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Leben und Sterben im Blauen Haus
Vor 70 Jahren starb Frida Kahlo. Ihre Gemälde hängen verstreut in bedeutenden Museen oder sind versteckt in Privatsammlungen; Retrospektiven sind selten. Dem Wesen der Malerin und ihrer Kunst kommt man deshalb nirgends so nahe wie bei einem Besuch im Blauen Haus in Mexiko-Stadt, in dem sie fast ihr ganzes Leben verbrachte.
"Wir sind alle bloß Lehmklumpen im Vergleich mit ihr. Sie ist die größte Malerin dieser Epoche.“ So sprach Diego Rivera, der einflussreichste mexikanische Künstler des 20. Jahrhunderts und Frida Kahlos Liebhaber, Ehemann und Ex-Mann sowie ihre dauernde Leidenschaft und ihr wiederkehrendes Verhängnis. Die Beziehung der beiden stand unter keinem guten Stern. Frida war ein zartes Persönchen, das nach einem Unfall schwere körperliche Leiden ertragen musste, und Diego, 21 Jahre älter als sie, gebärdete sich als mexikanischer Macho und Schürzenjäger. Fridas Mutter beschimpfte ihn als "vollgefressenen Breughel“ und warnte vor dem Verhältnis "zwischen einem Elefanten und einer Taube“. Frida aber ließ sich nicht beirren und organisierte auf eigene Faust eine Trauung im elterlichen Haus im Städtchen Coyoacán, inzwischen ein Bezirk der ausgeuferten Metropole Mexiko-Stadt.
Die Hochzeit war nur flüchtige Station in einer turbulenten Biografie des Ruhms und der Schmerzen. Zu Kinderlähmung, einem grässlichen Unfall, Fehlgeburten, Operationen und Amputationen kamen die seelischen Verletzungen, die ihr Diego Rivera zufügte. Seine Affären warfen sie in ein Wechselbad der Gefühle, das aus ständigen Kontroversen und Versöhnungen, einer Scheidung und einer erneuten Heirat bestand. "Ich bin in meinem Leben von zwei großen Unfällen betroffen worden“, schrieb Frida später. "Der eine geschah, als ich von einer Straßenbahn überfahren wurde, der andere ist Diego.“
Das Zentrum von Fridas Welt
Den weitaus größten Teil ihres Lebens und Leidens verbrachte sie in der Casa Azul, dem dunkelblau gestrichenen Elternhaus in Coyoacán. Hier wurde sie am 6. Juli 1907 geboren, auch wenn eine Gedenktafel etwas anderes behauptet. Die Inschrift ist allerdings insofern authentisch, als sie Fridas subjektive Version wiedergibt: Sie selbst bezeichnete 1910 immer als ihr Geburtsjahr, weil damals die mexikanische Revolution begonnen hatte und sie am liebsten zusammen mit dem modernen Mexiko geboren worden wäre. Auch der hier angebrachte Hinweis, sie habe in diesem Haus von 1929 bis 1954 mit Diego Rivera zusammengelebt, ist eine geschönte Wahrheit. Schließlich war Diego so oft wegen seiner Liebschaften, eines Streits oder einer langwierigen Trennung verschwunden, dass er im Blauen Haus lange Zeit allenfalls als Gast hätte gelten können.
Frida Kahlos innige Verbundenheit mit diesem Gebäude hingegen kommt in dem 1936 geschaffenen Gemälde Meine Großeltern, meine Eltern und ich zum Ausdruck, das sich im Besitz des Museum of Modern Art in New York befindet. Eine nackte zweijährige Frida steht dort im Innenhof zwischen den blauen Wänden und hält über einen roten Faden die Verbindung zum Familienstammbaum, dessen mütterliche Seite vor dem Hintergrund des mexikanischen Hochlandes angesiedelt ist und dessen anderer Ast über dem Ozean eine Verbindung nach Europa andeutet. Der Vater, Carl Wilhelm Kahlo, war deutsch-ungarischer Abstammung und wurde in Pforzheim geboren. Die Casa Azul steht auf diesem Bild symbolisch im Zentrum von Coyoacán, Mexiko und der Welt – Fridas Welt.
