Titelthema
„Die Mauer kann verschwinden“
Manchmal bleiben Mauern noch lange nach ihrem Fall in den Köpfen der Menschen. Und doch geht eine optimistische Botschaft von der Deutschen Einheit aus.
Beinahe zwei neue Generationen sind nach den schicksalhaften Geschehnissen von 1989/1990 herangewachsen, und für einen Menschen von außen ist es heute schon kaum möglich zu erraten, aus welchem Teil Deutschlands die 15- bis 20-Jährigen stammen – ganz anders als es vor 30 Jahren war. Sogar in Berlin, wo die Folgen der deutschen Teilung am sichtbarsten waren, sind die Spuren nicht mehr so deutlich zu erkennen. Berlin ist inzwischen zum positiven Symbol für die Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Krieges geworden, zum Mekka der Offenheit und Vielfalt für junge Europäer.
Aber es ist auch offensichtlich, dass die Lehren, die man aus den damaligen historischen Ereignissen ziehen kann, heute von größerer Bedeutung sind als in den vergangenen Jahren. Auf jeden Fall erscheint es so aus russischer Sicht. Die Wiedervereinigung Deutschlands war schließlich die Folge von Prozessen, die Michail Gorbatschow nach seinem Machtantritt 1985 ins Rollen gebracht hat und die auch für Russland epochal waren.
Die ersten Slogans dieser Zeit, die man später als Perestroika bezeichnete, waren „Beschleunigung“ und „Glasnost“, die als Reaktion auf die Stagnation der Breschnew-Jahre wahrgenommen wurden. Das Jahr 1989 ist zum Höhepunkt dieser Beschleunigung geworden. Versucht man heute die damalige politische Situation zu analysieren, so ist es unglaublich beeindruckend, mit welcher Schnelligkeit sich all das entwickelte – was Perestroika an politischen Veränderungen gebracht hat.
Vor der damaligen sowjetischen Gesellschaft standen zwei entscheidende und „ewige“ russische Fragen: wer trägt die Schuld dafür, dass man so lebt, und was ist zu tun? Es schien, dass für viele die Antworten klar waren: schuld war das sowjetische Regime mit der Alleinherrschaft der kommunistischen Partei. Und was zu tun war, lag auf der Hand: die Abschaffung des Einparteiensystems, die Durchführung von wirtschaftlichen Reformen und die Aufarbeitung der Vergangenheit, vor allem der Geschichte des politischen Terrors. 1989 wurden zum ersten Mal in der sowjetischen Geschichte freie Wahlen durchgeführt, die Zensur faktisch abschafft. Auf den Straßen der Großstädte demonstrierten Tausende für Freiheit und Demokratie. Viele früher verbotene Bücher, allen voran Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“, wurden veröffentlicht.
Auch außerhalb der sowjetischen Grenzen schlugen die Wellen hoch – das sozialistische Lager brach zusammen. Polen, Ungarn, Tschechoslowakei – es sah so aus, als gebe es fast niemanden mehr, der an seinem Erhalt Interesse haben könnte. Nur die DDR schien als letzte Bastion dazustehen. Aber schon im Sommer 1989, als Gorbatschow auf einer Pressekonferenz nach dem Treffen in Bonn mit Helmut Kohl gefragt wurde: „Und wie ist es mit der Mauer?“, kam von ihm eine verblüffende Antwort: „Nichts ist ewig unter dem Mond. Die Mauer kann verschwinden, wenn die Voraussetzungen, die sie hervorgebracht haben, wegfallen. Ich sehe hier kein großes Problem.“
Keine Lust auf Honecker
Es hieß, mit anderen Worten, dass diese Mauer nicht für die Ewigkeit gebaut war und fallen könne. Heute ist es schwer zu begreifen, wie tief dieses „für die Ewigkeit“ in den Köpfen von Menschen verankert war. Und das galt nicht nur für die Berliner Mauer, sondern für das ganze kommunistische System.
