Nachruf
Ein tragischer Held: Michail Gorbatschow
Im Westen gefeiert, viel kritisiert im eigenen Land: Michail Gorbatschow starb mit 91 Jahren. Ein Nachruf von Johannes Grotzky
Michail Gorbatschow wird als der tragische Held in die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts eingehen. Seine Anhänger – die meisten außerhalb der ehemaligen Sowjetunion – sehen in ihm den Mann, der den Kalten Krieg beendet, die mitteleuropäischen Satellitenstaaten in ihre Souveränität entlassen und die Deutsche Einheit maßgeblich mitbewirkt hat.
Seine Gegner – die meisten davon heute in Russland – werfen ihm die Sprunghaftigkeit wirtschaftlicher und politischer Reformen vor, die letztlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt haben.
Besonders heikel ist das Verhältnis zu Gorbatschow in den Kaukasusstaaten, namentlich Georgien und Aserbaidschan, sowie in den baltischen Staaten, namentlich Litauen und Lettland, weil sie alle einen vermutlich sinnlosen Blutzoll dafür zahlen mussten, dass Gorbatschow noch zuletzt in diesen ehemaligen Sowjetrepubliken das Auseinanderbrechen der Sowjetunion unter Einsatz militärischer Gewalt stoppen wollte.
Damit hatte der Reformer nicht nur für diese Staaten seine politische Unschuld verloren. Jüngste Stimmen aus der Ukraine machen ihn auch verantwortlich für die lange Verzögerung beim Eingreifen der Kernkraftkatastrophe von Tschernobyl, deren wirkliche Opferzahlen auch bis heute nur geschätzt sind.
So erscheint die Hochachtung vor Gorbatschow in der westlichen Welt als herber Kontrast zu der öffentlichen Meinung, die man bis heute im Bereich der ehemaligen Sowjetunion über ihn zu hören bekommt.
Viel Kritik im eigenen Land
Michail Gorbatschow hat die negative Stimmungslage im eigenen Land persönlich registriert, als er bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen in Russland nur 0,5 Prozent der Stimmen bekam, während sein parteiinterner Widersacher Boris Jelzin den Sieg davontrug. Aber Gorbatschow reagierte auch auf diese öffentliche Meinung.
Seit seiner Entmachtung hat er in zahlreichen Büchern und sehr persönlichen Erinnerungen, von denen mehr als ein Dutzend auch in Deutschland erschienen sind, seine Positionen erläutert, verteidigt und mit seinen Gegnern ebenso scharf abgerechnet, wie diese es in ihren jeweiligen Memoirenbänden getan haben. Einen noch stärkeren Nachhall hat sich Gorbatschow durch die Herausgabe seiner gesammelten Werke erhofft, von denen bis zu seinem Tod 29 Bände auf Russisch erschienen sind.
Kaum sieben Jahre stand Gorbatschow an der Spitze der Sowjetunion, als Generalsekretär der KPdSU und dann als erster und letzter Staatspräsident. In dieser Zeit hatten wir ausländischen Journalisten bestenfalls auf Auslandsreisen eine Chance, uns dem GenSek, wie er genannt wurde, und seiner Frau Raissa zu nähern. Auf Inlandsreisen hatten mehrheitlich die sowjetischen Medien dieses Privileg.
Da seine Inlandsreisen nahezu vollständig im Fernsehen übertragen wurden, gelangten für Gorbatschow fast peinliche Momente an die Öffentlichkeit: Proteste der Bevölkerung gegen den wirtschaftlichen Niedergang, gegen die Wiedereinführung von Lebensmittelmarken und den Verlust von Arbeitsplätzen.
Dann erlebte die Bevölkerung vor Ort und live am Fernsehschirm einen Generalsekretär, der zwar viele Worte machte, aber eher mit Phrasen vertröstete als Lösungen anzubieten. Im Volksmund wurde dafür der Begriff "boltatj", also "schwatzen" statt reden, als Ausdruck für Gorbatschows Ansprachen verwendet.
