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Erfolg durch Anpassung

Nicht nur die Einwanderer müssen sich an die Deutschen gewöhnen, auch die Deutschen müssen sich ändern

G. Pascal Zachary01.03.2016

Die deutsche Gesellschaft verdient Lob für gute Absichten. Die syrische Flüchtlingskrise hat, anstatt die deutsche Regierung zu verblüffen oder zu verwirren, die feinsten Instinkte in ihren Führungskräften geweckt. Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst zeichnete sich dadurch aus, dass sie darauf bestand, dass die deutsche Gesellschaft mehr syrische Flüchtlinge aufnehmen könnte und werde als ihre zwiespältigen Nachbarn. Die kühne deutsche Geste wirft neue Fragen dazu auf, wie Flüchtlinge am besten willkommen geheißen werden und ob das Angebot eines dauerhaften Aufenthalts in Deutschland der beste Weg für die Zukunft ist.

Deutschland ist kein traditionelles Einwanderungsland, wie es die USA und Australien sind. Die deutsche Geschichte mit ihrer langjährigen Betonung von ethnischen und rassischen Definitionen sozialer Einheit hat nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg geöffnet für gesetzliche Konzepte der Zugehörigkeit wie etwa die Staatsbürgerschaft. Und doch diente das Verschmelzen von Ost- und Westdeutschland nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks vor 25 Jahren dazu, daran zu erinnern, dass die Definition des Deutschseins größten Teils ethnisch blieb. Die besonderen Rückkehrbedingungen für ethnische Deutsche, die lange in anderen Teilen des sowjetischen Blocks leben mussten, verstärkten das Gefühl, dass die deutsche Identität zwischen den beiden Welten gefangen war – der umkämpften und zerstörenden Vergangenheit und der kosmopolitischen, Europa-orientierten Zukunft.

Berliner Kampagne

Als ich Anfang 2000 ein Buch auf Deutsch veröffentlichte und das Land wiederholt besuchte, spürte ich eine tiefgreifende Veränderung, die bei den Vorstellungen zu nationaler Identität in vollem Gang war. Eine Berliner Kampagne zeigte den Wandel sehr gut. Plakate und Poster mit dem Titel „Ich bin ein Berliner“ zeigten Dutzende von Gesichtern Berliner Bürger aller Ethnien und Abstammungen; eine  Momentaufnahme der vielsprachigen Menschen in der Hauptstadt.

Die Angriffe von al Kaida auf die USA im September 2001 versetzten dem deutschen Weltbürgertum einen Schlag – nicht zuletzt, weil einige der Terroristen in Deutschland gelebt hatten. Nun entstand eine neue Bedrohung für das Gesamtprojekt der Unterstützung einer vielfältigen Gesellschaft und energischerer Anstrengungen zur Integration von Ausländern. Die Herausforderungen von Vielfalt und Integration wurden zudem durch das Aufkommen einer globalen islamisch-fundamentalistischen Bewegung verkompliziert, die scheinbar die westlichen Werte der Toleranz und insbesondere die dauerhafte Vorstellung zurückweist, dass Kirche und Staat getrennt bleiben müssen.

Doch kommen wir zur syrischen Flüchtlingskrise. Deutschland nahm 2015 rund 1,1 Millionen Flüchtlinge auf, von denen die meisten vor dem Kriegg in Syrien geflohen waren. Ihre Anwesenheit zwingt die Deutschen, bessere Bedingungen für Neuankömmlinge zu schaffen, die den Wohlstand, die industriellen Fähigkeiten und kulturellen Talente hierzulande bewundern, jedoch wahrscheinlich kein Deutsch sprechen und wenig verstehen von Pflichten, die von gebürtigen Deutschen akzeptiert werden. Die Frage lautet nun, wie Deutschland so viele Fremde aufnehmen und integrieren kann, ohne dass Enklaven, Gruppen oder Ghettos von benachteiligten Minderheiten entstehen.

konstruktive schritte

Es gibt keine einfachen Antworten darauf, wie eine soziale Harmonie in einer ethnisch-national vielfältigen Gesellschaft erreicht werden kann. Die deutsche Regierung hat einen wichtigen ersten Schritt mit dem Versuch unternommen, ein Gleichgewicht zu erzielen zwischen humanitärer Sorge und der Tatsache, dass zu viele und zu schnell aufgenommene Neuankömmlinge den guten Willen und das Sozialsystem  in Deutschland überfordern. Daher sollte die Ankündigung des deutschen Vizekanzlers Sigmar Gabriel im Januar,  Algerien, Marokko und Tunesien auf die Liste der „sicheren Herkunftsländer” zu setzen, nicht als Rückschritt betrachtet werden. Eher leidenschaftslose Beobachter könnten den Schritt zur Verlangsamung des Flüchtlingszustroms als eine Vorbedingung dafür betrachten, die Chancen für eine positive Integration zu verbessern.

Abschreckende USA

Ein weiterer konstruktiver Schritt: Europas Bemühen für einen Waffenstillstand im syrischen Bürgerkrieg und die Entscheidung der NATO zu Patrouillen im Mittelmeer. Keine Gesellschaft kann eine unbegrenzte Zahl an Flüchtlingen integrieren. An einem bestimmten Punkt müssen die politischen Entscheider darauf bestehen, ein Gleichgewicht zwischen humanitären Idealen und Realität zu schaffen.  