Aber auch nach diesen Worten Gorbatschows konnte niemand sich vorstellen, dass die Berliner Mauer in einigen Monaten wirklich fallen wird und schon nach einem Jahr es zur Wiedervereinigung Deutschlands kommen könnte. Gorbatschow sagte Jahre später in einem Interview: „Weder ich noch Helmut Kohl haben im Sommer 1989 damit gerechnet, dass alles so schnell läuft.“
Doch schon im Herbst 1989 gingen in Leipzig Tausende zu Protestdemonstrationen auf die Straße. Im Oktober fuhr Gorbatschow zur 40-Jahr-Feier des Bestehens der DDR, aber es war deutlich zu spüren, dass seine Beziehung zu Honecker sehr kühl war. Als viele Jahre später die Aufzeichnungen seines Mitarbeiters Anatolij Tschernjajew veröffentlicht wurden, war klar, wie ungern er der Einladung Honeckers gefolgt war, und welchen Eindruck die Protestdemonstrationen in der DDR auf ihn machten. Das belegt eine Notiz vom 5. Oktober 1989: „Michail Sergejewitsch fliegt morgen in die DDR zur 40-Jahr-Feier. Er hat gar keine Lust dazu. Den Text (der Rede) hat er bis auf den letzten Buchstaben durchgekaut. Kein Wort als Unterstützung für Honecker werde er sagen. Heute gab es in Dresden eine Demonstration mit 20.000 Menschen – gestern gab’s das in Leipzig. Es gibt Informationen, dass sie in Gegenwart Gorbatschows beginnen werden, die Mauer zu stürmen.“ Einige Tage später gibt Tschernjajew den Kommentar von Gorbatschow zu seinem Besuch in der DDR wieder und zitiert dessen Worte über Honecker: „Er hätte den Seinen erklären können: ‚Ich bin 78 Jahre alt, in dieser schwierigen Zeit braucht man viel Kraft. Lasst mich gehen.‘ Dann würde er vielleicht in die Geschichte eingehen. Jetzt wird er vom Volk schon verdammt.“
Keine Vorurteile, keine Ängste
Alles, was später passierte, war deshalb möglich, weil nach dem Mauerfall die historische Chance zur Wiedervereinigung von Helmut Kohl und anderen deutschen Politikern sehr schnell genutzt wurde. Und weil Gorbatschow dieser Chance nicht im Wege stehen wollte. Er sah keinen Sinn mehr darin, sich der Geschichte, die ihren Lauf so beschleunigt hatte, entgegenzuwirken. Dabei muss man bedenken, dass in der DDR über 300.000 Soldaten sowjetischer Truppen stationiert waren – ein großer Risikofaktor, wenn Gorbatschow nicht den Entschluss gefasst hätte, sie letztlich aus der DDR abzuziehen. Der Abzug sowjetischer Truppen aus Afghanistan hatte ja schon 1988 begonnen.
Damals wurde Gorbatschow von den demokratischen Kräften scharf kritisiert, vor allem dafür, dass er mit wirtschaftlichen und politischen Reformen zögere – aber den Fehler, sich am Eisernen Vorhang festzuhalten, machte er nicht. Er und seine Perestroika-Mitstreiter wollten keine Konfrontation mit dem Westen mehr, und wichtig war dabei der persönliche Faktor. Gorbatschow hatte im Unterschied zu den früheren sowjetischen Führern keine Vorurteile gegenüber dem Westen, keine Ängste oder Misstrauen. Im Gegenteil: Vor allem gegenüber Helmut Kohl empfand er ein Vertrauensgefühl, und das beschleunigte den Prozess der Wiedervereinigung und den Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrags.
Damit ging die Epoche des Kalten Krieges zu Ende. Es veränderten sich gravierend die Beziehungen Russlands zum Westen und insbesondere zu Deutschland. Das vereinte Deutschland wurde zum wichtigsten westlichen Partner. Es schien, dass alle Stereotype und Vorurteile jetzt weggeräumt worden waren. Zumal, als in den für Russland sehr harten Wintern der Jahre 1989 bis 1991 massive humanitäre Hilfe aus Deutschland kam. Eine starke Sympathie, Mitgefühl und Engagement für das neue Russland kam aus Deutschland wie aus keinem anderen Land. Aber nicht nur das – die Idee Gorbatschows von dem gemeinsamen Europäischen Haus schien jetzt realistisch zu werden.
