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Editorial

Eine Nation sagt „Bye“

Editorial - Eine Nation sagt „Bye“
© Jessine Hein / Illustratoren

Verschiedene Perspektiven auf den Brexit

01.03.2019

Für die Europäer war die Sache schnell klar. Dass die Briten am 23. Juni 2016 mit knapper Mehrheit für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union votiert hatten, konnte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Entweder – so die Deutungen in Brüssel und anderen EU-Hauptstädten – waren die Engländer, Schotten, Waliser und Nordiren verantwortungslosen Verführern wie Boris Johnson auf den Leim gegangen, die sie mit wahrheitswidrigen Versprechungen ins Verderben stürzten. Oder aber die Bürger des Vereinigten Königreichs hätten sich schlicht verwählt und sich quasi aus Versehen auf den Weg in eine unsichere Zukunft begeben.

Dass ein EU-Mitgliedsstaat ohne Rücksicht auf die Folgen aus dem europäischen Einigungsprozess – der zweifelsohne Frieden, Wohlstand und Stabilität gebracht hat – ausscheren will, war bis dato im Selbstverständnis der Union nicht vorgesehen. Entsprechend hilflos sind seitdem die Reaktionen: Während die Brüsseler Unterhändler betont hart gegenüber London auftreten (ganz so, als ob hier ein Exempel statuiert werden soll) und Ratspräsident Donald Tusk zuletzt den Anführern des Brexit-Lagers sogar „einen besonderen Platz in der Hölle“ wünschte, war wiederholt auch die Forderung nach einem zweiten Referendum zu vernehmen. Soll also das Volk etwa solange abstimmen, bis das „richtige Ergebnis“ dabei herauskommt?

Sicher: Die politische Führung Großbritanniens hat sich zu keinem Zeitpunkt mit Ruhm bekleckert. Weder aus der Downing Street noch aus den Reihen der Opposition war ein Plan zu vernehmen, wie das Vereinigte Königreich künftig allein in der Welt bestehen will und wie das Verhältnis zu den alten Partnern auf der anderen Seite des Kanals aussehen soll. Dennoch stellt sich die Frage, ob der Umgang der EU-Kommission und der verbleibenden Unionsmitglieder mit einem Land, das immerhin seit über vierzig Jahren zu den größten Beitragszahlern der Gemeinschaft gehört, angemessen und klug ist. So stehen wir vor der denkwürdigen Situation, dass noch immer niemand weiß, was geschehen wird, wenn Großbritannien am 29. März 2019 die EU verlässt. Selbst eine Verschiebung des Austrittsdatums war zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses dieser Ausgabe noch immer im Gespräch.

In dieser Gemengelage richten die Beiträge im aktuellen Heft den Blick auf einige Aspekte, die in den letzten zweieinhalb Jahren trotz medialer Dauerbefassung mit dem Brexit kaum thematisiert worden sind. Da bis dato zumeist über die Briten gesprochen wurde, sie selbst aber kaum gehört wurden, kommen in den einzelnen Artikeln überwiegend britische Stimmen zu Wort. Zu ihren Themen gehört u.a. die Frage, warum ihre Lands­leute trotz der unbestreitbaren Erfolge der EU diese verlassen wollen, und warum sich an dieser Haltung trotz der sich abzeichnenden Turbulenzen bis heute kaum etwas geändert hat. Ein weiterer Aspekt sind die künftigen Beziehungen zwischen Britannien und Europa. Und nicht zuletzt geht es auch um die Frage, was der Brexit für die innere Verfasstheit der Europäischen Union bedeutet. Schließlich gilt Großbritannien weltweit als Mutterland der modernen Demokratie. Da sollte es den Europäern nicht egal sein, wenn ein solches Land ihrer Gemeinschaft den Rücken kehrt.

Es grüßt Sie herzlichst Ihr

René Nehring
Chefredakteur