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Wer hat Angst vorm großen Meer?

 - Wer hat Angst vorm großen Meer?
© Pixabay

Als sich europäische Kapitäne noch argwöhnisch und vorsichtig auf die unbekannten Ozeane hinauswagten, hatten Generationen von Seefahrern auf der anderen Seite des Globus bereits nautische Bravourstücke ganz anderen Kalibers vollbracht.

Volker Mehnert05.07.2022

Nein, es waren weder das Kap der Guten Hoffnung noch Kap Hoorn oder die Nordwest-Passage, die einst als größte Herausforderung für die christliche Seefahrt erschienen. Es war vielmehr eine heute kaum noch bekannte Landzunge an der Nordwestküste Afrikas, die den Seeleuten alles abverlangte. Und es waren weder Kolumbus noch Magellan oder James Cook, die den größten nautischen Entdeckermut bewiesen, sondern ein inzwischen fast vergessener Kapitän aus Portugal.

Aber worin bestand das seemännische Problem? Schließlich waren die Völker rund ums Mittelmeer seit der Antike mit den Gefahren des Meeres vertraut und hatten dessen Tücken mit immer besseren Schiffstypen und Navigationshilfen beherrschbar gemacht. "Navigare necesse est!" war nicht nur der berühmte Aufruf des römischen Feldherrn Pompeius an seine Matrosen, als diese sich weigerten bei Sturm den Hafen zu verlassen. Es war eine Devise im Alltag von Handel und Wandel bei Ägyptern, Phöniziern, Römern und Griechen. Auch der maritime Kurs vom Mittelmeer durch die "Säulen des Herakles" auf den Atlantik erschien spätestens im ausgehenden Mittelalter nicht mehr als Reise ins Nichts, und längst war bekannt, dass die Erde keine Scheibe ist, dass man also beim Segeln auf unbekanntem Meer nicht über den Rand in die Unendlichkeit stürzt. Und doch gab es unter europäischen Seeleuten diese ungeheure Angst vor dem weiten Ozean, die sich auf einen geographischen Punkt an der afrikanischen Küste fixierte: Kap Bojador.   

Mehr als ein Jahrzehnt lang hatte der portugiesische Infant Dom Henrique, der später den Beinamen "O Navegador" erhielt, seine Kapitäne beschworen, diese vermaledeite Landzunge zu umschiffen, doch alle waren davor zurückgeschreckt. Denn jenseits von Kap Bojador phantasierte man sich das "mar tenebroso" zurecht, ein Meer der Finsternis, aus dem kein Schiff jemals zurückkehren könnte. Es war die Grenze der damals bekannten Welt, wo angeblich gefährliche Strudel die Schiffe in die Tiefe zögen. Dort begänne ein kochender Ozean mit Riesenfischen, Seeungeheuern und einer glühenden Sonne, die jeden Weißen zum Schwarzen verbrennen würde. Die Seekarten jener Zeit mit ihren eingezeichneten Bestien, Fabelwesen und eingebildeten Monstern sprechen Bände.

Eine mentale Barriere auf dem Wasser

Im Hafen von Sagres, an der westlichen Algarve, versammelte Dom Henrique seine Kapitäne, las ihnen zahlreiche Chroniken von Reisen nach Afrika und Asien vor und zeigte ihnen die Karten arabischer Händler, um zu belegen, dass die Welt südlich der Kanarischen Inseln nicht zu Ende wäre. "Und wahrhaftig", so zitierte ihn der zeitgenössische königliche Chronist Gomes Eanes de Zurara, "ich wundere mich, was das für ein Wahn sein soll, dass ihr alle durch eine Sache von so geringer Wahrscheinlichkeit gefesselt seid." Ausgerechnet die Berichte der verhassten muslimischen Feinde, die man gerade von der Iberischen Halbinsel zurückdrängte, nahm der Prinz ernster als die Vorstellungen und Legenden seiner eigenen Kultur. Mit diesen unkonventionellen Ideen ließ er viele geistige und praktische Beschränkungen seiner Zeit hinter sich. Doch das beschränkte Wissen der Geographen, die Verblendungen des finsteren Mittelalters und der Aberglaube ganzer Generationen ließen sich auch mit derlei schriftlichen Dokumenten, eindringlichen Worten und königlichen Befehlen nicht einfach vom Tisch wischen.

