Titelthema
Ein Kampf um Israels Seele
Derzeit hat Israel andere Sorgen als Deutschland. Doch jetzt kommt Trump und wir werden ein starkes Deutschland an unserer Seite brauchen.
"Ich muss sagen, dass Deutschland eine bemerkenswerte Ausnahme ist. Deutschland ist beeindruckend", sagte der Redner. Viele Mitglieder des Publikums nickten zustimmend. Wir waren eine kleine Gruppe von leitenden Professoren und Wissenschaftlern in einer der besten akademischen Einrichtungen Israels. Es handelte sich jedoch nicht um ein fachliches, sondern um ein politisches Treffen, das unter der Schirmherrschaft einer internen Denkfabrik für Ethik stand. Der Referent, ein hochrangiger Wissenschaftler, sprach über den Abgrund, in den die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu die israelische Gesellschaft gestürzt hat.
Ein Aspekt dieses Abgrunds ist ein zunehmender akademischer Boykott israelischer Forscher. In einigen westlichen Universitäten und ein oder zwei europäischen Ländern ist der Boykott offiziell. Im Gegensatz dazu hält Deutschland all seine wissenschaftlichen Kooperationsvereinbarungen mit israelischen Instituten ein. Dies ist für viele von uns Akademikern sehr bewegend. Es ist auch klug, denn die israelischen Universitäten sind weit davon entfernt, "mit dem Völkermord zu kooperieren", wie es ihnen einige Boykotteure vorwerfen, sondern sie sind Bastionen des Liberalismus, der jüdisch-arabischen Koexistenz und der Redefreiheit.
Alle Anwesenden waren zutiefst besorgt über die aktuellen Gesetzesentwürfe der Knesset und die bereits eingeleiteten Maßnahmen, die darauf abzielen, die israelischen Medien, pro-demokratische Demonstrationen und sogar Kundgebungen für einen Waffenstillstand und ein Geiselabkommen zu unterdrücken. Auch die Universitäten werden von den Netanjahu-Anhängern weithin als "Feind" betrachtet. Ein spezielles Gesetz soll die Universitäten zwingen, Dozenten zu sanktionieren oder zu entlassen, die "Unterstützung für den Terror" bekunden. Zum Leidwesen der derzeitigen Koalitionsregierung und ihrer Verbündeten kann "Unterstützung des Terrors" auch die bloße menschliche Sorge um unschuldige Zivilisten im Gazastreifen und im Westjordanland bedeuten.
Als Deutschland erwähnt wurde, spitzte ich die Ohren. Als ich gebeten wurde, für diese Publikation einen Beitrag über die israelische Sicht auf das heutige Deutschland zu schreiben, hatte ich mit einem traurigen Lächeln geantwortet. Mein Land und sein öffentlicher Diskurs stecken immer noch tief in ihrem Trauma nach dem 7. Oktober. Die meisten Israelis, darunter auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Journalisten, sind intellektuell und emotional noch immer nicht bereit für ein Gespräch mit der internationalen Gemeinschaft, mit Ausnahme der Vereinigten Staaten. Um es höflich auszudrücken: Nur sehr wenige von uns sind derzeit auf die politische Dynamik in der BRD eingestimmt, und mir ist keine öffentliche Debatte zu diesem Thema bekannt.
Gelegentlich gibt es Berichte aus Berlin, vor allem in der Zeitung Ha'aretz, über die Wahlen im Februar, das Erstarken der extremen Rechten und eine Reihe von Zitaten von Politikern, die Israel unterstützen oder kritisieren. In solchen Berichten wird Israel immer mit der israelischen Regierung gleichgesetzt. Die derzeitige, meiner Meinung nach unumkehrbare Kluft zwischen der israelischen Führung und der Zivilgesellschaft wird von deutschen Politikern leider nicht anerkannt.
Online-Kommentare von israelischen Lesern sind ebenso vereinfachend. Die Kommentatoren erwarten von Deutschland "volle Unterstützung" für Israels Kriege gegen die Hamas, die Hisbollah und andere iranische Stellvertreter, ungeachtet des menschlichen Blutzolls. Folglich wird jede pro-palästinensische Demonstration in Deutschland und jedes Zitat eines deutschen Politikers, der die israelische Politik kritisiert, automatisch als "antisemitisch" registriert. Ein differenzierter Beobachter hätte gesagt, dass einige Verurteilungen antisemitisch sind und andere nicht. Aber nuancierte Beobachter sind sehr dünn gesät.
