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Er hat die Welt zum Besseren verändert

Aktuell - Er hat die Welt zum Besseren verändert
Michail Gorbatschow auf einem Gemälde © Pixabay

Michail Gorbatschow war aufgebrochen, um den Sozialismus, an den er glaubte, zu reformieren. Vom Sozialismus blieb nichts übrig. Der Misserfolg der Reform begründete hingegen den Erfolg des Politikers und Menschen Michail Gorbatschow.

06.09.2022

Die große Sensation in der Wahl des Generalsekretärs der KPdSU am 11. März 1985 lag im relativ jugendlichen Alter des neuen Parteichefs. In Breschnews letzten Jahren, die man auch die Zeit ohne Uhren genannt hatte, in denen man Bürgerrechtler nicht nur in die Arbeitslager schickte, sondern auch in psychiatrischen Kliniken einsperrte, denn wer etwas gegen die gerechteste und beste aller Gesellschaftsordnungen einwandte, konnte nur geistig verwirrt sein, entwickelte sich der Ostblock immer mehr zu einer Herrschaft der Greise. In Polen herrschte Edward Gierek, in der DDR Erich Honecker, in der Tschechoslowakei Gustav Husak, in Ungarn Janos Kadar, in Rumänien Nicolae Ceaușescu und in Bulgarien Todor Schiwkow – im wesentlichen Männer, die ihre Meriten zur Zeit des Stalinismus erwarben, doch sie alle riefen spätestens in den 80er Jahren den Eindruck hervor, als befände man sich im Ostblock auf einer geriatrischen Station.

Diese Situation befriedigte nur noch Mitläufer, Karrieristen, Opportunisten und Apparatschiks. Die meisten Menschen taten das, was Menschen immer unternehmen, sie versuchten, sich mit den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu arrangieren. Auch wenn Aristoteles den Menschen als zoon politikon definierte, sind die meisten Menschen nicht politisch, sie erwarten lediglich, dass Wirtschaft und Gesellschaft funktionieren und einigermaßen so etwas wie Gerechtigkeit besteht. Doch diejenigen, die sich mit dem status quo nicht zufrieden gaben, weil sie die Dekadenz vor Augen hatten, wurden entweder zu Bürgerrechtlern und stellten den Sozialismus generell in Frage oder sie hielten die Vorstellung einer idealen Gesellschaft, Kommunismus genannt, nach wie vor für richtig, nur glaubten sie, dass durch den Stalinismus die Kommunisten vom richtigen Weg abgekommen wären und vertieften sich in das Studium der kommunistischen Häretiker von Rosa Luxemburg und Karl Korsch über Nikolai Bucharin bis Leo Trotzki oder öffneten sich dem westlichen Marxismus. Genau an diesem Punkt griff der junge Generalssekretär an und erweckte damit die Hoffnung, der Sozialismus könnte doch noch zur besten Gesellschaft werden, zum Paradies, eine Hoffnung, die er schließlich nicht erfüllte.

Michail Gorbatschow hatte die übliche marxistische Ausbildung absolviert und den langen Weg durch die Institutionen der Partei angetreten. Biographisch erlebte er höchst unterschiedliche Zeiten, den Stalinismus, das Tauwetter, die Breschnewsche Reaktion und die Zeit ohne Uhren. Nichts kennzeichnet die Widersprüchlichkeit von Nikita Chruschtschows Tauwetter besser als die Tatsache, dass im gleichen Jahr Chruschtschows Geheimrede über die Verbrechen des Stalinismus und die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes durch sowjetische Truppen stattfanden. Auch eine Ironie der Geschichte, der Mann, der verantwortlich für die Unterdrückung der Ungarn 1956 war, stand nicht nur am Anfang der sowjetischen Reformen, sondern förderte Gorbatschow und brachte ihn überhaupt erst in die Position, um Generalsekretär zu werden. Der KGB-Mann Juri Andropow hatte begriffen, dass die Sowjetunion ohne Reformen untergehen würde.

