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Titelthema

Drohende Eskalation

Titelthema - Drohende Eskalation
© Illustration: Edel Rodriguez

Das Streben des Iran nach der Atombombe ruft die feindlichen Nachbarn auf den Plan – die scheinen im Zweifel zu allem entschlossen.

Guido Steinberg01.01.2023

Seit September 2022 beherrschen die Proteste gegen die Islamische Republik die Schlagzeilen über den Iran. Doch eine potenziell viel wichtigere Nachricht ging in der Debatte über die Demonstrationen und ihre Folgen fast unter. Die iranische Führung kündigte im November an, die Anreicherung von beinahe waffenfähigem Uran teilweise in die unterirdische Anlage von Fordo zu verlegen und den Rest der Anreicherung in Natans stark auszubauen. Die meisten Beobachter gehen mittlerweile davon aus, dass die Verhandlungen über eine Neuauflage des Atomabkommens von 2015 damit endgültig gescheitert sind. Eine Konfrontation zwischen dem Iran und seinen Nachbarn ist damit kaum mehr zu verhindern.

Es begann 1987

Als die ständigen Mitglieder des Uno-Sicherheitsrates und Deutschland (P5+1) im Juli 2015 das Atomabkommen mit dem Iran schlossen, galt dies zu Recht als großer Erfolg für die internationale Diplomatie. Immerhin war es gelungen, den Iran zu überzeugen, auf eine hohe Anreicherung von Uran zu verzichten und Inspektionen seiner Nuklearanlagen zu akzeptieren, die für mindestens 15 Jahre die Wiederaufnahme eines schon 1987 begonnenen militärischen Nuklearprogramms verhinderten. Auf diese Weise entschärften die Beteiligten einen lange schwelenden Konflikt und verhinderten wahrscheinlich auch einen Krieg im Nahen Osten. Als US-Präsident Donald Trump das Abkommen 2018 einseitig aufkündigte und der Iran die Beschränkungen für seine Urananreicherung für obsolet erklärte, verschärfte sich der Konflikt erneut. Erst die Regierung Biden nahm die Verhandlungen 2021 mit dem Ziel wieder auf, das Atomabkommen vor dem Aus zu bewahren.

Nach bald eineinhalb Jahren Verhandlungen setzten die USA sie angesichts der Proteste im Iran aus und kaum jemand erwartet, dass sie erneut beginnen werden. Der tiefere Grund ist, dass die iranische Führung kaum ein Interesse mehr an einer Lösung zu haben scheint und sich im Laufe des Jahres 2022 unnachgiebig zeigte. Mit der Nachricht vom November wurde klar, dass der Iran innerhalb von nur wenigen Wochen genug hoch angereichertes Uran besitzen könnte, um daraus eine Bombe zu bauen. Außerdem versucht Teheran seine Bemühungen vor einem möglichen Angriff zu schützen, indem es mehr Anlagen in die tief in den Berg eingelassene Anlage von Fordo verlegt. Die einzige offene Frage ist Anfang des Jahres 2023, ob sich die Islamische Republik mit der Fähigkeit zum Bau einer Atombombe zufrieden gibt oder ob sie rasch auf eine nukleare Bewaffnung abzielt. In letzterem Fall würde es höchstens zwei Jahre dauern, bis der Iran seine schon heute in großer Zahl und Reichweite vorhandenen Raketen und Cruise Missiles mit den ersten Sprengköpfen bestücken könnte.

Bisher scheint noch keine Entscheidung gefallen zu sein, doch dürften die Proteste von 2022 Ajatollah Chamenei und seine Gefolgsleute in ihrem Wunsch nach Nuklearwaffen bestärkt haben. Denn das Beispiel Nordkorea zeigt, dass der Besitz von Atombomben totalitäre Regime fast unangreifbar machen kann. Die Teheraner Machthaber dürften außerdem das Beispiel des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi vor Augen haben, der 2003 auf ein Atomprogramm verzichtete und schon 2011 durch von den USA und Europa unterstützte Rebellen gestürzt und getötet wurde.

Israel droht mit Militärschlag

Israel hat immer wieder mit einem Militärschlag gedroht, sollte Teheran versuchen, sich nuklear zu bewaffnen. In den Jahren 2010 bis 2012 stand der jüdische Staat sogar mehrmals kurz davor, mit seiner Luftwaffe Angriffe auf die iranische Atominfrastruktur zu fliegen. Schon vorher hatte er die Urananreicherung in Natans mit einem komplexen Cyberangriff gestört und wiederholt iranische Nuklearforscher gezielt getötet. Doch die Aktionen hielten die Iraner nur auf, sie konnten das Programm nicht stoppen. Dass die militärische Option in den Hintergrund rückte, ging vor allem auf die ab 2013 laufenden Verhandlungen zwischen den USA und dem Iran zurück, die 2015 in das Abkommen mündeten – das einen Militärschlag politisch unmöglich machte. Mit dem faktischen Ende des Atomvertrags 2022 wird ein Angriff wieder wahrscheinlicher. Sollte Israel den Eindruck gewinnen, dass Teheran auf eine nukleare Bewaffnung abzielt, dürfte er kaum zu verhindern sein.

