Rotarische Helden in Kriegszeiten
Überraschende Begegnungen
Rotary-Magazin-Reporter Florian Quanz war in der Ukraine unterwegs, hat Rotarier getroffen und sie bei unermüdlicher Arbeit für die leidgeprüfte Zivilbevölkerung und den Frieden erlebt. Mit interessanten wie überraschenden Begegnungen
Nach dem äußerst leckeren Kaffee machen sich Orest Semotiuk und ich auf den weiteren Weg durch die Altstadt von Lemberg. Er zeigt mir das Clublokal des RC Lviv International, bevor es wieder in Richtung Appartement geht. Dort packe ich meine Sachen zusammen, ehe wir von Peter Meier-Rasmussen abgeholt werden. Peter ist ebenfalls Däne und Mitglied des RC Lviv International. Mit ihm haben wir uns zum Mittagessen verabredet, anschließend will er uns die Firma zeigen, von der er Geschäftsführer ist. Der Weg mit dem Auto führt uns hinaus aus Lemberg gen Westen. Das Unternehmen hat seinen Sitz in Horodok, die Stadt liegt eine Autostunde westlich von Lemberg.
Wir haben gerade die Außenbezirke von Lemberg mit dem Auto erreicht, fahren an einem Industriegebiet vorbei, als der Raketenalarm erneut ertönt. Da wir uns gerade im Auto auf einer vielbefahrenen Straße befinden, können wir keinen Schutz suchen. Peter Meier-Rasmussen bleibt ganz ruhig am Steuer. „Genau hier war ich schon einmal, als Raketenalarm ertönte“, berichtet er. „Da war ich hier links mit meiner Freundin spazieren. Dann sah ich ein Objekt am Himmel und dachte zunächst, es sei ein Flugzeug. Doch dann wurde mir bewusst, dass es sich um eine Rakete handelt. Wir sind nur noch gerannt.“ Die Rakete, so erzählt er weiter, sei dann einen halben Kilometer entfernt in ein Industriegebiet gestürzt.
Nach einer guten halben Stunde erreichen wir ein kleines Industriegebiet mit Restaurant, in dem wir uns zum Mittagessen zusammensetzen. Der Krieg bleibt das Gesprächsthema. Vor allem das Schicksal der Kinder bewegt uns drei besonders. „Wie wäre es mit Sommercamps für Kinder nach Kriegsende?“, frage ich. „Großartige Idee“, antwortet Peter. Orest nickt. Ich verspreche, dass ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland ein paar Clubs diesbezüglich anspreche.
In der Firma in Horodok angekommen, zeigt uns Peter zuerst eine große Industriehalle, in der mehrere Trailer stehen. Die werden für Auftraggeber aus anderen Ländern Europas gefertigt. Einige sind schon nach Dänemark verkauft, so Peter. Dann begleiten wir ihn in sein Büro. Direkt daneben sitzen Mitarbeiter der Firma. Was ich nun erfahre, erstaunt mich jedoch. „Das sind Geflüchtete junge Männer aus dem Osten des Landes. Ich habe Ihnen hier einen Arbeitsplatz verschafft, einer von Ihnen wohnt auch auf dem Firmengelände“, erklärt Peter. Orest und mir ermöglicht er ein Gespräch mit den drei Männern, die von ihrem Werdegang, ihren Kriegserlebnissen und von der Hoffnung sprechen, dass der Krieg schnell vorbei ist. Einer von ihnen berichtet, dass seine Eltern sich noch immer in Cherson aufhalten, seiner Heimatstadt, die komplett unter russischer Kontrolle ist. „Das russische Militär hat alles geklaut, was wertvoll war“, berichtet er. Seine Tante habe ein großes Agrarunternehmen geführt, Mähdrescher und Traktoren hätten die Russen inzwischen weggeschafft. Es sind Geschichten, die Orest mir aus dem Ukrainischen übersetzt, die mich rat- und fassungslos zurücklassen. Mit diesen Schicksalen im Kopf sitze ich wenig später im Auto in Richtung Grenze. Gegen 17 Uhr stehe ich in einer langen Schlange mit ukrainischen Müttern und vielen Kindern. Wir alle haben das gleiche Ziel: Polen. Nur ich bin kein Flüchtling, sondern Reporter.
