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Der Revoluzzer inszeniert seine eigene Legende

Forum - Der Revoluzzer inszeniert seine eigene Legende
Am 6. Dezember 1914 kam es zum legendären Treffen der Revolutionsführer Emiliano Zapata (mit Sombrero) und Pancho Villa (links daneben) im Präsidentenpalast von Mexiko-Stadt. Sie fanden allerdings keine gemeinsame Strategie. © picture-alliance/akg-images

Vor 100 Jahren starb Pancho Villa, einer der bizarrsten Charaktere des 20. Jahrhunderts. Sein martialischer Tod im Kugelhagel der Attentäter verfestigte endgültig einen Heldenmythos, der schon zu Lebzeiten dieses mexikanischen Caudillos übersteigerte Ausmaße erreicht hatte.

Volker Mehnert01.07.2023

Zum ersten Mal hautnah begegnet bin ich dem Mythos von Pancho Villa in der Bar La Opera in Mexiko-Stadt. Dort konservieren sie mit viel Brimborium ein Einschussloch in der verzierten Stuckdecke, das angeblich aus der Pistole des Haudegens stammt. Einer ausgeuferten Rauferei soll er mit diesem Warnschuss ein Ende bereitet haben. Wahrheit, Lüge oder bloß eine schöne Geschichte? Keiner weiß es wirklich.

So ist das überhaupt mit vielen Facetten im Leben dieses Francisco Villa, der eigentlich gar nicht so hieß, sondern 1878 als Doroteo Arango geboren wurde. Warum und wann er sich das Pseudonym zulegte, schon darüber gibt es ein halbes Dutzend Erzählungen. Und Einigkeit herrscht erst recht nicht über die Bewertung seiner Rolle in der mexikanischen Geschichte. Was soll man von einem Menschen halten, der sich als Bandit und Wohltäter für die Armen betätigte, sich vom Viehdieb zum Großgrundbesitzer mauserte, als grausamer Mordbube und Eisenbahnräuber ebenso Furore machte wie als Gerechtigkeitsfanatiker, General und Gouverneur?

Los geht die wilde, verwegene Geschichte mit der Vergewaltigung von Doroteos Schwester durch einen Grundbesitzer. Der Junge nimmt angeblich blutige Rache und muss daraufhin in die Einsamkeit der Berge flüchten. Dort kommt er mit Banditen in Kontakt, raubt und mordet und verteilt die überschüssige Beute an die arme Landbevölkerung. Ob er tatsächlich der „Robin Hood der Sierra Madre“ ist, sei dahingestellt. Jedenfalls wird er zum respektierten Anführer, zwischenzeitlich gefangen genommen, zum Tode verurteilt, im letzten Moment begnadigt und ins Gefängnis gesteckt, aus dem er unter kuriosen Umständen flieht. Als 1910 der Aufstand gegen den Diktator Porfirio Díaz beginnt, reiht sich Pancho Villa mit seinen Bandoleros in die Kämpfe ein. Schlachten quer durch den mexikanischen Norden werden gewonnen und verloren, Städte erobert und aufgegeben, Allianzen zwischen den Revolutionsführern geschmiedet und verraten. Villa behauptet sich als Befehlshaber der legendären „División del Norte“, die den Regierungstruppen der „Federales“ immer wieder schwere Niederlagen bereitet.

Der erste Influencer

Ein genialer Schachzug gelingt ihm Anfang 1914 mit der Einladung eines Filmteams aus Hollywood, das den Kriegsverlauf begleitet, um daraus einen Film fürs nordamerikanische Publikum zu produzieren. Als Regisseur mit von der Partie ist Raoul Walsh, der später mehr als 100 erfolgreiche Filme drehen wird. In Mexiko inszeniert er eine Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm, in der Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen. Pancho Villa, von der Requisite mit blitzsauberen Uniformen ausgestattet, wird als mutiger General und Befreier dargestellt, der sich im Übrigen selbst spielt und so unwiderstehlich an seiner eigenen Legende bastelt. Mitunter wird der Krieg an die Bedürfnisse der Kameraleute angepasst: Angriffe und Überfälle finden nicht mehr nachts statt, sondern wegen des besseren Lichts nach Morgengrauen; wenn nötig, werden Szenen auch später noch einmal nachgestellt. Als der Streifen The Life of General Villa in New York uraufgeführt wird, ist der Mythos des revolutionären Helden auf der internationalen Bühne angekommen, und die politische und militärische Unterstützung der Aufständischen durch die Vereinigten Staaten hat ihre zeitgemäße propagandistische Begleitung gefunden. Acht Jahrzehnte vor CNN und den Irakkriegen haben „embedded journalists“ eine „scripted reality“ erfunden, und Pancho Villa lässt sich aus heutiger Sicht mit Fug und Recht als raffinierter Influencer in eigener Sache bezeichnen.