Dabei hat sich die strategische Situation im Nahen Osten seit 2015 grundlegend verändert. Israel ist bei Weitem nicht mehr so isoliert wie damals, denn ehemals feindselige prowestliche Staaten haben sich ihm angenähert. Das zeigte sich vor allem an den Friedensschlüssen zwischen dem jüdischen Staat einerseits und den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain andererseits, die 2020 die Regionalpolitik revolutionierten. Mindestens genauso wichtig war die verstärkte Sicherheitszusammenarbeit zwischen Israel und der arabischen Führungsmacht Saudi-Arabien, das zwar keinen Frieden schloss, aber den Weg für die Annäherung an andere arabische Staaten frei machte. Der wichtigste Grund für diese Neuordnung der Allianzen war die Expansion des Iran, der die Unruhe und Instabilität im Nahen Osten nutzte, um seine Position in Staaten wie dem Irak, Syrien und im Jemen auszubauen. Vor allem seit 2015 entwickelte sich ein regelrechter regionaler Kalter Krieg, in dessen Verlauf Irans Verbündete wie die Hisbollah im Libanon, schiitische Milizen im Irak und die Huthi-Rebellen im Jemen erstarkten und immer mehr zur Gefahr für seine prowestlichen Nachbarn wurden.

Wie groß die Bedrohung war, zeigten vor allem Angriffe mit Drohnen und Cruise Missiles auf das Zentrum der saudi-arabischen Ölindustrie in Abkaik im Osten des Königreichs im September 2019, zu denen sich die Huthis bekannten, für die aber der Iran verantwortlich gewesen sein dürfte. Auch in Israel wurden die Attacken mit Besorgnis registriert, denn sie zeigten die Reichweite und Treffgenauigkeit iranischer Flugkörper, die sich auch im Besitz der Hisbollah und anderer iranisch kontrollierter Milizen in Syrien und im Irak befinden. Die Annäherung an die prowestlichen arabischen Golfstaaten war da nur folgerichtig. Für Israel hat sie zum Beispiel den Vorteil, dass es im Falle eines Angriffs auf den Iran ungefährdet über saudi-arabisches Territorium fliegen kann. Doch birgt das neue Bündnis auch die Gefahr eines regionalen Konflikts, denn Teheran droht für diesen Fall mit Vergeltung gegenüber den Golfarabern.

Reaktion Saudi-Arabiens

Israel ist in seiner Entscheidung aber nicht ganz frei. Denn es benötigt für einen Angriff auf die iranischen Atomanlagen wahrscheinlich amerikanische Hilfe. Dies gilt besonders für eine Attacke auf die Anlage in Fordo, die so tief in den Berg gebaut ist, dass spezielle Bomben benötigt werden, um sie zerstören zu können. Ob die israelische Regierung in der Lage sein wird, Washington von der Notwendigkeit eines solchen Vorgehens zu überzeugen, wird sich erst noch zeigen. Die Biden-Administration dürfte eher auf eine konsequente Eindämmung des Iran setzen, doch ist ungewiss, ob sie dem innenpolitischen Druck widerstehen kann, wenn Israel sich in seiner Existenz bedroht sieht und Tel Aviv/Jerusalem, Riad und Abu Dhabi ihre zahlreichen Freunde in der amerikanischen Politik mobilisieren.

Dass die Situation auf eine Konfrontation hinauslaufen könnte, hat viel mit der USPolitik tun. Es war dem Iran nur möglich, im Nahen Osten so erfolgreich zu expandieren, weil die Regierung Obama nicht auf den iranischen Vormarsch nach 2011 reagierte. Ihr wichtigstes Ziel war das Atomabkommen, die Situation im Irak, Syrien und im Jemen stieß im Washington jener Jahre nur dann auf Interesse, wenn es darum ging, die Terroristen des Islamisches Staats zu bekämpfen. Den US-Verbündeten im Nahen Osten kam die neue Politik wie ein Rückzug vor. Dass die arabischen Golfstaaten im Hintergrund Israel – und damit den militärisch stärksten Regionalstaat – auf ihre Seite zogen, zeigte schon, dass der Konflikt mit dem Iran jederzeit wieder ausbrechen kann. Die saudiarabische Führung hat mehrfach erklärt, dass sie sich ebenfalls nuklear bewaffnen werde, wenn Teheran vorangehen sollte. Es besteht kaum ein Zweifel, dass Riad diese Drohung wahr machen wird, auch weil die ersten Vorbereitungen angelaufen sind. Da die Saudis sich des amerikanischen Schutzes für ihr Land nicht mehr sicher sind, halten sie diese Politik für alternativlos und folgerichtig.

Deutsche Politik ohne Antwort

Wenn der Nahe Osten tatsächlich auf eine nukleare Bewaffnung des Iran, einen Militärschlag Israels und ein saudi-arabisches Atomprogramm zusteuert, wird die Region in den nächsten Jahren auch wieder die Weltpolitik mitbestimmen. Es mehren sich die Anzeichen, dass der Nahe Osten die USA wieder einholen wird, obwohl diese doch schon seit mehr als einem Jahrzehnt auf Abstand setzen. Dies gilt ebenso für Deutschland und Europa, die in unmittelbarer Nachbarschaft zur Region liegen und direkter von den Folgen nahöstlicher Instabilität wie islamistischem Terrorismus und illegaler Migration betroffen sind als die USA – ganz abgesehen davon, dass iranische Raketen schon heute Süditalien erreichen können. Wenn es tatsächlich so etwas wie eine „Zeitenwende“ in der deutschen Politik geben soll, muss das Land auch eine Antwort auf die iranische Bedrohung jenseits der Atomverhandlungen finden. Schon sehr bald könnte sich die Frage stellen, was es denn bedeutet, dass Israels Sicherheit ein Teil der deutschen „Staatsräson“ sein soll. Bisher gibt es keine Anzeichen, dass die deutsche Politik eine Antwort hat. 

Guido Steinberg
Guido Steinberg ist promovierter Islamwissenschaftler und arbeitet an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Ein Forschungsgebiet ist der Saudi-Arabien-Iran-Konflikt.