Matthias Claudius zum 200. Todestag
Ein Meister der Entschleunigung
Sein Abendlied »Der Mond ist aufgegangen« kennt noch heute jedes Kind. Doch der Autor dieser Zeilen, der Dichter und Journalist Matthias Claudius, ist fast in Vergessenheit geraten.
Gleich vorweg die skurrilste Geschichte aus Claudius’ Gesammelten Werken – nämlich die „Nachricht“ von einer Audienz beim Kaiser von Japan. Der Dichter, wie immer unter seinem Pseudonym Asmus auftretend, erscheint in einem langen japanischen Kleid über seiner roten Weste und lässt sich von dem ihn begleitenden „Vetter“ die Schleppe tragen. Im Gespräch mit dem Kaiser vertritt Asmus alias Claudius sodann auf ganzer Linie seine ethisch-staatsbürgerlichen Grundüberzeugungen: Der Fürst repräsentiert die von Gott eingesetzte Obrigkeit; solches verpflichtet ihn zu Gerechtigkeit und Menschenliebe, denn alle Menschen sind seine Brüder – „alle Siamer und Chineser, und Malaien, und Moguln, und wir Europäer auch“. Danach geht es richtig zur Sache: Vielweiberei bringt den Menschen um die Erfahrung wahrer Herzensliebe. Auch vor Schmeichelei muss sich der Herrscher hüten: „Hast du wohl eher eine Katze gesehn? Je mehr man der den Rücken streichelt, desto höher hält sie den Schwanz.“
Das missfällt dem Hofmarschall, der auch für den kaiserlichen Harem zuständig ist, auf das Höchste: „Was den Fürsten gelüstet, ist recht, und seine Neigungen sind Winke der Götter“, so erwidert er an Kaisers statt. Und um sich des Störenfrieds aus Wandsbek ein für alle Mal zu entledigen, äußert er die Bitte, der Kaiser möge dem Gast die Gnade angedeihen lassen, „daß er sich in Ihrer hohen Gegenwart den Leib aufschneiden dürfe“. Asmus, der wohl weiß, dass der „bösliche Kaiserschnitt würklich sonst in Japan Mode gewesen ist“, bekommt es mit der Angst zu tun, kann aber den Kopf aus der Schlinge ziehen, indem er vom Kaiser seinerseits ein Ohr des Hofmarschalls erbittet. Der fleht um Gnade; doch Asmus lässt sich auch durch 20 Goldbarren nicht bestechen: Das Ohr sei ihm mehr wert als Goldbarren, die er nicht fortschaffen könne und überdies schon zur Genüge besitze: „Das eine Ohr ist nicht mehr zu retten, mache nur daß du das andre mit Ehren trägst.“ Tatsächlich wird Asmus mit einer Porzellandose beschenkt, in der sich das Ohr des Hofmarschalls befindet. Die Geschichte endet mit dem Satz: „Sobald wir zurück nach Nagasaki kamen, tat ich das Ohr in Spiritus, und band das Glas mit einer Blasen zu.“
In derlei Skurrlitäten verpackt, transportiert die „Nachricht“ ernsthafte philosophische und ethische Sentenzen – bis hin zu einem Lob auf Gotthold Ephraim Lessing als Philosophen der Aufklärung. Das Ganze ist ein in Satire verpackter Fürstenspiegel, zählt also entfernt zu jenem literarischen Genre, das den Regierenden in würdigem Ton ihre Pflichten vorhält. Auch Asmus/Claudius bedient sich im Gespräch mit dem japanischen Kaiser einiger hehrer Worte, bringt jedoch zugleich Dinge ins Spiel, die in derbem Kontrast zu allzu hochtönenden Phrasen stehen. Und solches ist auch generell sein bevorzugtes Stilmittel: Dass unter den Menschen Hoch und Tief, Gut und Böse, Weich und Hart, Derb und Zart engbeieinander liegen, muss auch Dichtung spiegeln, sofern sie bemüht ist, sich an der menschlichen Existenz zu orientieren.
Diese Einstellung lässt sich schön an der bekanntesten Dichtung von Claudius, „Der Mond ist aufgegangen“, ablesen. Deren letzte Strophe lautet:
So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott! mit Strafen,
Und laß uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbar auch!
Man vergleiche dies mit Goethes berühmten „Wanderers Nachtlied“:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Beide Gedichte, fast um dieselbe Zeit entstanden, enden mit dem Wörtlein „auch“ – dichterisch überlegt und beziehungsreich. Und doch gibt es einen großen Unterschied: Während die Worte des Olympiers Goethe „Warte nur, balde ruhest du auch“ etwas Dunkel-Raunendes an sich haben, hört man im Abendlied des Matthias Claudius ganz zum Schluss ein kleines Stimmchen krähen: „Und unsern kranken Nachbar auch!“ Beide Gedichtschlüsse entsprechen ihrer jeweiligen Darbietungssituation: Im Falle Goethes denkt man an ein gebildetes Lesepublikum, das sich die Worte ehrfürchtig auf der Zunge zergehen lässt. Im Fall des Claudius hat man eine christliche Familie vor Augen, welchem vom Hausvater so lange eine kleine Meditation über den Mond vorstellt wird, bis das Jüngste aus aktuellem Anlass das seine dazutut – sicherlich mit Billigung der Eltern.
