Europa neu denken
Europa ist ein Traum, die europäische Integration zuweilen ein Albtraum. Wenn dieser einzigartige Kulturraum erstarken soll, brauche es ein paar neue Spielregeln
Ein gemeinschaftliches Europa ist in der Tat eine wunderbare friedenstiftende und wohlfahrtfördernde Idee. Nach den Schrecken zweier verheerender Weltkriege forderte schon im Jahr 1946 vor Studenten in Zürich Winston Churchill – von Richard Coudenhove-Kalergi inspiriert – mit seinen Schlussworten "Let Europe arise" die "Vereinigten Staaten von Europa", diese jedoch ohne Großbritannien, das – wie er schon 1930 formuliert hatte – mit seinem Empire "zu keinem einzelnen Kontinent, sondern zu allen" gehöre, oder wie er in Zürich repetierte: "Wir Briten haben unser eigenes (nun) Commonwealth, (das wie) das mächtige Amerika … Freund und Förderer des neuen Europas sein wird", bleiben also draußen. Den konkreten Anstoß gab dann aber erst Robert Schuman, 1886 mit einem Vater aus Lothringen als Reichsdeutscher geboren und 1919 zum Franzosen geworden, der 1950 noch als Außenminister mutig mit dem Anstoß zur Montanunion den ersten Integrationsschritt wagte, dem sich Konrad Adenauer auch zur Aussöhnung mit dem alten "Erzfeind" und zur Absicherung gegenüber der aggressiven kommunistischen Sowjetunion anschloss.
Doch die damit angestoßene Integration ist inzwischen auf Abwege geraten, auch deshalb, weil sie – wie es der Historiker Andreas Rödder [1] beschrieb – als "ein prinzipiell unendlicher Prozess ohne ein klar definiertes Ziel angelegt war", und ich füge hinzu: wohl auch zu Beginn, nur fünf Jahre nach dem Ende des so schmerzhaften 2. Weltkrieges, auch nicht anders angelegt werden konnte. Man träumte, wie Walter Hallstein, der erste Kommissionspräsident, und später Helmut Kohl mit seinem historischen Wissen und Pathos, weiter von den "Vereinigten Staaten von Europa" und vertraute auf eine "Sachlogik", welcher die einzelnen Schritte auf einer Integrationstreppe folgen sollten. Die unterschiedlichen politischen Interessen der Teilnehmerländer versuchte man in Kompromissen zu lösen, die in der Regel uneindeutig, auslegungsbedürftig und damit in oft heterogene Richtungen überstrapaziert wurden.
Nach vielen Fortschritten, insbesondere mit dem Binnenmarkt und seinen vier Grundfreiheiten zum Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, aber auch mit zahlreichen und gravierenden Rückschlägen, wagte man dann sogar, von Jaque Delors, einem starken Integrations-Spiritus-Creator getrieben, eine Währungsunion, und dies gegen den Rat renommierter Ökonomen, die auf die volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa hinwiesen. Selbstkritisch muss ich heute gestehen, dass auch ich damals die Reformkraft vor allem der Südländer überschätzt hatte, zumal der Stabilitäts- und Wachstumspakt zwar Zähne hatte, die Union aber jeden Beißwillen vermissen ließ. Rückblickend ein heute kaum mehr zu korrigierender Fehltritt mit gravierenden politischen und ökonomischen Auswirkungen, welche nun die Beitrittsfreude der noch im Euro-Club fehlenden Unionsmitglieder deutlich abgekühlt haben. Und diese Freude wird sich weiter abkühlen, sollte der französische und nun auch italienische Doppelschlag zur Ausweitung der Defizitgrenzen im Maastrichtvertrag und zur Ausweitung der Schulden der Union Erfolg haben.
