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Ende der Lethargie

Forum - Ende der Lethargie
Belarus steht auf: Hunderttausende demonstrieren in den Nationalfarben gegen den Präsidenten Aliaksandr Lukaschenka © Evgeny Maloletka/Bloomberg/Getty Images

Ein Volk, das lange beherrscht, unfreiwillig unabhängig wurde und dann 25 Jahre unter seinem Präsidenten litt, erhebt sich. Endlich!

Maryna Rakhlei01.09.2020

In den 1990er Jahren gab es noch die Hoffnung, dass die Gesellschaft, das symbolische Treppenhaus in Minsk, das ein eigenes Land bekommen hatte, ohne es zu wollen oder dafür zu kämpfen, eine nationale Idee ausbrüten würde. Es ging mit einigem Schwung los, schon der Anfang der Perestroika Mitte der 80er Jahre wurde begleitet von einer Welle nationaler Bewegungen, man dachte, der Volksgeist sei erwacht. Es waren allerdings die Eliten, Wissenschaftler, Historiker und Enthusiasten, die aufs Land gingen, um dort Lieder und Geschichten zu sammeln – und eine nationale Geschichte zu schreiben. Es waren Romantiker, Menschen, für die Freiheiten und Werte wichtiger waren als Brot und Spiele.

Der Albtraum von 2010

In der ehemaligen „eigenen, neuen Welt“ war Freiheit zwar ein Wort, aber kein verinnerlichter Wert. Als das 90er-Chaos ausbrach, strebten die Menschen nach Stabilität, nach einer Struktur, sie hatten keine Jobs und nicht genug zu essen. Eine nationale Identität zu erlangen, sich historische Staatssymbole und die Sprache zurückzuholen, das stand nicht sehr weit oben auf der Liste der Bedürfnisse. Nein, danke, sagten die Belarussen den konservativen und nationalistischen Parteien und wählten im Sommer 1994 bei der ersten demokratischen Wahl den ersten Präsidenten des unabhängigen Landes – Aliaksandr Lukaschenka, der heute immer noch da ist.

Im Dezember 2010 eskalierte die Spannung zwischen der Zivilgesellschaft und dem Regime. Das passierte wie schon üblich um die Präsidentschaftswahl herum, wenn wie alle fünf Jahre gegen Fälschungen bei der Stimmauszählung protestiert wurde. Damals aber waren Tausende auf der Straße, viel mehr als sonst. Die Wahl folgte auf eine lange Zeit, in der es den Menschen wirtschaftlich gut ging, und so wollte man mehr: mehr Freiheiten und mehr Rechte. Es ging längst noch nicht um eine nationale Idee oder die nationale Geschichte, es ging um mehr persönlichen Entfaltungsraum.

Der Wahlabend endete im Albtraum: 700 Leute wurden festgenommen, darunter fast alle Präsidentschaftskandidaten. Menschen wurden wahllos aufgegriffen, ohne überhaupt Teil des Protests zu sein, kamen vor Gericht und für 14 Tage ins Gefängnis.

Die Annexion der Krim 2014 und die russische Einmischung im Osten der Ukraine waren ein Weckruf für die Belarussen. Man sagt, Wladimir Putin hat mehr für die ukrainische Nationalidee geleistet als die ukrainischen Nationalisten. Und das stimmt auch im Fall von Belarus.

In der Ukraine wollten sich nach der Maidan-Revolution die Träger des Aufstands auch im normalen Leben sozial oder politisch engagieren; Tausende von Initiativen, Gruppen, NGOs zu allen möglichen Problemen waren das Ergebnis. In Belarus gab es Hunderte neue Gruppen – mit dem wichtigen Unterschied, dass sie aufblühten, weil sie nicht vom Staat daran gehindert wurden. Die Ziele des Regimes und der Zivilgesellschaft waren plötzlich dieselben.

Leute kamen zusammen, um Belarussisch zu lernen, auf der Suche nach Relikten der Steinzeit das Land zu bereisen, lokale Lieder zu singen, traditionelle Feste zu feiern und gemeinsam über das kulturelle Erbe zu reden. Meine Mutter stellte überrascht fest, dass es in Minsk Bewohner in ihrem Alter gab, die im gleichen Kiez, aber in einem anderen Land gelebt hatten, da sie sich immer schon als Belarussen fühlten.

Es war, als ob Belarussen, die sich jetzt daran gewöhnten, Belarussen zu sein, plötzlich wissen wollten, was das eigentlich heißt. Also, wir sind keine Ukrainer, keine Russen, keine Polen. Was haben wir zu erzählen? Und so las man jetzt ähnliche Geschichtsbücher, wie ich sie Mitte der 90er Jahre als Schülerin gelesen hatte, geschrieben von den unsichtbaren Nachbarn. Es gab natürlich viele Vorläufer, die 2014 zu dieser Explosion von öffentlichem Interesse an lokaler Kultur und Geschichte geführt haben.

