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Vom Río Grande bis nach Feuerland
Eine hochfliegende Vision schien Wirklichkeit zu werden: Nach dem Vorbild der USA sollten im Süden des Kontinents die Vereinigten Staaten von Lateinamerika entstehen. Vor 200 Jahren, im Mai 1822, befand sich das ambitionierte Vorhaben auf dem allerbesten Weg.
Eines Tages werden wir den Vulkan Chimborazo erklettern und auf dem verschneiten Gipfel die Flagge des Großen Amerika hissen, vereint und frei für alle Zeiten.“ So oder so ähnlich schwärmte der General Simón José Antonio de la Santísima Trinidad Bolívar y Palacios, kurz Simón Bolívar, von der Zukunft des Kontinents. In Südamerika gilt er als „El Libertador“, weil er nach jahrlangen Kämpfen mit seiner zusammengewürfelten Armee große Teile des spanischen Kolonialreiches in die Unabhängigkeit vom Mutterland geführt hatte. Den hoffnungsfrohen Bergsteigertraum vom Chimborazo formuliert der Befreier im Roman Der General in seinem Labyrinth von Gabriel García Márquez, in dem der lateinamerikanische Kultautor von Bolívars letzter Reise kurz vor dessen Lebensende erzählt.
Jahre vorher hatte Bolívar in der Tat das Fundament für eine kontinentale Nation gelegt, die vom Río Grande im Norden bis nach Feuerland im Süden reichen sollte. Nach der siegreichen Schlacht von Boyacá im Jahr 1819 rief er zusammen mit einigen Mitstreitern die República de Colombia aus, die das heutige Territorium von Kolumbien, Venezuela und Panama umfasste und sich zwei Jahre später eine Verfassung gab. Als Hauptstadt wurde Bogotá festgelegt, als erster Präsident fungierte Simón Bolívar selbst.
Ein flüchtiger Status quo
Kurz darauf, am 24. Mai 1822, erfolgte in der Schlacht am Vulkan Pichincha bei Quito der nächste militärische Schlag gegen die Spanier. In der Folge konnten auch das heutige Ecuador sowie Teile von Nordperu und Guayana in den aufstrebenden Staat eingegliedert werden, der von der Geschichtsschreibung rückblickend als „Gran Colombia“ bezeichnet wird. Das Projekt „Vereinigte Staaten von Lateinamerika“ schien auf dem allerbesten Weg. Doch es war nur der flüchtige Status quo dieser neuen ambitionierten Nation. Denn ihre größte Ausdehnung und Bedeutung auf der internationalen Landkarte hatte sie bereits in diesem kurzen historischen Moment erreicht – unter einem hastig und notdürftig zusammengezimmerten politischen und militärischen Dach.
Weitere Feldzüge Bolívars und seiner Truppen Richtung Süden sowie die erstrebte Angliederung zusätzlicher Territorien im heutigen Peru und Bolivien scheiterten am spanischen Widerstand und an den Unabhängigkeitsbestrebungen von konkurrierenden „Libertadores“. Auch innerhalb von Großkolumbien traten divergierende Interessen und grundlegende Meinungsverschiedenheiten zutage, nachdem die kollektive Gegnerschaft zum spanischen Mutterland nicht mehr zusammenschweißte. Sogar Simón Bolívar selbst fiel trotz seines militärischen und politischen Nimbus bei vielen Mitstreitern in Ungnade. Todkrank zog er sich nach Santa Marta an die Karibikküste zurück, wo er 1830 vereinsamt und verbittert starb. „Der General ging für immer“, schreibt García Márquez, „er hatte der spanischen Herrschaft ein Gebiet entrissen, das dreimal so groß war wie Europa, und er hatte 20 Jahre lang Krieg geführt, um es frei und vereint zu halten. Aber zum Zeitpunkt seines Abgangs besaß er nicht einmal die Gewissheit, dass man ihm das glauben würde.“
Der große Traum war geplatzt
Venezuela und Ecuador spalteten sich schon gut ein Jahrzehnt nach der Gründung der kolumbianischen Republik ab, und der große Traum von der kontinentalen Nation, der für einen historischen Wimperschlag auf bestem Wege schien, war geplatzt. Der verbliebene territoriale Rest benannte sich um in Nueva Granada, ausgerechnet in Anlehnung an das ehemalige spanische Vizekönigreich, und nahm erst drei Jahrzehnte später wieder den Namen Colombia an. „Die República de Colombia, Keimzelle eines riesigen und einmütigen Vaterlands, war zurückgeworfen auf das alte Vizekönigreich Nueva Granada“, schreibt García Márquez, „und 16 Millionen Amerikaner, kaum mit einem Leben in Freiheit vertraut gemacht, waren der Willkür ihrer lokalen Caudillos unterworfen.“ Zwei gewalttätige Jahr hunderte lang, möchte man hinzufügen, mit Kriegen und Bürgerkriegen, Revolutionen und Konterrevolutionen, Unterdrückung und Aufständen sowie Staatsstreichen in Serie.
Kein Wunder, dass das historische Jubiläum des Jahres 2022 in Südamerika keine große Resonanz erfährt. Es gibt dort allerdings auch genügend andere patriotische Anlässe. Die Kolumbianer haben bereits in den Jahren 2019 und 2021 die Zweihundertjahrfeier der Gründung ihres Staatswesens begangen. Und Simón Bolívar gehört sowieso als „Libertador“ und Nationalheld tagein, tagaus und unumstritten zum historischen Erbe der Nation – mit Avenidas Bolívar, Plazas Bolívar und Denkmälern in fast jeder Stadt. Das Sterbehaus des Generals und ersten Präsidenten des Landes auf der Quinta San Pedro Alejandrino bei Santa Marta ist liebevoll gepflegt und mit Dokumenten und Erinnerungsstücken aus der Epoche ausgestattet. Nebenan, im monumentalen Panteón de la Patria, wird der Personenkult mit riesigen Skulpturen, markigen Zitaten und nationalem Pathos fortgeführt. Auch García Márquez hat seinen literarischen Beitrag zur Überhöhung der historischen Persönlichkeit geleistet: „Seit Beginn der Unabhängigkeitskriege war er Zehntausende von Meilen geritten – mehr als zweimal um die Welt. Niemand hat je geleugnet, dass er sogar im Sattel schlief.“
Besonders patriotisch ist die Stimmung einmal im Jahr am Ort von Bolívars entscheidendem Sieg über die spanischen Royalisten, den er am 7. August 1819 nördlich von Bogotá an der Brücke von Boyacá errang. Die historische Brücke selbst existiert nicht mehr, sie war aus Holz. Ein hübscher Übergang aus Stein im spanischen Stil dient inzwischen als Ersatz. Alljährlich vor dem Jahrestag der Schlacht wird er notdürftig verputzt und gestrichen. Dann rückt ein Heer von Soldaten an, die mit der üppigen tropischen Vegetation kämpfen, welche sich in den vergangenen zwölf Monaten rund um das kolossale Bolívar-Denkmal ausgebreitet hat. Von seinem Sockel weit oben blickt der „Libertador“ auf das einstige Schlachtfeld herab. Zu seinen Füßen versammeln sich dann hochrangige Politiker aus Kolumbien und den Nachbarländern – wenn sie nicht gerade gar zu zerstritten sind – zu einer pathetischen Feier und beschwören eine imaginäre Zusammengehörigkeit, auch wenn jeder dabei nichts als seine nationalen Interessen im Blick hat. Ein „Gran Colombia“ oder gar die Vereinigten Staaten von Lateinamerika existieren jedenfalls nicht einmal mehr als Vision.
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