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Von den Wundern der Welt

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Der junge venezianische Seefahrer Marco Polo (1254–1324) vor dem großen Kublai Khan, dem ersten Kaiser der mongolischen Yuan-Dynastie © picture alliance/isadora/leemage

Vor 700 Jahren, am 8. Januar 1324, starb Marco Polo, der venezianische Kaufmann und Weltreisende. Sein fantastisch anmutender Bericht über seine Asienreise und den Aufenthalt in China hat immer wieder Zweifel an dessen Wahrheitsgehalt genährt.

Volker Mehnert01.01.2024

Drei merkwürdige Gestalten tauchten im Jahr 1295 vor einem Palazzo in Venedig auf. Sie sprachen ein unbeholfenes Venezianisch und trugen sonderbare Kleider, die zudem schmutzig und abgerissen waren. Und doch behaupteten sie, Venezianer und die Besitzer des Gebäudes zu sein. Wer sollte so etwas glauben? Zwar war einigen noch in Erinnerung, dass vor einem Vierteljahrhundert drei Kaufleute zu einer Handelsreise nach Asien aufgebrochen waren, doch hielt man sie längst für verschollen. Erst als die Männer ihre Umhänge und Gewänder aufschlitzten und darin eine ungeheure Menge an Edelsteinen zum Vorschein kam, erschien den Einheimischen deren Bericht von einer jahrzehntelangen Asienreise plausibel. Der inzwischen 40-jährige Marco Polo war zusammen mit seinem Vater Niccolò und seinem Onkel Maffeo in die Heimat zurückgekehrt.

Eine schöne Anekdote, viel mehr vermutlich nicht. Die Geschichte passt jedoch zum wundersamen Lebenslauf des Marco Polo, zu seiner fantastisch anmutenden Asienreise und zur kaum glaublichen Bekanntschaft mit dem damals mächtigsten Herrscher auf dem Erdball. Hinzu kommt das zufällige Zusammentreffen in einem Genueser Kerker mit dem Mann, der all diese Unwahrscheinlichkeiten aufschrieb. Als Kapitän eines venezianischen Kriegsschiffes war Marco Polo 1298 in Gefangenschaft geraten, wo er in langen Tagen und Nächten seinem Mithäftling Rustichello da Pisa, einem bekannten Autor von Ritterromanen, von seinen Erlebnissen berichtete. Der Schriftsteller hielt sie für die Nachwelt fest, und unter dem Titel Die Wunder der Welt werden sie auch sieben Jahrhunderte später noch gelesen. Kein Mensch seit Adam und Eva, so schrieb der Autor Rustichello, habe so viel erforscht und solch umfangreiche Kenntnisse der Welt erlangt wie Marco Polo.

Ein neuer Blick auf den Orient

1271 waren die drei Venezianer in den Orient aufgebrochen und vier Jahre später über Jerusalem, Persien, den Hindukusch, die Hochtäler des Pamir und die Wüste Gobi nach China gelangt. Marco Polo berichtet von fremden Kulturen, Gebräuchen und Religionen und von gefährlichen Zwischenfällen unterwegs. In China regierte zu jener Zeit Kublai Khan, ein Enkel des Dschingis Khan, über ein Weltreich, das sich vom Chinesischen bis zum Schwarzen Meer erstreckte. Der junge Marco erlangte das Vertrauen des mongolischen Herrschers, der ihn als Gesandten und Steuerbeamten in zahlreiche Provinzen schickte. Dort beobachtete er Dinge und Ereignisse, die er als Europäer bewunderte und die später in der Heimat Erstaunen und Unglauben erzeugten. Es gab schwarze, brennende Steine, mit denen man heizte, bedruckte Papierzettel, die als Tauschmittel fungierten, und ein riesiges Netz von Poststraßen, deren Ränder mit Bäumen bepflanzt waren. Während in Europa die Furcht vor den „barbarischen Mongolen“ verbreitet war, man in ihren Heerscharen gar die apokalyptischen Reiter vermutete, gewann der junge Venezianer ein Verständnis für das Fremde und die Errungenschaften der mongolischen und chinesischen Zivilisation. Mit wenig Wertung und ohne Vorurteile bewies er eine ungewöhnliche Weltoffenheit und ermöglichte für die Nachwelt einen völlig neuen Blick auf den Orient.