Die Farben und Traditionen Mexikos
Diese Welt blieb unverändert erhalten in den Räumen des Blauen Hauses, das seit 1958 als Museum zugänglich ist. Dort trägt alles die unverwechselbare Handschrift der Künstlerin. Die Farben und die Traditionen Mexikos hat sie in den Zimmern fantasievoll inszeniert: ein Sammelsurium von Kunsthandwerk aus allen Teilen des Landes, dazu prähispanische Keramik, groteske Riesenfiguren aus Pappmaschee, Körbe, Schachteln, Puppen, Spielzeug und viele Bilder. Beinahe täglich gruppierte sie die Dinge neu und bemerkte ironisch: "Ich werde einmal eine kleine alte Frau, die in ihrem Haus herumläuft und immer die Sachen in Ordnung hält.“ Im Schlafzimmer hängen ihr Schmuck und ihre Tehuana-Gewänder, mit denen sie die volkstümliche mexikanische Kleidung in Künstlerkreisen salonfähig machte. Den Kontrast dazu bildet eines der verhassten Gipskorsette, das sie monatelang tragen musste und in dieser Zeit bunt bemalte.
Im lichtdurchfluteten Atelier stehen noch ihre Farbtöpfe, Paletten und Pinsel und vor dem Rollstuhl das unvollendete Gemälde, an dem sie bis zu ihrem Tod gearbeitet hat. In der Küche trieb sie ihren farbenverliebten Stil auf die Spitze, der Raum strahlt einen magischen Glanz aus und ist ein Kunstwerk für sich: Blaue, gelbe und weiße Kacheln kleben an den Wänden, davor stehen in den Regalen winzige Tonkrüge, riesige Schüsseln und bunte Holzlöffel. Die extravagante Heiterkeit des Äußerlichen war Fridas ausdrückliche Antithese zum körperlichen und seelischen Leiden.
Ein farbiges Band um eine Bombe
Kein Wunder, dass Diego Rivera, der das Gebäude und die gesamte Einrichtung nach Fridas Tod dem mexikanischen Volk vermachte, nicht vollends davon lassen konnte: "Ich machte zur Bedingung, dass ich ein Anrecht auf ein kleines Eckchen für mich allein haben sollte, damit ich die Atmosphäre wieder atmen konnte, die von Frida geschaffen worden war.“ Jetzt können Besucher des Museums in dieser Umgebung mehr vom Leben und Leiden dieser einzigartigen Frau erfahren als in mancher Biografie, auch wenn hier keines ihrer berühmten Gemälde zu sehen ist. Allein 55 Selbstbildnisse malte Frida Kahlo, und es sind zweifellos ihre Meisterwerke. Sie zeigen einen gepeinigten und verletzten Menschen, aber auch eine Frau, die sich mit Lebenswillen und Selbstbewusstsein gegen die Unabänderlichkeit der Wunden, Schmerzen und Ängste auflehnt. Der Surrealist André Breton brachte es auf den Punkt: "Die Kunst der Frida Kahlo ist wie ein farbiges Band um eine Bombe.“
Mit zunehmenden Beschwerden konnte die Malerin ihr Haus kaum noch verlassen. Nachdem sie 1943 als Professorin an die Kunstakademie berufen wurde, lud sie ihre Studenten zu sich nach Hause ein und machte die Casa Azul zu deren Atelier. Haus und Garten mit ihrer Vielfalt an Motiven boten für die angehenden Künstler Studienmaterial im Überfluss. Kurz vor ihrem Tod hatte Frida Kahlo dann 1953 in ihrem Heimatland endlich die ersehnte Einzelausstellung, an der sie allerdings nur noch im Liegen teilnehmen konnte. Das Malen war ihr zu dieser Zeit beinahe unmöglich geworden, und inmitten von elenden Qualen starb sie am 13. Juli 1954. Geburt, Leben und Tod im Blauen Haus hatten ihren Kreis geschlossen.
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