Von Beginn an hatte die so wunderbare und mich stets faszinierende Idee einer europäischen Integration ihre Quelle in einem reichen kulturellen Erbe Europas, das Theodor Heuss [2], der erste Bundespräsident, anschaulich beschrieb mit den "drei Hügeln, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom". Ihre Umsetzung litt jedoch ebenfalls von Anfang an am Fehlen einer gemeinsamen Sprache. Doch das allein erschwert zwar die Verständigung, muss aber, wie uns in Europa die Schweiz und in Amerika Kanada lehren, kein gravierendes Hindernis sein. Wirklich belastend war jedoch, dass sich aus dem geschilderten gemeinsamen Erbe im Lauf der Jahrhunderte unterschiedliche politische und gesellschaftliche Kulturen entwickelt hatten. So in Frankreich ein unitaristisches und etatistisches Staatsverständnis, in Deutschland dagegen ein föderatives, marktwirtschaftliches, und – bleiben wir bei den ersten 6 Mitgliedern — in Italien, das wie Deutschland erst im 19. Jahrhundert zu einem Nationalstaat geformt wurde, fehlte im Gegensatz zu Deutschland von Anbeginn ein gemeinsames Nationalgefühl, blieb der Staat, blieb Rom stets ein lästiger Gegner von disparaten Interessen der Bürger.
Doch nicht nur diese historischen Defizite schwächten die Integration. Hinzu kamen politische Fehler, offensichtliche Mängel, welche die vorerwähnte Sachlogik empfindlich störten. So ein eklatantes Demokratiedefizit bei der Kommission und beim sogenannten Europäischen Parlament.
Demokratie, als ein universelles Prinzip in den freiheitlichen Verfassungen des Westens verankert, ist besonders anschaulich in Art. 20 Abs. 2 unseres Grundgesetzes beschrieben: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" und in den Vereinigten Staaten von Amerika mit den ersten drei Worten der Verfassung von 1787 "We, the people…", oder populär plakativ "one man - one vote".
Dieses universelle Prinzip der freien und gleichen Bürger wird nun im Wahlrecht zum Europäischen Parlament ausgehebelt, und zwar mit der dort fixierten degressiven Proportionalität. Danach vertritt zum Beispiel ein Parlamentsmitglied aus Deutschland rund 850.000 Heimatstimmen, sein Konkurrent aus Malta nur 70.000, so dass die Stimme des deutschen Wählers nur das Gewicht eines Bruchteils der Stimme aus Malta hat. Auch fehlt dieser Versammlung das Königsrecht des Parlaments, die volle Budgethoheit sowie ein unbeschränktes Recht zu Gesetzesinitiativen. Und schlussendlich bestellt das sogenannte Parlament zwar formal die Kommission und ihren Präsidenten, ist dabei aber an den Vorschlag des Europäischen Rates gebunden. Dieser setzte sich dann auch bei der Wahl des gegenwärtigen Präsidenten, also von Ursula von der Leyen, gegen den Wunsch und den Protest der Parlamentsmehrheit durch. Die Mitglieder dieses Rates sind in der Tat demokratisch gewählte Organe der Mitgliedstaaten, der Prinzipal also, die Kommission ist ihr Agent, nicht mehr und nicht weniger. Der Kommission selbst fehlt damit eine unmittelbare demokratische Legitimation.
Doch unabhängig von diesen offensichtlichen Legitimationsmängeln wurden weitere gravierende Fehler gemacht, insbesondere durch eine von Versprechen und Begeisterung getragene übereilte Erweiterung von ursprünglich sechs, mit Great Britain, Irland und Dänemark dann neun, sodann mit Griechenland, Spanien und Malta zwölf und schließlich mit den osteuropäischen Ländern 28, nach dem Brexit nun immerhin noch 27 Mitgliedstaaten. Hatte man schon bei den ersten Integrationsschritten auf das gravierende Wohlstands- und Wachstumsgefälle zwischen den noch wenigen Mitgliedstaaten kaum Rücksicht genommen, so verschärfte sich dieses Problem mit der beschriebenen Erweiterung der Gemeinschaft. Auch reduzierte diese rasante Vergrößerung die Anzahl und die Stärke der gleichgerichteten politischen Interessen. Sie strapazierte zudem und vor allem die in der Nachkriegszeit andersartig gewachsenen gesellschaftlichen und politischen Kulturen der osteuropäischen nachkommunistischen Länder. Noch heute prägen dort kollektive Gedächtnisse diese Kulturen, besonders sichtbar in Ungarn und Polen.