Auf der Suche nach Identität

Noch vor 20 Jahren konnte man im Ausland Belarussen erleben, die sich als Russen vorstellten, um nicht erklären zu müssen, wo Belarus liegt und was das ist. Würde sich ein Slowake als Tscheche bezeichnen, nur um nicht den Unterschied zwischen Slowakei und Slowenien erklären zu müssen? Nein, er ist schließlich kein Tscheche. Inzwischen haben auch Belarussen ihre Einzigartigkeit erkannt beziehungsweise fangen an, sich auch daran zu gewöhnen. Und was für eine Entdeckung war die Vielschichtigkeit der belarussischen Geschichte, nicht nur in religiöser, sondern auch in nationaler Hinsicht. Jetzt wurden jüdische und tatarische Spuren neu entdeckt. Heute ist man stolz darauf, dass die jüdischen Familien von Marcello Mastroianni, Scarlett Johansson und Amy Winehouse aus Belarus stammen. Viele Gründer und Staatsmänner Israels oder bedeutende Köpfe dieses Landes wurden in Belarus geboren. Man erzählt sich schmunzelnd, es seien mehr israelische Präsidenten in Belarus geboren als belarussische: Chaim Weizmann und Shimon Perez versus Aliaksandr Lukaschenka.

Im November 2019 wurden die Überreste von Kastus Kalinouski in Vilnius umgebettet. Mehrere Tausend Belarussen fuhren mitten in der Woche nach Litauen, um an der Zeremonie teilzunehmen – ein beredtes Zeichen dafür, welche Rolle mittlerweile eine nationale Rückbesinnung in der belarussischen Gesellschaft spielt. Als hätte die belarussische Lethargie sich in nichts aufgelöst.

Es war atemberaubend zu sehen, wie Kalinouski zu einem Symbolträger für die moderne belarussische Geschichte wurde. Der Aufstand des Kleinadels von 1863/64 gegen die russische Besetzung wurde in Belarus (anders als in Litauen oder Kongresspolen) mit Unterstützung des Bürgertums und der Bauern geführt, die nicht gut ausgerüstet waren und deswegen vor allem als Partisanen agierten – unter anderem unter der Führung von Kalinouski.

Dieser Kastus Kalinouski war Mitte 20 und nicht an einer Wiederherstellung der Grenzen Großpolens interessiert, ihm ging es um ein Ende der sozialen und nationalen Unterdrückung: Er propagierte nationale Selbstbestimmung der Völker, Demokratie als Staatsordnung und das Recht auf Wohlstand. Und er forderte den Zugang zu Bildung und sah die Bedeutung einer Nationalsprache. Die Parole der Aufständischen in Belarus hatte etwas Romantisches: „Wen liebst du? – Belarus habe ich lieb! – Das ist ja gegenseitig“.

Kalinouski mobilisiert die Massen

In seinen auf Belarussisch veröffentlichten Schriften zeigte er sich enttäuscht von den Russen, die sich unter Tataren und Zar an die Unfreiheit gewöhnt hätten, aber er unterstrich doch, das friedliche Russland sei kein Feind. Der Aufstand wurde brutal erstickt, Kalinouski in Vilnius erhängt. Eine massive, gezielte Russifizierung folgte, auch wenn manches für die Bauern danach leichter wurde.

Als vor wenigen Jahren seine Überreste identifiziert wurden, gab es eine Menge Publikationen über Kalinouski und seine Familie. Man zitierte seine belarussischen Texte: „Wenn nicht wir, dann werden unsere Knochen die Freiheit erlangen.“ Vielleicht wurde bei seiner Umbettung klar, wie stark und wie lebendig der Traum von einer Heimat und einer Nation in der belarussischen Gesellschaft ist – und wie lang dieser Weg zu sich selbst sein kann.

Jetzt habe ich das Gefühl, Kastus Kalinouski sei in mein Treppenhaus in Minsk eingezogen. Und viele andere Figuren der belarussischen Geschichte kämen bald nach.


Buchtipp

 

Maryna Rakhlei

Ein Treppenhaus in Minsk: Eine belarussische Geschichte

Edition Fototapeta 2020,

72 Seiten, 7,50 Euro


edition-fototapeta.eu

Maryna Rakhlei

Maryna Rakhlei, Jahrgang 1980, aufgewachsen in Minsk, lebt als Journalistin, Germanistin und Pro- jektmanagerin in Berlin. Ihr Text ist ein Auszug aus dem kürzlich im Verlag Edition Fototapeta erschienenen Essay „Ein Treppenhaus in Minsk“.