Staatsmann im Ausland
Anders war es auf Auslandsreisen. Dort trat Gorbatschow als Staatsmann auf, der das größte Land der Erde und dazu eine bedeutende Atommacht repräsentierte. Und er war der Mann der Entspannung, so jedenfalls wurde er in den USA und den westeuropäischen Staaten begrüßt. Weniger spektakulär, dafür aber um so ergiebiger für Journalisten, waren etwa seine Reisen nach Indien oder Jugoslawien.
Daran knüpfen sich Erinnerungen, über die sich wiederum Gorbatschow in späteren Jahren bei ungezwungenen Begegnungen amüsieren konnte. So wartete seine Frau Raissa einst am Flughafen in Belgrad allein auf ihren Ehemann. Die Maschine war zwar startklar, aber wer unter den ausländischen Journalisten in diesem Moment Russisch nutzte, fand in Raissa sofort eine interessierte Gesprächspartnerin. Also wandte sie sich an unsere kleine Gruppe.
Der Deutschlandbesuch stand bevor, zu dem ich einige Fragen hatte. Sie reagierte charmant und diplomatisch höflich in diesem kurzen Interview, ließ sich bereitwillig fotografieren, als die SIL-Limousine ihres Gatten in Begleitung des Parteichefs der Serbischen Kommunisten, Slobodan Miloševič, heranrollte und Gorbatschow ihr entgegenkam.
Abrupt wandte sie sich ihrem Gatten zu und rief laut vernehmlich: "Michail Sergejewitsch, potschemy Wy oposdalis? – Michail Sergejewitsch, warum haben Sie sich verspätet?" Dann schoben sich schon die Leibwächter dazwischen und die Antwort von Gorbatschow war nicht mehr zu hören.
Das Interessante an dieser Szene war nicht nur die Tatsache, was sie sagte, sondern wie sie ihn ansprach: In der Öffentlichkeit mit Vor- und Vatername und Sie. Das entspricht der russischen Höflichkeitsform.
Auf Michail Gorbatschow lasteten zwei Erlebnisse so schwer, dass er immer wieder darauf zu sprechen kam: Das erste war die Kernkraftkatastrophe von Tschernobyl. Immer und immer wieder hat er betont, dass auch Moskau von den ukrainischen Behörden und Parteioberen nicht informiert, ja sogar belogen wurde. Und Gorbatschow wusste, dass Tschernobyl bei der Bevölkerung zu einem nachhaltigen Vertrauensbruch zu seiner Politik geführt hat.
Die zweite schwere Last war der Tod seiner Frau, die in einer deutschen Klinik gestorben war. Raissa Maximowna war so etwas wie sein Alter Ego. Nur so ist auch die scharfe Abrechnung mit seinem Gegenspieler Boris Jelzin zu verstehen, der auf dem ZK-Plenum im Oktober 1987 vor allem das Verhalten von Gorbatschows Frau im Ausland mit großen Einkäufen und teuren Kleidern kritisiert hatte. Die Reaktion von Gorbatschow war gnadenlos und als Wortprotokoll am nächsten Tag in fast allen Zeitungen nachzulesen. Jelzin flog aus dem Politbüro und musste in der Manier stalinistischer Schauprozesse im ZK bekennen: "Ich habe mich schuldig gemacht vor dir, Michail Sergejewitsch, und vor der ganzen Partei."
Gorbatschow, der sich im Recht sah, verstand gar nicht, dass mit dieser Erniedrigung von Jelzin dessen Aufstieg bei der Bevölkerung begann.
Überraschend offenherzige Einlassungen
Gorbatschow galt gegenüber vielen seiner späteren, parteiinternen Kritiker als eher beratungsresistent und besserwisserisch. Um so erstaunlicher sind gewisse Vertraulichkeiten, die Raissa im Hintergrundgespräch und in Anwesenheit ihres Gatten preisgab.
Einmal ging es um die Frage, ob Gorbatschow 1985 für das Amt des Generalsekretärs in Frage käme. Raissa berichtete, ihr Mann sei nach Hause gekommen und dann seien sie in den Garten gegangen, damit man frei und ungestört über die Konsequenzen einer möglichen Amtsübernahme sprechen könne. Auf die Zwischenfrage, warum in den Garten, meinte sie ganz unverblümt: "Wir konnten nicht sicher sein, ob wir im Haus abgehört wurden."