Die darauf reagierenden Versuche von Kommission und Europäischem Gerichtshof, die genannten Mängel zu kaschieren und die unterbrochene Sachlogik zu ergänzen, sind wahrlich Ausdruck eines schlichten Machtanspruchs und in ihrer Rechtfertigung mehr als kurios. So spricht die Kommission nun von einer "Werteunion" und beruft sich dazu auf Art. 2 des Vertrages über die Europäische Union. Und in der Tat beginnt dieser Artikel mit den hehren Worten: "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören." Das sind die Grundprinzipien der Union, die sich – unterschiedlich formuliert – in allen westlichen Verfassungen und auch in der Charta der Vereinten Nationen wiederfinden und überall dort – wie es Andreas Rödder [3] nennt – "das notwendige Minimum an Gemeinsamkeiten" darstellen. Sie besitzen zwar "eine notwendige und damit unerlässliche, jedoch nicht zugleich auch eine hinreichende Bedeutung" zur Ableitung konkreter Entscheidungen, wie es der hochrespektierte Rechtsphilosoph Karl Engisch [4] ganz generell schon 1956 zu allgemeinen Sollens- und Wertaussagen formuliert hatte, und zielgenau nun im Jahr 2018 zum Europarecht der Staatsrechtler Dietrich Murswiek [5], als er von "Aufladung von Vertragsbegriffen mit von den Vertragsstaaten nicht vorgesehenen Inhalten" sprach.
Ein allein auf diese Werte gegründetes Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Deutschland und nun auch gegen Polen sowie die von ihr angedrohten Sanktionen gegen Polen und Ungarn sind folglich ein untauglicher Versuch, das Principal-Agent-Verhältnis zwischen den demokratisch gewählten Repräsentanten des Souveräns, den nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat, einerseits und dem durch diese Repräsentanten ermächtigten Agenten, der Kommission, andererseits umzudrehen, oder – wie es kürzlich Andreas Voßkuhle, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts juristisch präzise, politisch jedoch wenig feinfühlig formulierte – "auf kaltem Weg den Bundesstaat einzuführen".
Und der Europäische Gerichtshof will dem nicht nachstehen. Er postulierte den generellen und absoluten Vorrang des Europarechts auch gegenüber den Verfassungen der Mitgliedstaaten und begründete dies ebenfalls mit dem zitierten Artikel 2 des Unionsvertrages. Höflich formuliert: in freier Rechtsfortbildung, präziser aber: jeder juristischen Methodik und Hermeneutik widersprechend erhebt er die dort genannten Grundlagen zu normativen Rechtssätzen, die es ihm gestatten, das Wahlverfahren zum polnischen Verfassungsgericht wegen des Einflusses der Legislative und der Exekutive für ungültig zu erklären. Dies müsste dann auch für das deutsche Wahlverfahren zum Bundesverfassungsgericht gelten, nach dem die Richter dort ebenfalls durch die Legislative mit dem Bundestag und die Exekutive mit den Ministerpräsidenten der Länder im Bundesrat bestimmt werden. Und eine Stufe niedriger: Da dieser Gerichtshof auch die Disziplinarkammer für Richter und das Weisungsrecht der Exekutive gegenüber Staatsanwälten in Polen nicht dulden mag, dürfte er diese auch in Deutschland nicht tolerieren.
Der vom EuGH beanspruchte generelle und absolute Vorrang des von ihm selbst geschöpften Europarechts kennt somit kein "ultra vires", räumt ihm damit auch die Dispositionshoheit über die änderungsfesten Bestimmungen unseres Grundgesetzes, wie sie dort in Art. 79 Abs. 3 fixiert sind, und damit ganz allgemein – wie es das Bundesverfassungsgericht formulierte – über den "unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität" ein. Noch präziser und anschaulicher wies unser Verfassungsgericht später darauf hin, dass der EuGH, gestützt auf die in Art. 2 beschriebenen Grundlagen der Union, für sich eine Kompetenz-Kompetenz zur Ausweitung des Europarechts beansprucht, ausbrechend aus den der Union von den Mitgliedstaaten eingeräumten Rechtsetzungsbefugnissen. Die Warnung von Andreas Voßkuhle vor einem "kollusiven Zusammenwirken von Kommission und EuGH" ist zwar gewiss ebenfalls nicht sehr feinfühlig, aber sicher nicht unberechtigt.
