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Strandgut der Poesie

Forum - Strandgut der Poesie
Der Poet und leidenschaftliche Sammler Pablo Neruda gönnt sich 1972 in seinem Haus in Santiago de Chile eine Pause. © farabola/bridgeman images

Vor 50 Jahren starb Pablo Neruda. Sein literarisches Erbe mag inzwischen ein wenig verblasst sein, doch die Relikte seiner närrischen Sammelleidenschaft erwecken den chilenischen Dichter und sein Werk beharrlich zu neuem Leben.

Volker Mehnert01.09.2023

Von Beginn an wehte ein Hauch von Zweifel über dem Tod des Dichters am 23. September 1973, zwölf Tage nach dem blutigen Putsch des chilenischen Militärs gegen die Regierung des gewählten Präsidenten Salvador Allende. War er wirklich, wie amtlich behauptet, an seiner Krebserkrankung gestorben, oder hatte jemand nachgeholfen? Aber, so dachten selbst Verwandte und enge Weggefährten, warum sollte man einen Mann umbringen, der sowieso nicht mehr lange zu leben hätte? Der Tod von Präsident Allende gab schon genug Rätsel auf, und schließlich waren Trauer und Wut über die Folterung und Ermordung Tausender Menschen im ganzen Land so großdass man sich nicht mit einem Zweifelsfall abgeben mochte. Sollte man Neruda nicht einfach in Frieden ruhen lassen?


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Erst Jahrzehnte später, nach einer Exhumierung des Leichnams, erschien der angebliche Krebstod Nerudas ausgeschlossen, und ausgerechnet zum 50. Todestag scheint jetzt nach der erneuten Untersuchung eines internationalen Spezialistenteams festzustehen, dass der Dichter mit ziemlicher Sicherheit vergiftet wurde. Seine Absicht, ins mexikanische Exil zu gehen, um von dort aus mit letzter Kraft den Widerstand gegen das Militärregime zu koordinieren, war wohl Bedrohung genug. Während die Junta heuchlerisch eine dreitägige Staatstrauer angeordnet hatte, galt ihr der Dichter mit seiner sozialistischen Weltsicht in Wahrheit als einer der ärgsten Feinde.

Ein Macho mit Nobelpreis

Als Mensch musste man Pablo Neruda nicht unbedingt mögen. Er war ein lateinamerikanischer Macho alter Schule, überließ seine erkrankte und früh verstorbene Tochter Malva rücksichtslos ihrem Schicksal, schrieb Hymnen auf Stalin und bekannte sich in seinen Memoiren, leicht poetisch verblümt, zur Vergewaltigung eines Dienstmädchens. Auch wenn er 1971 den Nobelpreis für Literatur erhielt, ist seine Dichtung manchmal schwer verdaulich. Vieles besteht aus banaler politischer Propaganda oder einer verschwurbelten Erotik. Hinzu kommt ein allzu andachtsvoller und schwärmerischer Sprachstil, gespickt mit einer unendlichen Fülle von mehr oder weniger passenden Metaphern und Allegorien.

Das literarische Erbe des Dichters ist deshalb inzwischen auch in Chile ein wenig verblasst, doch geblieben ist ein opulenter materieller Nachlass, der nicht nur für Neruda-Verehrer faszinierend ist und immer wieder einen frischen, lebendigen Blick auf sein Leben und seine Poesie ermöglicht. Nerudas drei Anwesen in Santiago, Valparaíso und im Küstenort Isla Negra sind bis unter die Decke vollgestopft mit all den Dingen, die er während seiner Reisen durch Chile und die Welt gekauft, erbettelt und manchmal auch schlichtweg stibitzt hatte. Er war ein närrischer Liebhaber von Gegenständen, die seine Wege kreuzten und die er unbedingt besitzen musste: wertvolle präkolumbianische Miniaturen und afrikanische Masken, verzierte Kerzenständer, kunstvoll geschnitzte Steigbügel und ein lebensgroßes Pferd aus Pappmaschee, Musikinstrumente und Grammofone, teure Uhren und rustikale Keramiken, bemalte Steine, Tausende bunte und kurios geformte Flaschen, Gläser und Kelche, dazu Schmetterlinge und Käfer für die Ausstattung eines ganzen naturkundlichen Museums.

