Tages- und Nachtzeit vegan, vegetarisch oder auch glutenfrei essen gehen zu können, der kann auch das Angebot in einer Mittelstadt wie Görlitz als sehr überschaubar wahrnehmen. Wiedemeier hat die Vielfalt der Großstadt schmerzlich vermisst, nicht nur kulinarisch, sondern auch bezogen auf das Kulturleben und die Aufgeschlossenheit der Menschen. „Irgendwie fühlte sich das so an, als würde sich der Horizont da verengen.“ Als sie am Ende der Zeit zurück nach Berlin kam und die erste S-Bahn sah, habe sie ein echtes Glücksgefühl durchflutet, sagt sie.
Robert Knippschild, der das Projekt für das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung koordiniert und wissenschaftlich begleitet, hat gerade erst angefangen, die Rückmeldungen der knapp 50 Teilnehmer und Teilnehmerinnen auszuwerten. Er kann also noch keine exakten Ergebnisse vermelden. Zwei Erkenntnisse stehen aber schon fest. Zum einen sind so gut wie alle auf schnelles Internet und ein stabiles Funknetz angewiesen. Außerdem hat sich gezeigt: „Die Entscheidung für oder gegen einen Wohnort hängt nicht nur an harten Standortfaktoren wie Mietkosten oder Arbeitsbedingungen. Da spielen viele weiche Faktoren mit rein. Eine ganz entscheidende Frage ist: Wie fühle ich mich da?“ Das könnten die meisten erst sagen, wenn sie es ausprobiert hätten, so Knippschild.
Dafür spürt man ziemlich genau, wenn man angekommen ist. Alexandra sagt, für sie sei das der Moment gewesen, als sie die Mülltonne an die Straße gerollt hat. Da hat sie realisiert: Wir leben jetzt auf dem Dorf. Sie ist glücklich damit. „Das ist hier das reinste Bullerbü.“ Aber klar, jetzt ist Sommer. Das ist die leichteste Disziplin. Ihren ersten Winter auf dem Dorf haben sie noch vor sich.
Susanne Grautmann ist freie Journalistin und schreibt unter anderem für den Tagesspiegel, SZ Magazin online und Brigitte. Sie hat in Münster und Vancouver studiert und lebt in Berlin.
Foto: Jan Rasmuss Voss torial.com/susanne.grautmann