Wir, die wir im Ostblock gelernt hatten, zwischen den Zeilen zu lesen, merkten, dass mit Andropow sich etwas ändern könnte, denn der Niedergang, der Zerfall des Landes, das nur noch die Parolen zusammenhielt, konnte man inzwischen mit Händen greifen. Doch Andropow war damals bereits sehr krank und starb bald nach der Machtübernahme. Die an sich schon geringe Hoffnung nach Veränderung erlosch mit Andropows Tod, zumal an seine Stelle ein Funktionär trat, der wie Breschnews mumifizierter Großvater wirkte. Doch auch die Mumifikation verhinderte nicht, dass der greise Tschernenko Andropow  schnell ins Grab folgte, und ihm der für einen Generalsekretär der KPdSU erstaunlich jugendliche Michail Gorbatschow folgte. Der Mann konnte frei reden, vermied – zumindest in den ersten Jahren – die üblichen Floskeln und Phrasen, die leeren Wendungen, hatte eine aparte Frau an seiner Seite, die ihren eigenen Stil prägte. Im Westen machte das Eindruck, im Osten Hoffnung.

Vor allem setzte er den Klub der vergreisten Parteichefs im Osten unter Druck, zumal es in Polen schon gärte. Doch anders als die Partei- und Staatschefs der Staaten des Warschauer Vertrages forderten, griff diesmal die Sowjetarmee nicht ein. Zum Entsetzen seiner Kollegen in Berlin, Prag, Budapest, Bukarest und Sofia setzte Gorbatschow die Breschnew-Doktrin, nach der die UdSSR die Führungsmacht im Ostblock war, außer Kraft. Von nun an sollte jedes Land für sich allein mit Blick auf die eigenen nationalen Interessen entscheiden. Das trieb den Politbürogreisen im Osten den Angstschweiß auf die Stirn, denn der 17. Juni 1953, der Oktober 1956 in Budapest und der Prager Frühling 1968 hatte sie belehrt, dass ihre Macht letztlich auf der Präsenz der sowjetischen Panzer beruhte. Nun hatte Gorbatschow klargestellt, dass die Panzer nicht wieder rollen würden. Die Staaten des Warschauer Vertrages hatten ihre inneren Angelegenheiten selbst zu klären. Nicht weniger erstaunlich war, dass Gorbatschow sich vom leninschen Konzept der friedlichen Koexistenz, das insofern unehrlich war, weil sie nur als Mittel einer zwar friedlichen, dennoch aber feindlichen Übernahme gesehen wurde, abwandte und nun vom gemeinsamen Haus Europa sprach, in dem man auch friedlich und kooperativ trotz unterschiedlicher Gesellschaftsauffassungen miteinander leben konnte. Er brach mit dem marxistischen Dogma vom Primat der Klasseninteressen, indem er postulierte, dass allgemeine Menschheitsinteressen, wie das Überleben, existierten und sie den Klasseninteressen übergeordnet waren. Aber noch in anderer Beziehung setzte Gorbatschow seine Kollegen im Ostblock unter Druck, nämlich durch Glasnost und Perestroika.

Glasnost bedeutete Offenheit oder besser Öffentlichkeit, die Möglichkeit, dass eine Öffentlichkeit entstehen konnte. Sowjetische Literatur und sowjetische Filme wurden für eine kurze Zeit zu den spannendsten der Welt. Die Archive des Verbots, die Panzerschränke der Zensur wurden geöffnet. Via Westen kamen Schlüsselwerke über den Stalinismus wie Anatoli Rybakows "Die Kinder des Arbat" aus Moskau zu uns, über das ZDF Tengis Abuladses Film "Die Reue", in dem der Regisseur mit Stalin abrechnete. Das provozierte erstaunliche Reaktionen der DDR-Führung. Im Zentralorgan der SED, dem "Neuen Deutschland", kritisierte ein Dr. Harald Wessel den Film in Grund und Boden – nur durfte offiziell kein DDR-Bürger ARD und ZDF schauen. So entstand plötzlich die Absurdität, dass diejenigen belehrt wurden, wie schädlich und schlecht der Film war, den sie nach offizieller Doktrin gar nicht gesehen haben durften.