Direkt vor mir in der Schlange vor der Passkontrolle steht eine Frau mit drei Kindern im Alter von schätzungsweise drei, sechs und acht. Das älteste Kind, eine Tochter, ist geistig behindert, wie mir scheint. Die Mutter wirkt müde, ihr Blick leer. Ich frage mich, woher sie stammt, wie lange sie schon auf der Flucht ist und ob sie schon weiß, wie es in Polen für sie und ihre Kinder weitergehen soll. Ich frage nicht. Noch eine Flüchtlingsgeschichte, vielleicht noch dramatischer und trauriger als all die Geschichten, die ich bisher so gehört habe, möchte ich jetzt nicht hören. Ich lenke mich gedanklich ab und freue mich auf das Wiedersehen mit Karin Hirsch-Gerdes und Kerstin Lüttke. Wir haben uns für den Abend verabredet. Sie wollen von mir erfahren, wie es mir in den vergangenen zwei Tagen in der Ukraine ergangen ist. Ich möchte umgekehrt wissen, was sie erlebt haben. Es wird zugleich unser Abschiedsabend, denn am darauffolgenden Tage, habe ich ein Treffen mit dem polnischen Distrikt-Governor Wojciech Wrzecionkowski und Mitgliedern des RC Chelm vereinbart. Karin und Kerstin werden die Heimreise mit Zwischenstopp Krakau antreten.
Die Fahrt von Przemysl nach Chelm am darauffolgenden Vormittag dauert drei Stunden. Was mir niemand vorab gesagt hat, Schlaglöcher sollte man nicht zählen, es sind zu viele. Ich bin mal wieder über kleine Straßen im Osten Polens gen Norden unterwegs. Ich freue mich auf das Kennenlernen mit dem polnischen Distrikt-Governor. Nachdem ich sein ukrainisches Pendant bereits interviewen durfte, möchte ich nun auch mit ihm sprechen. Beide Interviews zusammen, das ergibt ein gutes Paket für das kommende Rotary Magazin, denke ich. Nicht ahnend, dass sich der Weg auch aus einem anderen Grund noch lohnt.
Kaum habe ich den verabredeten Ort in Chelm gefunden, wird mir die nächste große Lagerhalle gezeigt. Hier stehen Kartons aus Großbritannien. Natürlich wieder eine Hilfslieferung für die Ukraine. Wir sprechen alle Englisch untereinander. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt. Und doch ist es ungewohnt. Denn ein älterer Herr spricht es perfekt. Ich bin verwundert, doch möchte zunächst nicht nachfragen. Das hole ich dann beim Mittagessen nach. Der nette Herr sitzt direkt neben mir. Die Frage, woher er so gut Englisch sprechen kann, ist ungewollt komisch. „Ich stamme aus Minnesota in den USA“, erklärt mir der nette Mann. Im Verlauf des Gesprächs erfahre ich, dass Bob Sherman, so sein Name, Mitglied des Rotary Club Duluth Skyline ist. Der Rentner hat sich einen Monat frei genommen, um sich in Polen vor Ort ein Bild der Lage zu machen. „Mich interessiert, wie hier Hilfe für die Ukraine geleistet wird.“ Sein Club habe bereits 7000 US-Dollar für die Ukraine gespendet, doch die Summe soll noch größer werden, so Bobs Wunsch. Sein Ziel: 150.000 US-Dollar zu sammeln. Er wirkt entschlossen. Dass ihm das gelingt, daran habe ich wenig Zweifel.