1783 sind Claudius und Goethe sich persönlich begegnet. Der Wandsbeker Bote, wie er sich nach der einige Jahre von ihm redigierten Zeitung nennt, weilt damals auf Einladung seines Freundes Johann Gottfried Herder in Weimar. Auf einer Kutschfahrt diskutiert man gemeinsam über die Philosophie Spinozas, kommt sich aber offenbar nicht näher. Solches muss nicht verwundern: Claudius knickt zwar nicht vor Geistesgrößen ein, ist jedoch, um aus sich herauszugehen, darauf angewiesen, dass man ihn in seiner Originalität zu schätzen weiß. Solches aber verweigert Goethe, der ihn für einen „Narren voller Einfaltsprätentionen“ hält, welcher „aus einem Fußboten ein Evangelist werden möchte“.
Nicht die schlechteste Beobachtung: Tatsächlich war eine zur Schau getragene Einfalt Claudius’ Markenzeichen; und dass der hochgebildete und studierte Mann im Gewand des schlichen Wandsbeker Boten auch christliche Botschaften und Lebensweisheiten zu überbringen gedachte, versteht sich von selbst. Andererseits war das keine Attitüde, sondern Lebensüberzeugung: Was sich nicht auch schlicht sagen ließ, war seinerseits bloße Prätention – drastisch gesprochen: Blendwerk und Angeberei. Und wer seine Überzeugungen nicht auch via Humor, Mutterwitz oder Satire an den Mann oder die Frau zu bringen wusste, der hatte auch kein Rezept, um an die tieferen Schichten des Menschen heranzukommen – an die Schichten nämlich, die das Herz beherbergen und das Lachen stimulieren.
Wer war dieser Claudius, der einerseits mit den Gebildeten seiner Zeit auf meistenteils gutem Fuß stand, der das Lateinische, Griechische und Französische beherrschte? Und der andererseits beim Schreiben und Dichten dem Volk auf Maul schaute – auch wenn er sicherlich mehr das Bürgertum als die einfachen Leute bediente. Die kannten, so sehr er sich für sie einsetzte, vielleicht nicht viel mehr als die im evangelischen Gesangbuch enthaltenen Lieder „Der Mond ist aufgegangen“ und „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land“. Ja – wer war er? Aussteiger, Hausvater und christlicher Epikureer in einem!
Ein angenehmer Plauderer
1740 im holsteinischen Reinfeld geboren, wuchs er in einem Pfarrhaus auf; und nicht nur sein Vater war Pastor, sondern auch viele seiner Vorfahren zählten zu diesem Berufsstand; auch einige seiner Söhne wurden Pastoren. Nach einem Studium in Jena, das ihn wegen ersichtlicher Lebensferne wenig begeisterte, wurde Claudius Redakteur erst einer Hamburger Zeitung, dann des Wandsbeker Boten, dessen Verleger Graf Schimmelmann, einer der reichsten Männer Europas, dänischer Untertan war. Jedoch empfand Claudius die tägliche Redaktionsarbeit als Tretmühle; und bevor er seinen literarischen Mutterwitz über dem Alltagsgeschäft zu verlieren drohte, schied er aus. Doch wie sollte er für seine wachsende Familie sorgen – für seine geliebte Rebekka, Tochter eines Wandsbeker Zimmermanns, die ihm insgesamt elf, zum Teil früh verstorbene Kinder gebar?
Der Versuch, in Darmstadt als Sachverständiger für Landreformen Fuß zu fassen, scheiterte rasch. Nach Wandsbek zurückgekehrt, verlegte er sich auf das Betreiben eines winzigen Internats, auf die Übersetzung französischer Bücher und auf seine Schriftstellerei. Natürlich konnte er nicht davon leben, was ihm der Verkauf der acht Teile seiner Sämtlichen Werke einbrachte; doch immerhin liebte sein gar nicht einmal kleines Publikum die spezifische Mischung von hintergründig-scherzhaften Kurzdialogen zwischen Hinz und Kunz; von Sinnsprüchen, Gedichten und meist launigen Briefen an den Vetter Andres; von gelehrten Abhandlungen, Buchbesprechungen und kleinen Meditationen. Das hatte – auch wegen der Illustrationen des Kupferstechers Daniel Chodowiecki – etwas Kalenderhaftes, das niemanden einschüchterte, vielmehr jedermann zum „Mitschnacken“ einlud. Gleichwohl konnte Claudius die Rolle eines Aussteigers mit der des Hausvaters auf die Dauer nur verbinden, weil ihm das dänische Königshaus kleine Renten aussetzte.
Was kann uns Claudius heute bedeuten? Unlängst ist im Verlag Hamburger Edition ein Buch-Essay Heinz Budes mit dem Titel „Gesellschaft der Angst“ erschienen. Der bekannte Soziologe beschreibt darin die unterschwellige oder auch offenkundige Angst, die unsere Gesellschaft dadurch produziert, dass sie den Einzelnen einem fatalen Leistungsdruck unterwirft, ohne ihm als Äquivalent berufliche Sicherheit zu bieten. Und oft genug muss man sich verrenken, um der Umwelt eine adäquate „Performance“ zu bieten: Da ist ständige Selbstüberbietung angesagt. Womöglich ist das weniger neu als es den Anschein hat; vielleicht hat es das im Zeichen der Aufklärung schon zu Claudius’ Zeiten gegeben. Jedenfalls hat der Wandsbeker Bote nach meiner Einschätzung selbst unter vergleichbaren Ängsten gelitten. Doch das entscheidende ist: Er hat ihnen nicht nachgegeben. Als christlicher Epikureer, wie ich ihn oben genannt habe, war ihm die Sinnlosigkeit eines Lebens bewusst, das von einem Karriere-Ziel zum nächsten hetzt und nicht mehr weiß, was Leben bedeutet. Das Wort Entschleunigung hat Claudius zwar noch nicht gekannt, aber er hat es gelebt.
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