Doch damals wie heute bestanden Zweifel an der Wahrheit der Berichte. War Marco Polo überhaupt bis nach China gelangt oder hatte er nur Erzählungen von anderen Reisenden zusammengetragen und vieles hinzugedichtet? Hätte damals überhaupt jemand gewagt, ins Reich des angeblich so blutrünstigen Kublai Khan aufzubrechen? Die Skepsis ist berechtigt, schließlich existiert nicht einmal mehr das Original von Rustichellos Handschrift. Stattdessen gibt es mehr als 150 Abschriften und Übersetzungen, die sich in Wortwahl und Inhalt stark voneinander unterscheiden. Spätere Autoren veränderten den Text gemäß ihrer Weltsicht, fügten hinzu oder ließen weg. Und doch lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen, die nicht nur mit historischen chinesischen Quellen übereinstimmen, sondern auch heutigen Forschungsergebnissen standhalten.

Aufschneider oder Augenzeuge?

Präzise und ausführlich dargestellte Beobachtungen über die Produktion und Verwendung der Steinkohle, die Zeremonien am Hofe des Khan, die Organisation der Verkehrswege oder die Verwaltungsstrukturen des mongolischen Großreiches konnten nur von einem Augenzeugen stammen. Das beschriebene Verfahren der Salzgewinnung wird an manchen Orten bis heute praktiziert. Den Einsatz des Papiergeldes, vor allem aber dessen Herstellung aus den Fasern des Maulbeerbaumes war nur wirklichen Kennern der Materie vertraut. Eine Brücke in der Nähe von Peking steht noch immer in der von Marco Polo detailliert beschriebenen Gestalt. Insgesamt beherrschen sachliche Ausführungen über Ökonomie und Sozialsystem den Bericht; nicht der Glanz, sondern das Funktionieren des mongolischen Reiches steht im Mittelpunkt. Und schließlich erzählt Marco Polo auch wenig von Strapazen und Unfällen, persönlichen Heldentaten oder ex tra va ganten Abenteuern, wie man sie von einem Aufschneider erwarten würde.

Doch wie verhält es sich mit der Darstellung von eher unglaubwürdigen Phänomenen? Manches mag in der Erinnerung tatsächlich übertrieben oder von Rustichello oder seinen Epigonen ausgeschmückt worden sein, aber zum Beispiel die skeptisch gesehenen „Geisterstimmen in der Wüste“ oder die „Menschen mit Schwänzen“ finden durchaus Erklärungen. Die rätselhaften Geräusche könnten von den singenden Dünen stammen, die tatsächlich durch Wind und rutschenden Sand entstehen, und als menschliche Wesen mit Schwänzen könnten den Europäern bei ihrer Rückreise über Sumatra die Affen erschienen sein. Und warum erwähnt Marco Polo weder die Chinesische Mauer noch die weitverbreiteten Teezeremonien? Auch hier gibt es plausible Erklärungen: Die Mauer in ihrer heutigen Gestalt existierte damals noch nicht, stattdessen ein zu großen Teilen verfallener Wall aus Lehm, der kaum Aufmerksamkeit erregt haben dürfte. Weil sich der europäische Gast in den herrschaftlichen Kreisen der Mongolen bewegte, in denen Stutenmilch das bevorzugte Getränk war, schätzte er vermutlich auch die Teekultur der Chinesen als wenig bemerkenswert ein.

Kolumbus ließ sich von ihm leiten

Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich also behaupten, dass Marco Polo tatsächlich in China war. Aber wie dem auch sei – die Wirkung seines Reiseberichts auf die Nachwelt war immens. Noch Kolumbus nahm 200 Jahre später ein mit vielen Anmerkungen versehenes Exemplar mit auf seine erste Entdeckungsreise. Die venezianischen Zeitgenossen freilich hatten ihre Zweifel und riefen Marco Polo angeblich auf dem Sterbebett dazu auf, seine Übertreibungen und Erfindungen jetzt endlich zu widerrufen. „Ich habe nicht einmal die Hälfte von dem erzählt, was ich wirklich gesehen habe“, soll seine Antwort gewesen sein. Vermutlich wieder nicht mehr als eine Anekdote, die freilich diesen einzigartigen Lebensweg adäquat abrundet.