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Universalgeschichte im Landkartenformat

Die ganze Welt auf Pergament: Das Kloster Ebstorf in der Lüneburger Heide hütet eine umfassende mittelalterliche Enzyklopädie – ein lehrreiches und unterhaltsames Wunderwerk der Kartografie auf einem monumentalen Blatt.

Volker Mehnert01.01.2025

Diese Landkarte zeigt mehr als Kontinente und Ozeane, Städte, Länder und Flüsse. Vielmehr erlaubt sie dem Betrachter eine fantastische Bildungsreise rund um die Welt, eine Zeitreise in die Geschichte, zahlreiche Abstecher in Religion und Mythologie sowie humorvolle Ausflüge in Fiktionen und Hirngespinste. Die Karte im Kloster Ebstorf ist eine sogenannte "mappa mundi", eine jener im Mittelalter gängigen Wiedergaben der Welt, die sich nicht mit der Vermessung wirklicher Landschaften befassten, sondern ein Gesamtbild aus unvollkommener Geografie, historischen Begebenheiten, antiker Mythologie und biblischen Geschichten darstellten. Es war der Anspruch einer Universalgeschichte, verwirklicht im Format einer Landkarte.

Bilder, Texte und Symbole

Die Karte in Ebstorf ist nicht irgendeine "mappa mundi", sondern die größte ihrer Art: Zwölf zusammengenähte Pergamentstücke aus Ziegenhaut addieren sich zu einer Fläche von zwölf Quadratmetern. Die nächstgrößere, die sogenannte Hereford-Karte, verfügt nur über eine Fläche von weniger als einem Fünftel. Der großzügig vorhandene Platz wird auf der Ebstorfer Weltkarte üppig genutzt: Sie schwelgt in einer Fülle von Bildern, Texten und Symbolen, ist eine wahrhaftige Enzyklopädie auf einem überdimensionalen Blatt. Ungefähr 1000 schriftliche Inskriptionen erläutern ebenso viele eingetragene Bilder und Symbole: rund 500 Bauwerke wie Häuser, Türme, Burgen und Kirchen, dazu mehr als 100 Gewässer, zahlreiche Inseln, Gebirge, menschliche Wesen und Tiere.

Geografisch falsch und verwirrend erscheint die kompakte Landmasse der drei Kontinente Europa, Afrika und Asien, umgeben nur von äußerst schmalen Meeresflächen. Vergoldet liegt Jerusalem als Nabel der Welt im Zentrum des gesamten Werks – als bedeutende irdische Metropole von drei Weltreligionen, aber auch als himmlische Stadt im Sinne der Offenbarung des Johannes. In ihrer Umgebung entfaltet sich eine Geografie und Geschichte der Welt von biblischen Anfängen wie dem Paradies, der Sintflut und dem Turmbau zu Babel über eine Darstellung der antiken Kulturen von Ägypten und Mesopotamien, der griechischen Mythologie, des Feldzugs Alexanders des Großen und des römischen Weltreichs bis zum Mittelalter. 

Wundersames, Zweideutiges und Falsches

Die Zusammenstellung der Themen und Motive folgt keinem offenkundigen System, sondern scheint sich an zufällig vorhandenen schriftlichen Vorlagen sowie den persönlichen Kenntnissen und Vorlieben des Urhebers zu orientieren. Auf der gesamten Karte verteilt finden sich historische Stätten wie das versunkene Troja, Karthago oder das imperiale Rom, dazu aber auch Orte wie Paris, Barcelona und die damalige Neugründung Riga. Viele Städte und Land-striche sind nur mit Namen erwähnt, manche kurz, andere ausführlich beschrieben. Geografie, Historie und Mythologie fließen dabei ineinander und sind vermischt mit Wundersamem und Falschem, Zweideutigem und Erklärungsbedürftigem.