Mich interessiert, wie in den USA über den Krieg berichtet wird. „Wer nicht die New York Times liest oder CNN schaut, erfährt nicht viel“, sagt er mir. Die regionalen TV-sender würden den Krieg gar nicht mehr thematisieren. Dabei sei es wichtig, zu erfahren, was dort geschieht. Für ihn stand jedenfalls früh fest, dass er selbst nach Europa reisen möchte, an der Grenze die rotarische Hilfe begleiten will, um anschließend aus erster Hand seinen rotarischen Freunden in den USA berichten zu können. Bob ist überzeugt, mit seinem eigenen Bericht, mit seinen eigenen Bildern, wird es leichter sein, weitere Spenden zu sammeln. Von diesem Trip ließ er sich auch nicht von seiner Freundin abbringen, die ihn als „verrückt“ bezeichnet habe, als er ihr die Reisepläne offenbarte. Im Anschluss an das interessante Gespräch erhalte ich vom polnischen Distrikt-Governor Wojciech Wrzecionkowski noch einen Überblick über die vielfältige Hilfsarbeit der polnischen Clubs für die Ukraine, ehe es für mich zurück nach Przemysl geht. Anstatt in Chelm zu übernachten und von dort die Heimreise anzutreten, nehme ich wieder die drei Stunden Autofahrt in Kauf. Ich weiß, dass ich am darauffolgenden Tag von Przemysl schneller in Kattowitz sein werde als von Chelm. Was ich nicht weiß, dass auch am Abreisetag eine Überraschung auf mich wartet.
Am folgenden Tag breche ich nach dem Frühstück auf. Ich fahre mit meinem Mietauto jedoch nicht gleich nach Kattowitz. Ich möchte noch kurz bei der Erstaufnahmeeinrichtung Halt machen. Im Kofferraum habe ich noch ein Erste-Hilfe-Set, was dort gut gebraucht werden kann. Ich hingegen kann mir in Deutschland ein neues kaufen. Ich möchte es einem freiwilligen Helfer überreichen, den ich vor kurzem kennengelernt hatte. Doch Simon Schnell, so sein Name, ist erst einmal nicht aufzufinden. Es dauert, bis ich ihn von weitem erblicke und ihm ein Zeichen geben kann, dass er kurz kommen möge.
Plötzlich werde ich angesprochen: „Wartest du auch auf Simon?“ Neben mir steht ein junger Mann. „Ja, ich möchte ihm nur kurz was vor meiner Abreise geben.“ „Fährst du auch Flüchtlinge nach Deutschland“, fragt mich der Mann weiter. „Nein, ich bin als Reporter hier gewesen.“ „Für welche Zeitung oder Fernsehsender?“ Ich überlege eine Sekunde, wie ich ihm möglichst schnell Rotary erklären kann. „Rotary“, lautet meine erste Reaktion. Ich brauche ihm die Service-Organisation und das Mitgliedermagazin gar nicht weiter zu erklären. „Das ist ja witzig. Rotary hat meine Fahrt bezahlt“, bekomme ich zu hören. Martin Hänse, so der Name meines Gesprächspartners, erklärt mit nachfolgend die Details. Seit Kriegsbeginn nutze er die freien Wochenenden, um Geflüchtete in Polen abzuholen, die weiter nach Deutschland möchten. Er mache dies freiwillig und ehrenamtlich. Da er selbst aber auf den Fahrtkosten nicht sitzen bleiben möchte, suche er sich Sponsoren. Diese Fahrt habe der Rotary Club Weimar-Bauhaus finanziert. Dort sei sein Vater, Rolf-Christian Hänse Mitglied. Ich mache mit ihm ein Selfie und verspreche, dieses in einem Online-Artikel auf rotary.de zu veröffentlichen. „Das wird dann der Beweis sein, dass du diese Fahrt wirklich gemacht hast“, sage ich lachend und verabschiede mich anschließend, da Simon gekommen ist, um die Sachen entgegenzunehmen.
Beeindruckt – vom Engagement des jungen Mannes, aber auch von Rotary – trete ich nun die Rückfahrt an. Die Serviceorganisation spielt auf vielfältige Art und Weise ihre Stärke aus.
Copyright: Andreas Fischer
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