Immer wieder kamen die portugiesischen Kapitäne deshalb unverrichteter Dinge von ihren Fahrten entlang der nordafrikanischen Küste in Richtung auf das unbekannte, gefürchtete Meer zurück. Am Kap Bojador, das mit seinen Riffen, Untiefen und Strömungen tatsächlich eine gefährliche Passage für die Schifffahrt darstellt, traute sich keiner vorbei. Die mentale Barriere spielte dabei allerdings eine weitaus größere Rolle als das natürliche Hindernis, das von den erfahrenen Seeleuten durchaus beherrschbar gewesen wäre, zumal sie mittlerweile über einen völlig neuen Schiffstyp verfügten, dessen Bau Dom Henrique auf den Werften in Lagos in Auftrag gegeben hatte. Die "caravela latina" war ein etwa zwanzig Meter langes Schiff, dessen Konstruktionsweise die Vorteile der Hansekoggen mit der Beseglung arabischer Vorbilder vereinte und sie deshalb stabiler, wendiger und manövrierfähiger als bisherige Schiffe machte.

Einer wagte es schließlich. Gil Eanes, Kapitän aus dem Städtchen Lagos an der Algarve, mag nicht der bedeutendste aller Seefahrer gewesen sein, der mutigste aber war er allemal. 1434 segelte er mit seiner Karavelle nach Süden, passierte die Kanarischen Inseln und die marokkanische Küste und traute sich über den Rand des mutmaßlichen Höllenschlunds hinaus. Er umschiffte mit seiner Mannschaft das berüchtigte Kap und fand alles anders vor als befürchtet: Die Küste, der Ozean und damit die Welt an sich waren tatsächlich nicht zu Ende.

Ein offenes Tor zu den Weltmeeren

Der Kapitän hatte den Bann gebrochen und die größte Blockade der christlichen Seefahrt und des mittelalterlichen Denkens aufgelöst. Mit einer einzigen, nautisch und entfernungsmäßig eigentlich unspektakulären Reise war das Tor zu den Weltmeeren plötzlich weit geöffnet. "Die meiste Arbeit ist getan", schrieb Gomes Eanes de Zurara daraufhin. "Die Ausbeutung der neuentdeckten Länder braucht keinen kühnen Geist mehr, keinen Forscherdrang." Im Schatten der aufsehenerregenden Expeditionen, durch die europäische Seefahrer in den folgenden hundert Jahren mit Atlantik, Indischem Ozean und Pazifik vertraut wurden, verblasste allerdings die Erinnerung an Gil Eanes. Bis heute kennt man weder seinen Geburts- noch Todestag. In Lagos hat man ihm, reichlich versteckt, ein Denkmal gesetzt.

Viele andere europäische Seefahrer aber – beispielhaft genannt seien nur Vasco da Gama, Amerigo Vespucci, James Cook und John Franklin – umweht bis heute der kolonialistisch geprägte Hauch des Heldentums, oder man fabriziert romantische Bilder von kühnen Abenteurern. Dabei streift der eingeschränkte Blick nur am Rande weitere Seefahrer, die sich nicht weniger mutig auf den unbekannten Ozean hinauswagten. Noch immer gilt der Wikinger Leif Eriksson mehr als skandinavische Sagengestalt denn als historische Person, obwohl inzwischen erwiesen ist, dass er zusammen mit seinen nordischen Haudegen ein halbes Jahrtausend vor Kolumbus den amerikanischen Kontinent erreicht hatte. Vorzugsweise als arabische Legende behandelt man hierzulande auch die schwer zu beweisende Geschichte des westafrikanischen Königs Abubakari, der um das Jahr 1300 herum sein Reich verlassen haben soll, um auf dem Atlantik nach den Grenzen des Ozeans zu suchen. Und wer kennt schon den chinesischen Admiral Zheng He, der – historisch dokumentiert – in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit einer gewaltigen Flotte von mehr als dreihundert Dschunken nach Indien, Arabien und Ostafrika segelte?

Eine maritime Völkerwanderung

Während sich in den vergangenen drei Jahrzehnten vor allem auf der Iberischen Halbinsel die 500-Jahrfeiern der europäischen Entdeckungsfahrten häuften, verblassen im Schatten dieser Erfolgsgeschichten jene denkwürdigen Expeditionen, die im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung von polynesischen Seefahrern auf der anderen Seite des Globus unternommen wurden. Sie können sich ohne Zweifel mit den Fahrten der Portugiesen und Spanier nach Indien und Amerika und sogar mit den Weltumseglungen von Magellan und James Cook messen, sind ihnen vielleicht sogar überlegen. Damals war die Insel Raiatea in der Nähe von Tahiti ein kulturelles Zentrum und der Ausgangspunkt für eine maritime Völkerwanderung, die den gesamten Pazifik zwischen Neuseeland, Hawaii und der Osterinsel umfasste. Die Polynesier entdeckten und besiedelten Hunderte von Inseln und wagten sich immer wieder aufs Neue in die unbekannten Weiten des Pazifiks hinaus – zu einer Zeit als die Europäer sich noch auf den Schiffsverkehr im Mittelmeer beschränkten oder ängstlich an den Küsten der Ozeane entlangsegelten. Als spanische, englische und französische Schiffe schließlich die Südsee erreichten, waren dort alle bewohnbaren Inseln bereits seit mehreren hundert Jahren besiedelt.

