Titelthema
Da wächst etwas zusammen
Deutschland und die Ukraine haben sich einander angenähert. Das ist eine gute Basis für den Wiederaufbau und Europas Zukunft nach dem Krieg.
In den letzten drei Jahren haben die Ukrainer Deutschland viel besser kennengelernt. Zuvor waren es nur Eindrücke von Touristen oder Geschäftsreisenden sowie allgemeine Informationen aus den globalen Medien. Nach dem Ausbruch des Krieges hat Deutschland jedoch mehr als eine Million ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Das wird in der ukrainischen Gesellschaft hoch geachtet, und die Ukrainer werden dafür immer dankbar sein. Die ukrainischen Flüchtlinge halten Kontakt zu ihren Verwandten und Freunden und teilen ihre Eindrücke von Deutschland mit: Es ist ein fleißiges und gut organisiertes Volk, das Land verfügt über eine hervorragende Infrastruktur, und das Sozialhilfesystem ist auf einem sehr hohen Niveau. Viele öffentliche und private Dienstleistungen sind jedoch nicht digitalisiert, und das Warten auf Papierrechnungen oder -briefe erscheint den Ukrainern manchmal seltsam, da sie ihre Rechnungen meist per Online-Banking bezahlen und ihre Kommunikation mit Behörden größtenteils über digitale Signaturen abwickeln.
Die Ukrainer beobachten die Debatte über die Migrationspolitik in Deutschland. Dies ist nicht nur deshalb wichtig, weil politische Entscheidungen in diesem Bereich das Schicksal von mehr als einer Million ukrainischer Bürger betreffen, die derzeit in Deutschland leben. Nach dem Ende des Krieges wird die Ukraine auch mit einem Mangel an Arbeitskräften konfrontiert sein. Und um diesen zu beheben, könnte man die Idee in Betracht ziehen, Arbeitsmigranten aus anderen Ländern, auch aus Ländern anderer Kulturen, einzuladen. Die deutschen Erfahrungen werden für ukrainische Politiker wichtig sein, um zu lernen, wie man eine Migrationspolitik gestaltet, die Migranten zu wirtschaftlich aktiven Arbeitskräften macht und nicht zu einer Belastung für das Sozialsystem.
Während eines Krieges in vollem Umfang leistet die deutsche Regierung der Ukraine erhebliche wirtschaftliche und militärische Hilfe, und die Rolle Deutschlands ist für die Ukrainer immer besonders sichtbar. Es ist erwähnenswert, dass zu Beginn des Jahres 2022 nur nichttödliche Ausrüstung bereitgestellt wurde. Inzwischen erhält die Ukraine aber sogar moderne Iris-T-Systeme aus Deutschland, die ukrainische Städte vor Raketenangriffen schützen. Und Rheinmetall hat das erste Joint Venture zur Reparatur von militärischem Gerät in der Ukraine gegründet. Die Ukrainer erwarten, dass die nächste Bundesregierung eine Entscheidung über die Weitergabe von Taurus-Raketen trifft. In der Ukraine werden solche Waffen als Chance gesehen, mit der russischen Armee gleichzuziehen, nicht als Eskalation des Krieges. Die Folgen einer solchen Entscheidung werden von deutschen Politikern jedoch möglicherweise anders eingeschätzt.
Die Ukraine strebt einen gerechten und stabilen Frieden an. Wenn einige deutsche Politiker dazu aufrufen, Russland die Tatsache der bewaffneten Aggression zu verzeihen und zur Tagesordnung überzugehen, stoßen diese Aussagen in der Ukraine zumindest auf Unverständnis.
Die neue US-Regierung zwingt Europa mit ihren Äußerungen dazu, sein Sicherheitskonzept in der Region zu überdenken. Viele Jahre lang verließ sich Europa auf das US-Militär und seine strategischen Waffen, um Russland abzuschrecken. Nun hat die Bedrohung durch die Russische Föderation zugenommen, und die Vereinigten Staaten könnten ihr Engagement und ihre Präsenz im europäischen Sicherheitssystem verringern. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben viele europäische Länder die Wehrpflicht abgeschafft, die Militärausgaben reduziert und ihre Armeen verkleinert. Jetzt, angesichts wirtschaftlicher Probleme und Haushaltsdefizite, scheint die Erhöhung der Verteidigungsausgaben und die Vorbereitung der Bevölkerung auf eine mögliche Mobilisierung eine sehr ehrgeizige Aufgabe zu sein. Die nächste deutsche Regierung wird sie in Angriff nehmen und den europäischen Dialog in diesem Bereich moderieren müssen.
Die Ukraine sieht in Deutschland eine europäische Führungsmacht, die Handelsverhandlungen mit den Vereinigten Staaten führen, neue Regeln für den Handel mit China aufstellen und die Sicherheit in Europa gewährleisten kann. Die Ukraine plant, noch in diesem Jahr Verhandlungen über eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union aufzunehmen. Um diesen Prozess zu erleichtern, muss so etwas wie das Weimarer Dreieck geschaffen werden, das Polen einst geholfen hat, diesen schwierigen Weg zu beschreiten.
Die Ukraine hat sich in letzter Zeit aktiv mit den Erfahrungen des deutschen Nato-Beitritts auseinandergesetzt. Im Jahr 1955 trat nur die Bundesrepublik Deutschland ohne die östlichen Bundesländer dem Bündnis bei, aber nach der Wiedervereinigung erhielt das gesamte Gebiet kollektive Sicherheitsgarantien. Die Entscheidung Konrad Adenauers wird in der Ukraine als mögliches Modell für den Beitritt zum Bündnis gesehen, bei dem in der ersten Phase nur die von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete Sicherheitsgarantien erhalten werden.
Das Ende des Krieges in der Ukraine und der Aufbau einer neuen Sicherheitsarchitektur in Europa sollten ein Faktor für die Wiederbelebung des Wirtschaftswachstums sein. Die Ablehnung des billigen russischen Gases durch die meisten europäischen Verbraucher hat gezeigt, dass Werte wichtiger sind als Gewinne. Dennoch hat der Anstieg der Energiepreise die Korrektur der Pläne für einen „Green Deal“ und den Betrieb vieler Unternehmen beeinträchtigt. Es ist unwahrscheinlich, dass die Versorgung des europäischen Marktes mit russischem Gas in diesem Umfang wieder aufgenommen werden kann. Doch das Ende der Feindseligkeiten und das Vertrauen in die friedlichen Aussichten der Region werden eine Wiederaufnahme der Wirtschaftstätigkeit ermöglichen.
Nach dem Krieg plant die Ukraine ein umfassendes Wiederaufbauprogramm. Dabei geht es nicht nur um die Wiederherstellung der zerstörten Infrastruktur, sondern auch um die Schaffung einer neuen, in den europäischen Markt integrierten Wirtschaft. Die Ukrainer freuen sich auch auf das Interesse deutscher Investoren. Die in der Ukraine vertretenen Firmen Knauf und Henkel werden viele Aufträge erhalten.
Die Probleme in Deutschland und der gesamten Europäischen Union sind nicht das Ende Europas, sondern ein Grund für Reformen in der Wirtschaft, der Sicherheit und der EU-Governance-Strukturen. Und die neue Bundesregierung wird die deutschen Probleme nur im Zusammenhang mit der Entwicklung der gesamten EU lösen können.
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