Die Vertretung Israels in Deutschland ist besser informiert, aber immer noch irreführend. Seit dem 7. Oktober sind mehrere israelische oder ehemalige israelische Intellektuelle in die deutsche Öffentlichkeit getreten und haben antizionistische Ansichten geäußert, die das Existenzrecht Israels leugnen und daher die Zwei-Staaten-Lösung ablehnen und verunglimpfen. Das Problem ist, dass diese Redner der großen Mehrheit der Israelis unbekannt sind und sich ihrerseits nicht dafür interessieren, was die meisten Israelis denken. Die Alternative zu solchen Stimmen (die natürlich völlig legitim sind, aber nicht vorgeben können, die Israelis zu "repräsentieren") sind die offiziellen diplomatischen und politischen Abgesandten der Regierung Netanjahu.
Die große Mitte, Millionen von Israelis wie ich, sind liberale Zionisten, die jetzt glauben, dass die Netanjahu-Regierung ihre Legitimität zum Regieren verloren hat – nicht nur wegen ihres monströsen Versagens am 7. Oktober, sondern auch und vor allem wegen ihres erneuten Angriffs auf die Demokratie, insbesondere auf die Justiz. Eine Mehrheit der Israelis ist auch der Meinung, dass der Krieg in Gaza an sich ein Misserfolg war, vor allem weil es nicht gelungen ist, die Geiseln zu befreien (und einige von ihnen ums Leben kamen), und weil er der Zivilbevölkerung in Gaza Unglück gebracht und dem Ansehen Israels in der Welt großen Schaden zugefügt hat. Ich und andere haben diese selbstkritische "Vox populi" vielen deutschen Zuhörern vorgetragen, aber leider war das nicht genug.
Daher höre ich immer wieder, dass deutsche Freunde, die eine tiefe emotionale Bindung zu Israel haben, sich strikt weigern zu verstehen, dass Deutschland zwischen der Unterstützung Netanjahus und der Unterstützung der israelischen Zivilgesellschaft wählen muss. Selbst wenn sie privat die politische Führung Israels kritisieren, fürchten sie jeden offiziellen Schritt. Vielleicht haben sie Recht. In meinem Buch Deutschland und Israel nach dem 7. Oktober habe ich argumentiert, dass Netanjahu und sein Kabinett offen sanktioniert werden müssen, während die Zivilgesellschaft – das demokratische Lager und das Friedenslager – die Unterstützung Deutschlands verdient. Gleichzeitig wandte ich mich gegen die derzeitige Idee, die "besonderen Beziehungen", Deutschlands Engagement für Israel nach dem Holocaust, abzubauen. Dieses einzigartige Mehrgenerationen-Erbe der Verantwortlichkeit ist entscheidend für die Bürgerrechte aller Minderheiten in Deutschland.
Daher die Frage: Ist es möglich, dass Deutschland seine historische Verantwortung für die Juden und für Israel wahrnimmt und sich gleichzeitig offen gegen das Regime von Netanjahu stellt? Ich denke immer noch, dass die Antwort positiv ist.
In der neuen Ära von Donald Trump mögen solche Dilemmata marginal erscheinen. Die israelische Öffentlichkeit, die tief in ihrer eigenen Blase des kollektiven Schmerzes und der inneren Unruhen versunken ist, mag Recht haben, Deutschland zu diesem Zeitpunkt zu vernachlässigen. Aber wir alle sind uns Trump sehr bewusst, auch wenn wir nicht vorhersagen können, inwieweit seine Taten mit seinen Worten übereinstimmen werden. Vielleicht befreit er die Geiseln, vielleicht handelt er ein regionales Abkommen aus, vielleicht bringt er sogar Frieden in unseren Teil des Nahen Ostens.
Bei all dieser Offenheit vergessen wir eines: Trump wird Israels Justiz, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit sicher nicht verteidigen. Ganz im Gegenteil. Trump arbeitet nach dem gleichen Schema wie Viktor Orban, Mateusz Morawiecki und Netanjahu selbst: die Justiz politisieren, die Menschenrechte beschneiden, die Demokratie auf den Weg in die Autokratie bringen. Und genau deshalb ist Deutschland für die Zukunft Israels nach wie vor unverzichtbar.
Wenn es darum geht, demokratische Werte zu verteidigen, hoffe ich, dass die Israelis Deutschland mehr Aufmerksamkeit schenken. Aber es ist auch wichtig, dass die neue deutsche Regierung, auch wenn sie dazu neigt, Israel mit Netanjahu zu identifizieren, dem bedeutsamen politischen Kampf, der in Israel stattfindet, mehr Aufmerksamkeit schenkt. Es ist ein Kampf um Israels Seele, und wir brauchen Sie auf unserer Seite.