In der manchmal geordneten, manchmal chaotischen Parallelität von Geografie, Geschichte, Naturbeschreibung und Mythologie entstehen deshalb auch kuriose Bezüge und Nachbarschaften. Russland liegt an der Donau, Goslar scheint ebenso bedeutend wie Wien, der Nil ist fast so breit wie der Indische Ozean, die Insel Reichenau misst sich in der Größe mit Sardinien, Kreta ist gleich zweimal vorhanden. Eine besondere Stellung, weit über seine tatsächliche geografische Bedeutung hinaus, nimmt der norddeutsche Raum ein. Dort ist auch Ebstorf deutlich zwischen Bremen, Hannover, Lüneburg und Braunschweig platziert – ein Hinweis auf den vermutlichen Entstehungsort dieser Enzyklopädie.

Die damals nur rudimentär bekannten Kontinente Asien und Afrika sind hingegen an den Kartenrand verbannt. Dort finden sich nur wenig historische und mythologische Vermerke, dafür wimmelt es von Tieren: Elefanten, Krokodile, Papageien, Riesenameisen, Kamele und Antilopen. Außerdem gibt es kuriose Fantasiewesen wie leuchtende Vögel oder "geflügelte Schlangen, die schneller sind als Pferde". Über die Menschen in diesen Regionen erfährt man eine Fülle von Unsinn: "Die Artobatitae pflegen beim Gehen vornüberzukippen. Die Himantopedes bewegen sich immer wie Vierfüßler voran", heißt es am Oberlauf des Nils. Auch am Ganges scheinen merkwürdige Menschen zu existieren: "Diese hier leben vom Duft der Äpfel, und sie sterben, wenn ihnen etwas Übelriechendes begegnet."

Ein mythologisches Wimmelbild

Die Frage nach dem Urheber der Weltkarte beantworten Historiker und Kartografen mit vagen Vermutungen. Das Urbild ist wohl im 13. Jahrhundert irgendwo im norddeutschen Raum entstanden – vielleicht sogar direkt in Ebstorf. Gelegentlich ist die Rede von einem Wunder, das sich Anfang des 13. Jahrhunderts durch in der Region begrabene Märtyrer ereignet haben soll und dem die Kirchenfürsten mit der Erstellung der Karte einen entsprechenden Platz in der Weltgeschichte zukommen lassen wollten. "Hier ruhen die seligen Märtyrer", heißt es ohne weitere Erklärung auf der Karte neben der Ortsangabe von Ebstorf. Als möglicher Autor gilt auch der englische Gelehrte Gervasius von Tilbury, der auf dem Kontinent weit herumgekommen war und sich um 1220 im Dienst der Welfen in Niedersachsen niederließ. Dort verfasste er eine Schrift über die Wunder  der Erde, die zahlreiche Parallelen zu den Texten  auf der Weltkarte enthält.

So einzigartig die Ebstorfer Karte auch ist, einen Mangel hat sie doch: Sie ist kein mittelalterliches Original, sondern eine Reproduktion – allerdings  eine ausgesprochen exakte. Das verstaubte und angeschimmelte Urbild entdeckte eine Konventualin im Jahr 1830 zufällig in einer Abstellkammer des Klosters. Schnell wurde klar, um welche Kostbarkeit es sich handelte. Zur Untersuchung und Sicherung kam die Karte in ein Archiv nach Hannover, wo sie gereinigt und restauriert wurde. Zum Glück ließ man auch Fotografien von Details und präzise Reproduktionen der Pergamente anfertigen, denn im Zweiten Weltkrieg verbrannte die Originalkarte bei einem Bombenangriff. Nach dem Krieg konnte der Grafiker Rudolf Wienecke, der sich schon früher mit dem Werk befasst hatte, anhand der vorhandenen Fotos und Dokumente die Reproduktion des Gesamtwerks auf Pergament erstellen. Die Faszination dieses christlich-weltlich-mythologischen Wimmelbilds konnte auf diese Weise für die Nachwelt erhalten bleiben.

Volker Mehnert
Dr. Volker Mehnert ist freiberuflicher Journalist und Buchautor. Er hat viele Jahre in Lateinamerika gelebt und gearbeitet. Seine Reportagen finden sich regelmäßig in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.