Seither sind 30 Jahre vergangen, und es fällt heute in Russland einem Zeitzeugen aus dem demokratischen Lager schwer, sich an die Ereignisse von 1989/1990 ohne Bitterkeit über die nicht erfüllten Hoffnungen und verpassten Chancen zu erinnern. Spätestens Mitte der 90er Jahre machte es sich bemerkbar, dass der angefangene Prozess der demokratischen Reformen ins Stocken geraten war, vor allem was Justiz und Geheimdienste betraf. Es gab keine Lustrationen, keinen konsequenten Elitenwechsel und keine in die Tiefe gehende Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit. Die Wirtschaftskrise hat bei vielen starke Existenzängste und Nostalgie nach den angeblich stabilen sowjetischen Zeiten ausgelöst. Die wahre Erinnerung an die kommunistische Diktatur verblasste oder wurde verdrängt. Es entstand eine gefährliche Kombination aus Selbstmitleid, Ressentiments und Aggression. So wurde Demokratie fast zum Sinnbild für das Chaos und die Misere, Freiheit schien nicht mehr verlockend zu sein. Ende der 90er Jahre war Russland reif für eine „starke Hand“, für einen Leader, der endlich Ordnung schaffen würde.
Mit Wladimir Putins Machtantritt kam die ideologische Wende, von nun an sollten die Hauptwerte Patriotismus und Nationalstolz sein. Es lebten die alten sowjetischen Stereotype wieder auf: die Vorstellung vom Westen als Feind und Quelle allen Unglücks für Russland, der das Land in den 90er Jahren fast in die Knie gezwungen hätte; von einer „fünften Kolonne“, die im Auftrag dieses Feindes agierte; von der Feindseligkeit der Nachbarländer. Die Befreiung der Länder Osteuropas aus der sowjetischen Einflusssphäre, der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Kalten Kriegs wurden als Niederlagen, der Abzug der sowjetischen Truppen als Zeichen der Schwäche Gorbatschows und sogar als Verrat gesehen. Das macht sich besonders im Internet auf nationalistischen Internetportalen bemerkbar, ist aber auch die Sichtweise auf diese Geschehnisse von kremlnahen Politologen, die Gorbatschow die Erweiterung der NATO vorwerfen.
Aber in den letzten Jahren ist zu spüren, dass diese turbulente Zeit bei jungen Russen auf positive Weise wieder Interesse weckt. Die deutsche Wiedervereinigung ist ein Beispiel dafür, wie unerwartet schnell Bewegung in eine unzufriedene Gesellschaft kommen kann, die begriffen hat, dass sie Veränderungen und Reformen braucht. Die Geschichte von 1989/1990 zeigt, wie aus der angeblich hörigen Masse Subjekte der Geschichte werden, die von dem Gefühl erfasst sind, etwas bewirken zu können. Und man kann auch aus dieser Erfahrung optimistische Schlussfolgerungen ziehen, wie diktatorische Systeme, so fest und ewig sie auch erscheinen, unter dem Druck von Menschen sich plötzlich als morsch und schwach erweisen.
Demokratie muss verteidigt werden
Es ist auch im Nachhinein die Lektion darüber, dass die Schnelligkeit, mit der damals alles passierte, einerseits die unglaublich rasche Wiedervereinigung ermöglicht hat, aber anderseits den trügerischen Schein erzeugte, dass das Wichtigste schon geschehen ist. Aber Mauern, auch wenn sie abgerissen sind, bleiben lange in den Köpfen von Menschen bestehen. Die Entwicklung, nicht nur in Russland, wo demokratische Errungenschaften nicht verteidigt worden sind und wo das autoritäre Regime entstand, sondern auch in Deutschland – mit der Ausbreitung von Rechtspopulismus –, war viel schwieriger und dramatischer, als man es sich anfangs vorgestellt hat. Und trotzdem ist es zweifellos eine optimistische Botschaft, die die Geschehnisse dieser Zeit uns vermitteln: dass die Mauer und Diktaturen nicht ewig sind, dass Menschen vieles bewirken können, wenn ihre Geduld am Ende ist.
Dr. Irina Scherbakowa ist Historikerin und Germanistin. Sie forscht zu Oral History, Totalitarismus, Stalinismus, Gulag und sowjetischen Speziallagern auf deutschem Boden nach 1945, Fragen des kulturellen Gedächtnisses in Russland und der Erinnerungspolitik. Zuletzt erschien von ihr 2017 „Vaters Hände“ bei Droemer & Knaur.