Niemand wollte bis 1985 das Digest der sowjetischen Presse in der DDR, den "Sputnik" lesen. Jetzt, wo man aus ihm etwas über die Aufarbeitung des Stalinismus und über die Reformen in der UdSSR, über Glasnot und Perestroika, erfahren konnte, wurde der Sputnik erst Mangelware und dann verboten. Da man die eigenen Ansichten in offiziellen Diskussionen durch ein Zitat des Generalsekretärs der KPdSU absichern konnte, wurde das mit fortschreitendem Reformkurs Gorbatschows für die Betonfraktion um Honecker in der DDR zum Problem. Große Heiterkeit erzeugte deshalb der hilflose Satz, den Kurt Hager, damals Mitglied des Politbüros der SED, verantwortlich für die Kultur- und Bildungspolitik, in einem Interview mit dem Stern am 9. April 1987 äußerte: "Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?"

Noch am 7. Oktober 1989 warnte Michail Gorbatschow Honecker davor, sich weiter den notwendigen Reformen zu verschließen, mit der berühmte Formulierung: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Aber da war es schon längst zu spät. Im DDR-Fernsehen liefen stattdessen im Sommer 1989 wie in einer Endlosschleife die Bilder von der Niederschlagung der Proteste der Studenten auf dem Tian’anmen-Platz in Peking – zur Warnung. Für die Friedliche Revolution, für uns, war damals der Satz, ganz gleich, ob Gorbatschow ihn geäußert hatte oder nicht, dass diesmal die Panzer nicht rollen werden, denn das Trauma vom 17. Juni 1953 saß tief, ermutigend. Zwar hätten die Dinge sich letztlich nicht anders entwickelt, wenn Gorbatschows Satz nicht die Runde gemacht hätte, aber er spendete Mut und Zuversicht. So hatten die Ostdeutschen Freiheit und Demokratie erkämpft. Und Michail Gorbatschow? Kam durch einen Putsch zwei Jahre später zu Fall. Die Geschichte ist bekannt.

Das Grundgesetz historischer Redlichkeit lautet, dass man Menschen in ihrer Zeit und nach den Maßstäben ihrer Zeit beurteilt, danach, was sie wissen konnten und welche Handlungsoptionen ihnen offenstanden. Michail Gorbatschow wuchs in einer sozialistischen Gesellschaft mit den Idealen des Kommunismus und dem geistigen Rüstzeug des Marxismus-Leninismus auf. Die Dekadenz des Sozialismus in der Sowjetunion begriff er, als er mit den Reformen 1985 begann, nicht als objektive Konsequenz eines Systems, das nicht funktionieren konnte, sondern als subjektiv verschuldet, weil man sich nicht mehr an die leninistischen Normen des Parteilebens und der innerparteilichen Demokratie hielt. Im Laufe der Reformen begriff er allmählich, dass seine Diagnose falsch war, darin besteht sicherlich die Tragik des Menschen Michail Gorbatschow, doch dass er einen großen Beitrag geleistet hat zum Frieden und zur Verständigung, zur Freiheit der osteuropäischen Länder, dafür geht er als Lichtgestalt in die Geschichte ein. Er hat die Welt zum Besseren verändert. Und dafür ist er einen bewundernswert weiten Weg gegangen.

Klaus-Rüdiger Mai


Klaus-Rüdiger Mai ist Schriftsteller und Historiker, verfasste historische Sachbücher, Biographien und Essays sowie historische Romane. Sein Spezialgebiet ist die europäische Geschichte.

 

Buchtipp:

Klaus-Rüdiger Mai
Michail Gorbatschow: Sein Leben und seine Bedeutung für Russlands Zukunft

Campus Verlag, 397 Seiten, in Onlineshops erhältlich