Im Dezember 1914 rückt Villa mit seinem zusammengewürfelten Haufen aus Banditen, Bauern und desertierten Soldaten in der Hauptstadt ein. Dort kommt es zum historischen Treffen mit dem charismatischen Anführer Emiliano Zapata, dessen revolutionäre Bewegung sich im Süden des Landes formiert hat. Berühmt ist das Foto der beiden im Präsidentenpalast von Mexiko-Stadt. Für kurze Zeit sonnen sie sich im Glanz einer dubiosen Macht, mit der sie offenbar wenig anzufangen wissen. Sie finden keine gemeinsame Strategie, sodass sich Zapatas Bauern wieder aufs Land zurückziehen, während sich Villa mit der Gegenoffensive der neu formierten Federales herumschlägt und nach Norden zurückweichen muss.

„Most wanted man“

Die Revolution geht über in einen Bürgerkrieg, die División del Norte wird aufgerieben, und Villas verbliebene Truppen führen einen wenig erfolgreichen Guerillakampf. Ein Interim als Gouverneur des Bundesstaates Chihuahua ist nur von kurzer Dauer. Als die Regierung in Washington die Fronten wechselt und nun die Staatsmacht unter dem neuen Präsidenten Carranza unterstützt, wagt Pancho Villa ein freches Husarenstück, das seinen Nachruhm weiter bestärken wird. Mit einem Haufen Reiter überquert er im März 1916 die Grenze zu den Vereinigten Staaten und überfällt dort das kleine Städtchen Columbus – bis heute in Mexiko euphemistisch als einzige „Invasion“ auf dem Festland des mächtigen Nachbarn gefeiert.

Der angerichtete Schaden ist gering, doch Washington fühlt sich tief getroffen und ordnet eine Strafexpedition unter dem späteren Weltkriegsgeneral John Pershing an. Mit mehr als 10.000 Soldaten, Kavallerie, schwerer Artillerie und sogar Flugzeugen jagt er elf Monate lang den mexikanischen Desperado – vergeblich. Pancho Villa bleibt verschwunden und avanciert nun erst recht zum Symbol des Widerstands gegen überlegene Mächte. „Sie kamen wie stolze Adler und gingen wie begossene Hühner“, kann Amerikas „most wanted man“ schließlich triumphierend verkünden.

Anschließend schlägt er sich jahrelang mal mehr, mal weniger erfolgreich mit den mexikanischen Regierungstruppen herum, bis 1920 ein Abkommen geschlossen wird, das Villa den Rückzug als Grundbesitzer auf eine Hacienda in Chihuahua ermöglicht. Offenbar traut man dem friedlichen Rentnerdasein des Caudillos jedoch nicht über den Weg, denn am 20. Juli 1923 gerät er mit seinem Auto in einen Hinterhalt und stirbt im Kugelhagel. Die Auftraggeber dieses sorgfältig geplanten Attentats werden nie ermittelt. Nach Tausenden Gefahren in Krieg und Kampf stirbt der ehemalige Revoluzzer während einer schnöden Dienstfahrt – der letzte Baustein im Monument für einen Nationalhelden.

Und heute? Der mexikanische Präsident López Obrador hat anlässlich des 100. Todestages das Jahr 2023 zum „Año de Francisco Villa“ erklärt. Alle amtlichen Dokumente sind zwölf Monate lang versehen mit dem Porträt des Revolutionärs, das auch bei sämtlichen offiziellen Auftritten des Präsidenten im Hintergrund erscheint. Und in der Bar La Opera dürften die Kellner angesichts dieser aktuellen Huldigung ihre Gäste mit dramatisierten Versionen des Pistolero-Zwischenfalls unterhalten.