Wie sieht diese Realität aus? Der wichtigste Punkt: Wenn ein überwältigender Teil der Flüchtlinge aus einem einzigen Land kommt, wie dies bei den Mexikanern in den USA der Fall ist und bei den Türken früher in Deutschland, dann droht eine „balkanisierte“ Gesellschaft, in der sich eine vereinigte Gruppe an Neuankömmlingen nicht integrieren lässt. In den USA stellen die Mexikaner die Mehrzahl der legalen und illegalen Einwanderer, und – nicht überraschend – viele Mexikaner sträuben sich, Englisch zu lernen. In Kalifornien, dem US-Bundesstaat mit den meisten Mexikanern und mexikanischstämmigen Amerikanern, wird Spanisch inzwischen von vielen bundesstaatlichen Behörden offiziell unterstützt, während 25 Prozent der mexikanischstämmigen Amerikaner die High School ohne Abschluss verlassen (das sind doppelt so viele im Vergleich zu den Weißen).

Stark fraktionierte Vielfalt bedeutet, dass Neuankömmlinge – unabhängig davon ob sie als Flüchtlinge oder Einwanderer bezeichnet werden – aus einer großen Anzahl unterschiedlicher Herkunftsländer stammen. Die Vorteile liegen klar auf der Hand: Die Neuankömmlinge können sich nicht in eine große ethnische Gemeinschaft zurückziehen und eine Parallelwelt im Hinblick auf Gebräuche, Kulturen und Einrichtungen aufbauen. Auch wenn es ihnen schwer fällt, sich den Sitten der Einheimischen anzupassen, können sie Beistand bei anderen Neuankömmlingen finden, die nicht genau so sind wie sie. Daher ist jeder gezwungen, sich anzupassen. Die Anpassung der Neuankömmlinge untereinander hilft ihnen gewöhnlich, sich leichter an die Sitten der dominierenden einheimischen Kultur zu gewöhnen.

Manchmal ist die stark fraktionierte Vielfalt eine Folge des Kolonialismus. In Großbritannien gibt es diese Vielfalt, da sich das Königreich in der Kolonialzeit über große Teile der Welt erstreckte. Andere Länder etwa Kanada schaffen es, mannigfaltige Vielfalt dadurch zu erreichen, die sie ein Punktesystem entwickelt haben. Nur wer eine ausreichende Anzahl solcher Punkte erreicht, darf einwandern.

Hoffnung für deutschland

Deutschland verfügt über eine gewisse Erfahrung mit dem Vorzugssystem, insbesondere im Hinblick darauf, das Land für ausländische Wissenschaftler und Techniker attraktiv zu machen. Im Großen und Ganzen jedoch erlebt Deutschland die Vielfalt als eine Folge von unglücklichen Ereignissen, die Flüchtlinge dazu zwingen, ihr Zuhause zu verlassen  wie schon beim  Zerfall Jugoslawiens oder aufgrund eines ungewöhnlichen Arbeitskräftemangels wie in den 1960-er Jahren. In letzter Zeit hat die Migration innerhalb der Europäischen Union der Vielfalt einen frischen und möglicherweise sehr gesunden Charakter verliehen, indem sie junge, mobile Bürger aus Irland, Polen, Spanien und aus anderen europäischen Ländern nach Deutschland brachte. Noch sind die Erfahrungen der europäischen Mobilität zu jung, um sie bewerten zu können. Aber die Bewegung der Europäer in und um Deutschland herum wird die Erfahrung der Vielfalt weiterentwickeln. Vielfalt wird nicht länger nur definiert als die Aufnahme von Flüchtlingen.

Die Hoffnung für Deutschlands Fähigkeit liegt dann in dieser breiteren Wahrnehmung der Vielfalt. Hinzu kommt die Anerkennung dessen, wie Unterschiede dazu beitragen, der Gesellschaft Antrieb zu geben. Im Fall Deutschlands werden jüngere Wirtschaftsmigranten aus anderen europäischen Ländern sowie jüngere Flüchtlinge dazu beitragen, dass hierzulande  mehr jüngere und flexiblere erwerbsfähige Menschen leben werden.

mehr toleranz

Kann dieser sonnige Übergang ohne Veränderungen in der nationalen Kultur Deutschlands erfolgen? Wahrscheinlich nicht. In dieser Hinsicht wird vielleicht der ausländerfeindliche rechte Flügel im politischen Spektrum Deutschlands in näherer Zukunft größer und lauter werden. Die Intensität der ausländerfeindlichen Stimmen kann jedoch nur den Rückzug der nativistischen Hoffnungen einläuten. Deutschland ist zu groß, wirtschaftlich zu erfolgreich und bereits zu vielfältig, um sich vom Weg in Richtung europäischen Weltbürgertums zurückzuziehen.

Die syrische Flüchtlingskrise hat bereits jetzt den Trend zu einem humanen, offenen, toleranten und pluralistischen Deutschland verstärkt. Unabhängig davon, wo das Gleichgewicht festgelegt wird, wie viele Flüchtlinge wie schnell aufzunehmen sind, ist die ungefähre Form der künftigen Gestaltung gewiss: Damit ein vielfältiges Deutschland Erfolg hat, müssen sich alle  Bürger hier anpassen. Diese Anpassungen werden manchen Deutschen nicht willkommen sein. Bei der Berechnung des Glücksgefühls sollte jedoch niemand den Siegespreis aus dem Blick verlieren: Diese Anpassungen bieten eine Gelegenheit für Progressive und Reformer, eingedenk der Tatsache, dass Deutschland nicht perfekt, jedoch erfolgreich ist, um Veränderungen um ihrer Sache willen lohnenswert zu machen. 

G. Pascal Zachary
G. Pascal Zachary ist u.a. Autor des Buches „The Diversity Advantage: Multicultural Identity in the New World Economy“ (auf Deutsch: „Die neuen Weltbürger – Wettbewerbsvorteile kosmopolitischer Gesellschaften“) und Professor an der School for the Future of Innovation an der Arizona State University. Zuletzt veröffentlichte er „Married to Africa: a love story“ (Scribner Book Company, 2013) gpascalzachary.com