Zu weiteren Bekenntnissen kam es mit Gorbatschow bei einem seiner später häufigen Besuche in München. Dabei lobte er einmal den polnischen Papst Johannes Paul II., mit dem ihn ein Briefwechsel verband, über den Gorbatschow sagte: "Wann immer uns etwas bedrückte, konnten wir uns frei darüber austauschen." Historiker werden hierzu sicher noch zu recherchieren haben.
Bei einem anderen Hintergrundgespräch wunderte sich Gorbatschow rückblickend über die Gewinne der Kommunistischen Partei, die bei den Dumawahlen 1995 als stärkste Kraft 157 Abgeordnete stellte, während die anderen vier Parteien zwischen 55 und 20 Sitze erreichten. Nahezu wörtlich meinte Gorbatschow: "Zur Sowjetzeit hatten wir bei Wahlen zwar mehr als 90 Prozent Zustimmung zur KP angegeben, doch in Wirklichkeit waren es manchmal nur 40 bis 50 Prozent."
In der jovialen Attitüde eines "elder statesman" waren wir Journalisten für Gorbatschow in der Regel immer ein "molodoj tschelowjek", ein "junger Mensch". Das hielt sich bis in sein hohes Alter. Und oftmals bestätigte Gorbatschow Begegnungen aus früheren Jahren, an die er sich schon deshalb kaum dürfte erinnern können, weil wir bei vielen Reisen hinter einer Phalanx von Leibwächtern standen und nur selten für ein Foto nahe an ihn und seine Gattin gelassen wurden.
Gorbatschows Rolle bei Abrüstung und Wiedervereinigung
Zwei politische Themen begleiteten Gorbatschow bis ins hohe Alter: Das eine war sein Ringen um Abrüstung, das seiner Meinung nach international nicht ausreichend gewürdigt wurde. Gerade als er Ende 1988 einen weitgehenden Abrüstungsvorschlag in den Vereinten Nationen (UN) vortrug, bebte am 7. Dezember in Armenien die Erde. Eine Zahl von mindestens 25.000 Toten gilt als wahrscheinlich. Gorbatschow brach den Besuch in den USA ab und flog sofort nach Armenien. Wer die Fotos von ihm aus dem Hubschrauber vor Augen hat, erinnert sich an einen zutiefst erschütterten und verunsicherten Gorbatschow, wie er nicht einmal beim Zusammenbruch der Sowjetunion zu beobachten war.
Ein anderes Lebensthema war für ihn Deutschland und die deutsche Einheit. Es gibt inzwischen zahllose Memoirenbände und den Zugang zu vielen Archiven, aus denen hervorgeht, dass ohne Gorbatschow diese Einheit nicht zustande gekommen wäre. Nicht zuletzt warf Gorbatschow seine Zustimmung zur deutschen Einheit in die Waagschale gegen das Votum unserer eigenen Verbündeten, der britischen Premierministerin Thatcher und des französischen Präsidenten Mitterrand. Hier sah sich Gorbatschow an einem Strang mit dem US-Präsidenten Bush ziehen.
Umso enttäuschter war Gorbatschow, als Präsident Bush sich am 28. Januar 1992 vor dem amerikanischen Kongress als Gewinner des Kalten Kriegs ausgab. Doch trotz des Machtverlusts, trotz vieler Enttäuschungen und nachhaltigen Anfeindungen früherer Weggefährten, die zu Gegnern wurden, war Gorbatschow nie verbittert. Er konnte Dinge ausblenden, um die Geschichte so zu sehen, wie es seinem Selbstbild entsprach. Das letzte Wort darüber werden nun künftig die Historiker haben.
Johannes Grotzky, geboren 1949 , ist Journalist und Honorarprofessor an der Universität Bamberg. Er arbeitete in den 80er Jahren als Hörfunkkorrespondent der ARD in Moskau. 1989 wechselte er als Balkankorrespondent und Leiter des ARD-Hörfunkstudios Südosteuropa nach Wien. Von 2002 bis 2014 war er Hörfunkdirektor des Bayerischen Rundfunks (BR). Seine Artikel wurden zudem in der "Neuen Züricher Zeitung" und der "Zeit" veröffentlicht, er publizierte ebenso zahlreiche Aufsätze und Bücher zu Osteuropa.