Mit dem Sternenkompass hatten sich die Polynesier ein raffiniertes navigatorisches Hilfsmittel geschaffen, das sie ohne Instrumente über die Weiten des Meeres leitete: Die Schiffsführer merkten sich alle Punkte am Horizont, an denen zu den verschiedenen Jahreszeiten Sonne, Mond und viele Gestirne auf- und untergingen und setzten sie in Beziehung zu den bekannten Inseln. So wussten sie immer, in welche Richtung sie segelten. Kam der Wind einmal nicht, wie gewöhnlich, aus Osten, dann legten die Kanuflottillen ab, kreuzten auch einmal, soweit dies möglich war, gegen den Ostwind, und hatten so die Garantie, mit dem vorherrschenden Wind wieder zurückzukommen, wenn keine neue Insel gefunden wurde. Eine Rückreise also war immer eingeplant. War der Himmel bewölkt, behalfen sie sich vorübergehend mit Windrichtungen und Strömungen. Land musste nach Möglichkeit erkannt werden, bevor es tatsächlich ins Blickfeld geriet: durch Vogelflug, Wolkenformationen und Treibgut. Neben dem Sternenkompass bedurfte es außerdem seemännischer Hardware: Das Auslegerkanu und der Katamaran mit Segeln aus Palmenblättern waren die bahnbrechenden Erfindungen, die wochenlange Fahrten auf hoher See ermöglichten.

Der Ozean als Maß aller Dinge

Dabei waren es keine zufälligen Abenteuerreisen, sondern gezielte Entdeckungsfahrten auf der Suche nach Neuland. Auf den winzigen Inseln wurden vermutlich immer wieder die Lebensmittel knapp, Lagunen waren leergefischt, Inzucht sollte vermieden werden. Zwischen alten und neuen Siedlungen gab es regelmäßige Verbindungen, denn die Seefahrer wussten genau, zu welcher Jahreszeit sie welche Insel am besten erreichen konnten. Als der Weg nach Osten dann versperrt war, entweder, weil man über eine weite Strecke keine Inseln mehr fand oder weil man auf die Barriere des amerikanischen Kontinents stieß, segelten die Insulaner in andere Richtungen: nach Norden bis Hawaii und sogar dreitausend Kilometer nach Südwesten bis Neuseeland. Die Polynesier waren damals das Volk, das sich am weitesten auf dem Erdball verbreitet hatte. Raiatea war nicht der Ausgangspunkt für alle Entdeckungsfahrten, aber auf der heiligen Insel schlug das Herz der kulturellen Expansion. Die spirituelle Saat von Raiatea trug überall in der Südsee ihre Früchte. Dort holten sich die Seeleute Mut und die Kraft für ihre Abenteuer, und später kamen Häuptlinge aus Neuseeland, Tonga oder Samoa, um sich zu treffen und den Göttern zu opfern. Die Insel wurde zu einer Art Mekka der Südsee. Im 14. oder 15. Jahrhundert aber waren die Streifzüge über den Ozean aus nicht mehr bekannten Gründen beendet, der Kontakt zwischen vielen Inselgruppen riss ab.

Der Blick aufs Meer muss in der Südsee ein völlig anderer gewesen sein als in Europa, Afrika oder Asien. Es war hier nicht das Land, das als umfassende und bestimmende Bezugsgröße galt und an dessen Rändern irgendwo ein schwer zugängliches, manchmal furchteinflößendes Meer begann. In Polynesien war es der Ozean, der von vornherein als Maß aller Dinge erschien und der den Menschen in seinen endlosen Weiten hin und wieder einen winzigen Flecken Erde bereitstellte. In alten Legenden wird das Segeln zu fernen Ufern und das Entdecken von Neuland deshalb als alltägliche Handlung beschrieben und mit dem Fischen gleichgesetzt: Der tüchtige Seefahrer angelt sich seine Inseln aus dem Ozean. So relativierte sich für die Polynesier vermutlich auch die Furcht vor dem Meer, die sich für die abendländischen Seefahrer nicht nur am Kap Bojador aus der Landgebundenheit ihres Denkens ergeben hatte.