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Kommentar

Ein Jahr Krieg in der Ukraine

Kommentar - Ein Jahr Krieg in der Ukraine
Johann Michael Möller, RC Berlin-Brandenburger Tor, ist Publizist und Spiritus Rector des Rotary Magazins. © Antje Berghäuser

Ein Kommentar von Johann Michael Möller

01.02.2023

Seit einem Jahr leben wir jetzt im Krieg. Oder korrekter gesagt: Wir können ihn aus der Nähe betrachten. Die Schreckensbilder, die wir lange Zeit nur von fernen Weltgegenden her kannten, sind uns bedrohlich nahegerückt. Es gebe jetzt eine Zeit vor und eine nach diesem Krieg, hört man inzwischen häufig. Aber das ist so einfach dahingesagt. Man sollte besser von einem schmerzhaften Nebeneinander reden; die einen sterben und die anderen wollen doch leben. Es gibt beides, auf beiden Seiten der Fronten. Die jungen Ukrainer, die in den U-Bahnhöfen trotzige Partys feiern, und die verzweifelten Menschen, die durch die Straßen ihrer zerstörten Dörfer irren. Auch wir in unserem so gemächlichen Land kennen solche Kontraste. Dieser Krieg hat sie hier nur ebenfalls krasser gemacht. Zu den guten Erfahrungen dieses zurückliegenden Jahres gehört eine überwältigende Hilfsbereitschaft. Fast jeder von uns kennt Menschen, die Geflüchtete bei sich aufgenommen haben. Und der Krieg saß plötzlich an unserem Abendbrottisch. Und was für die zivile Gesellschaft galt, das galt weithin auch für die Politik. Dieser immer wieder verunglimpfte und totgeredete Westen hat sich schon in schlechterer Verfassung präsentiert. Man täte vielen Regierungen dort unrecht, wenn man nicht anerkennen würde, dass sie mit einem Mal wissen, worum es jetzt geht.

Der Horror bleibt gleich

Wir beobachten uns alle und stellen überrascht fest, dass wir nicht abgestumpft sind und uns nicht mit dem täglichen Entsetzen einrichten; dass wir immer noch aufschrecken über das, was passiert. Am heutigen Tag, an dem dieser Text entsteht, sind es die schrecklichen Bilder vom Raketenangriff auf Dnipro. Man muss sich neuerdings die genauen Zeitpunkte notieren, an denen man schreibt. Denn die Orte und Ereignisse wechseln beständig; nur der Horror, der bleibt gleich. Heute ist es die verzweifelte Mutter am Arm zweier Helfer, die den Schmerz über den Tod ihres Sohnes in die Welt hinausschreit. Ich kann das inzwischen nur noch sprachlos ertragen. Was soll man noch sagen, wenn man das sieht?

Ich bin auch der vielen Erklärungsversuche leid geworden, die man permanent hört und liest. Und schon gar nicht will ich beim Anblick hilfloser Menschen noch über politische Begründungen reden oder private Ansichten. Sollen sie doch, die das für notwendig halten, ihre geostrategischen Thesen schwingen. Ertragen will ich sie nicht. Denn es ist meistens derselbe Sermon, der zu rechtfertigen versucht, was sich durch nichts rechtfertigen lässt.

Ja, dieses Russland ist ein großes und schönes und traditionsreiches Land. Und es wird durch diesen Krieg auch nicht von der Karte Europas verschwinden. Aber was besagt dieses Argument? Wie kann man hinnehmen, was dieser Staat und seine Machtclique gerade selbst aus sich machen? Ich wollte das Grab des Bruders meines Vaters bei Slowjansk noch einmal besuchen. Jetzt decken es die Toten der nächsten Kriegsgeneration zu.

Was mir bei diesen jungen ukrainischen Menschen so sehr imponiert, ist ihre tapfere Heiterkeit, man könnte von heroischem Sarkasmus sprechen. Vielleicht bekommen wir die elendsten Bilder von der Verzweiflung im Krieg gar nicht zu sehen. Aber die Widerstandskraft dieser Menschen kann unmöglich Propaganda sein. Sie gehen hinaus an die Front, weil ihnen gar nichts anderes bleibt; und sie sterben, den Mund voller Erde, für die sie gefallen sind. Es ist ein archaischer Tod, für den es dort keine Alternative gibt, auch wenn das unsere Friedensbeschwörer noch glauben.

Ikonische Bilder

Alternativlos war auch so ein Wort aus früheren Zeiten, als es in unserem Land noch viele Alternativen gab. Das Leben als Selfie und im Hintergrund krachen Raketen. Das ist nach der herzergreifenden Mutter aus Dnipro das zweite ikonische Bild dieses Tages, das mich nicht loslässt: diese unglückselige deutsche Verteidigungsministerin, die im Feuerwerk über ihre interessanten Begegnungen spricht. Man möchte es eine Travestie auf den Krieg in der Ukraine nennen.

Natürlich ist das unfair, diese beiden so unterschiedlichen Frauen so hart aufeinanderzuschneiden. Doch es ist die Gleichzeitigkeit dieser so ungleichen Situationen, die uns viel über diesen Krieg verrät. Die einen müssen ihn jetzt erleiden, die anderen schauen zum Glück doch nur zu. Man hat diese Ministerin instinktlos genannt. Aber das ist der falsche Begriff. Im Grunde verkörpert sie eine zutiefst pazifistische Generation, die mit Waffen und Heldenmut nichts, rein gar nichts mehr anzufangen weiß. Unser Land hat sich weiß Gott solidarisch gezeigt, hat Flüchtende aufgenommen und Hilfspakete gepackt. Aber jetzt geht es um Krieg oder Frieden. Und da wird die Rechnung plötzlich ohne den Wirt gemacht. Wer will es uns wirklich verübeln?

Vermutlich wird der neue Minister vieles viel besser und viel zupackender machen. Er gilt als politischer Routinier. Aber für das, was es jetzt zu entscheiden gilt, gibt es keine Routine. Da geht es auch nicht allein um den Ausrüstungsstand und auch nicht nur um Waffen und Panzer. Unser Land wirkt so merkwürdig zögerlich, weil es nicht sagt, was es will. Man wird jede friedliche Option prüfen müssen. Das versteht sich von selbst. Aber das so schnell verkündete Wort von der Zeitenwende meint nicht die anderen, es meint doch uns selbst. Was, wenn das geflügelte, Bert Brecht untergeschobene Wort gilt, dass dieser Krieg vielleicht doch zu uns kommen könnte. Dann müssen wir schon wissen, was wir für unsere Freiheit riskieren wollen – und was für die Freiheit der anderen.

Zeitenwende hat der Kanzler das vor einem Jahr genannt. Wir haben damals wohl nicht geahnt, was das noch heißen könnte. Und jetzt blicken wir mit Besorgnis über den Zaun und sehen unsere östlichen Nachbarn sterben.

Johann Michael Möller