Nachruf
Abschied von einer Ski-Legende
Die Olympischen Winterspiele in Peking stehen vor der Tür, und angesichts der umstrittenen Umstände mag manch einer nostalgisch auf eine Zeit zurückblicken, als der Skisport noch von Amateuren betrieben und Olympische Spiele nicht von technischer und architektonischer Gigantomanie beherrscht waren.
Zum Beispiel 1960 im kalifornischen Squaw Valley: Damals sorgte ein 19-jähriges Mädel aus dem Allgäu für eine Sensation. Beim Abfahrtslauf der Damen sauste die Deutsche frech und unbekümmert den Hang hinunter und kam als Erste ins Ziel – mit einer vollen Sekunde Vorsprung auf die zweitplatzierte Amerikanerin. Heidi Biebl war über Nacht berühmt geworden, und der „Spiegel“ titelte über die erste deutsche Goldmedaillengewinnerin in der Abfahrt: „Der Uwe Seeler des alpinen Skisports ist ein Mädchen“ – was damals nicht abwegig klang, sondern Ausdruck höchster Wertschätzung war.
Im Januar 2020 saßen wir in Heidi Biebls Heimatort Oberstaufen einer betagten Dame gegenüber. Sie war ein wenig zu spät zu unserer Verabredung am Fuß des Skihangs Sinswang erschienen, weil sie vor dem Fernseher unbedingt noch den Ausgang des Hahnenkammrennens abwarten wollte. Die alte Leidenschaft hatte sie nicht losgelassen. Weil jedoch Bänder und Gelenke durch die starke Beanspruchung gelitten hatten, wagte sie sich selbst inzwischen kaum noch auf die Bretter. „Höchstens hier am Anfängerhang von Sinswang“, sagte sie augenzwinkernd.
Im Gespräch kamen wir dann auch bald zum zentralen Ereignis ihrer sportlichen Karriere, jenem 20. Februar vor sechs Jahrzehnten. Das Abfahrtsrennen hatte eigentlich gar nicht im Mittelpunkt ihrer Vorbereitungen gestanden, denn Heidis Spezialdisziplin war der Slalom. Mit Weidenstöcken hatte sie sich zu Hause noch selbst ihre Parcours gesteckt. „Abfahrt konnte ich an unseren Hängen gar nicht richtig trainieren“, erzählte sie uns. Während der Übertragung des Rennens unkte deshalb der deutsche Reporter, dass die Fahrerin mit der Nummer acht zwar vorübergehend vorn wäre, dass aber ganz sicher noch zahlreiche Bessere kommen würden – was sich rasch als Irrtum erwies.Eigentlich waren wir gekommen, um mit ihr über Gegenwart und Zukunft des Skifahrens angesichts von Klimawandel und Schneemangel zu sprechen. Aber natürlich verhedderten wir uns zunächst heillos in der Vergangenheit. Erst einmal fragten wir nach dem Beginn ihrer Skikarriere, und sie erzählte, wie sie sich das Skifahren selbst beigebracht hatte und dass ihre primitiven „Rutscherle“ vom örtlichen Schreiner hergestellt worden waren. Zum ersten Lehrgang des Skiverbandes erschien sie mit einfacher Skiausrüstung, Rucksack und einem von der Mutter noch schnell gestrickten Pullover. Die Mannschaftskolleginnen kamen dagegen in Pelzstiefeln und mit zwei Paar Skiern im Gepäck. Dazu pflegten sie jede Menge Vorurteile gegenüber der unbekannten Allgäuerin, drohte sie doch in die Hegemonie der oberbayerischen Ski-Asse einzudringen. Auch einige Funktionäre, „die Herren am grünen Tisch in München“, zeigten wenig Begeisterung über den Neuzugang aus Bayerisch-Schwaben. „Ich muss besser sein als alle anderen, damit ich hier überhaupt akzeptiert werde“, dachte sich die junge Heidi. Und sie wurde besser.
Ob wir die Goldmedaille einmal anschauen könnten? „Dafür müsst ihr ins Heimatmuseum gehen“, war die Antwort. Von der olympischen Medaille sowie ihren anderen Auszeichnungen und Pokalen hatte sie sich längst getrennt und dem Museum zur Verfügung gestellt, wo man eine kleine Abteilung zur Skifahrerin Heidi Biebl eingerichtet hat. Auch beim „Sonne Wirt“, seit der Gründung 1908 das Vereinslokal des Ski-Clubs Oberstaufen, entdeckten wir später einige Erinnerungsstücke und Fotos. Angesprochen auf den Heidi-Biebl-Weg, den ihr die Stadt gewidmet hat, sagte sie lachend: „Da müsste ich mal Maut verlangen.“ Wir hätten es ihr gegönnt, denn die großen Siegerinnen und Sieger ihrer Generation hatten an ihren sportlichen Erfolgen nichts verdient.
Nun erreicht uns die Nachricht, dass Heidi Biebl nach kurzer Krankheit am 20. Januar 2022 im Alter von 80 Jahren gestorben ist.
Von Volker Mehnert und Björn Lange
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