„Ich habe kleine und große Spielzeuge zusammengetragen, ohne die ich nicht leben könnte“, schrieb er, „ich habe sie mein ganzes Leben hindurch gesammelt mit der wissenschaftlichen Absicht, mich allein mit ihnen zu unterhalten.“ Und während dieser Unterhaltung dichtete er unermüdlich Verse, denn er liebte nicht nur die Dinge und die Worte, sondern vor allem Worte über genau die Dinge, die er in seiner Sammlung täglich vor Augen hatte. In seinem Werk gibt es Oden an die Zwiebel, den Teller, das Bett, die Seife, an eine Uhr in der Nacht, an den Geruch des Holzes. So machte er den Umgang mit seinen Schätzen zum poetischen Ereignis, verwandelte Dinge in Dichtung, Profanes in Magisches, Offenkundiges in Geheimnisvolles.

Verse schmieden im Meerversteck

Vor allem sein Haus in Isla Negra wuchs Neruda ans Herz. Von Anfang an ließ er es unermüdlich ausbauen, umbauen und erweitern – je nach Bedarf und den vorhandenen Finanzen. Wuchs seine Sammlung, dann fügte er neue Zimmer hinzu, baute einen Erker an, setzte andere Fenster ein oder mauerte Türen zu. Den Neigungen des Sammlers folgten die Launen eines laienhaften Baumeisters. Immer achtete er darauf, dass er durch die Fenster möglichst den Pazifischen Ozean vor Augen hatte, dessen gewaltige Brandung ihn bei seinem rastlosen Verseschmieden inspirierte. So erfüllte sich seine grenzenlose Leidenschaft für das Meer, und er bekam das Gefühl, es für sich allein zu besitzen: „Der Pazifische Ozean verschwand von der Landkarte. Keiner wusste, wo man ihn hintun sollte. Er war so groß, so aufgewühlt, so blau, dass er nirgends hinpasste. Deshalb hat man ihn vor mein Fenster gehängt.“ In diesem Haus, seinem „Meerversteck“, schrieb er den Canto General, eines seiner Hauptwerke: „Die wilde Küste von Isla Negra mit ihrem ozeanischen Aufruhr gestattete mir, mich mit Leidenschaft der Aufgabe meines neuen Gesangs zu widmen.“

Nirgendwo sonst kommt man dem Dichter und seinem Werk so nahe, denn hier hat er das schönste Strandgut seiner Poesie zusammengetragen: Reliquien aus seinem bewegten Leben, Andenken an Freundschaften und Liebschaften, Zeugnisse seines Handelns und Dichtens in Chile und in der Welt. In diesem Haus sind auch die originellsten Stücke seiner Sammlung zu bewundern, von denen die meisten mit dem Meer und der Seefahrt zu tun haben. Muscheln und Meeresschnecken finden sich im Überfluss, dazu Buddelschiffe, Fischernetze und Bojen, antike Fernrohre, Sextanten, Kompasse und ein seltener Narwalzahn. Besonders erlesene Exemplare sind die wundervollen Galionsfiguren aus Holz, zumeist Frauenkörper, aber auch die Büsten der Piraten Francis Drake und Henry Morgan. Auf der Terrasse zum Meer hin liegen ein riesiger Anker und ein Segelboot, ein steinernes Seepferdchen ziert die Begrenzungsmauer. All dies summiert sich zu einem visuellen Kompendium, in dem man Nerudas Poesie in materieller Form wiederfinden oder umgekehrt in den Gegenständen seine Verse lesen kann.

Im Garten hat man Pablo Neruda neben seiner Frau Matilde begraben, und von dort aus kann er nach wie vor das Rauschen seiner geliebten Brandung hören. Denn wenn man seinen poetischen Fantasien Glauben schenken darf, dann treibt er sich auch weiterhin am Strand von Isla Negra herum: „Wenn ich nicht mehr lebe, dann sucht hier, sucht mich hier zwischen Felsen und Ozean, im stürmischen Licht des Meerschaums.