Nun hat die Kommission nach sechs Monaten das schon erwähnte Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingestellt. Sie hatte dieses wegen eines vom EuGH abweichenden Spruchs des BVerfG betrieben. Dieses hatte ein Staatsanleihen-Ankaufprogramm der EZB kritisiert, welches in der Tat mit dem Auftrag der Zentralbank zur Geldwertstabilität wenig zu tun hat, sehr viel mehr dagegen mit der Zinsentlastung reformunfähiger oder -unwilliger Mitgliedstaaten.
Und welch' ein Zufall: Die Einstellung geschah genau an dem Tag, an dem die nicht nur in Europa hochgeschätzte Angela Merkel in Deutschland mit einem großen Zapfenstreich verabschiedet wurde. Die Kommission hat sich damit aus einem für sie unlösbaren Dilemma befreit und zugleich angesichts der laufenden schweren Verfassungskonflikte mit Polen und Ungarn politisch klug gehandelt. Dort regieren die in Europa weniger geschätzten Populisten Kaczynski und Orbán, die allerdings vom Populus, ihrem souveränen Volk, gewählt sind. Diese Herren und ihre Völker mit rechtlich unbegründeten Sanktionen und in Polen mit einem – wie vordem in Deutschland – ebenso widersinnigen Vertragsverletzungsverfahren weiter in die Isolation und in den Widerstand zu treiben, ist gewiss weniger politisch klug.
Für solche unrechtmäßigen Souveränitätsansprüche europäischer Organe gibt es noch eine weitere und diesmal ausdrückliche rechtliche Bremse in den europäischen Verträgen. So hält Art. 5 Abs. 1 des Unionsvertrages fest: "Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit." Und mit diesem Zitat, mit dem Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip verlasse ich nun die Jurisprudenz, diese auf einem der drei Hügel des Abendlandes, dem Capitol in Rom begründete, dem Laien aber leider oft verschlossene und ihm auch deshalb verdächtige Geistes- und Kulturwissenschaft. Auch verlasse ich ebenfalls die Historie der Integration und wende mich der Gegenwart und der Zukunft und dem dafür außerordentlich hilfreichen und soeben aus dem Unionsvertrag zitierten Subsidiaritätsprinzip zu.
Der Erfolg des europäischen Traumes ist heute und in Zukunft für Frieden und Wohlfahrt der Menschen noch wichtiger als zu Robert Schumans Zeiten, da sich seit den ersten Integrationsschritten 1950 die Welt dramatisch verändert hat.
So ist – und damit beginne ich bei einer der bedeutsamsten Veränderungen – die Weltbevölkerung von damals 2,5 Milliarden auf inzwischen fast 8 Mrd. mit weiter steigender Tendenz angewachsen. Und da all diese Menschen nicht nur Durst haben, sondern auch Essen brauchen und viele von ihnen verständlicherweise nach einem besseren, einem glücklichen Leben streben, durfte uns die Migration eigentlich nicht überraschen. Auch verwundert es nicht, dass - mit diesem enormen Wachstum der Weltbevölkerung und mit den immer reiferen Technologien - bei der Interaktion von Mensch und Umwelt letztere auf die Verliererstraße geriet und der große Einfluss des Menschen auf den Klimawandel nicht mehr ernsthaft geleugnet werden kann.
Auch finden Ereignisse und Entwicklungen auf der Welt nun nicht mehr wie einst bei Goethe "hinten, weit in der Türkei", sondern in einer neuen Globalität statt, in der Menschen wie nie zuvor so vielfältig und intensiv miteinander verbunden sind; mit vielen Vorteilen, aber auch manchem Nachteil. Sodann ist diese Welt gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch viel multipolarer geworden. So gibt es auf ihr nicht nur gut 70 Staaten wie zu Robert Schumans Zeiten, sondern nunmehr rund 250. Auch rivalisieren auf ihr neue Großmächte mit der westlichen Staatengemeinschaft: ein aggressives Russland mit postsowjetischen Träumereien und ein expansives China mit einem von beachtlichen volkswirtschaftlichen und technischen Erfolgen getragenem Selbstbewusstsein. Und schließlich gibt es auf dieser Welt — vom Westen oft übersehen und missachtet – besonders wirkmächtige, Jahrhunderte, ja Jahrtausende alte unterschiedliche Traditionen, Kulturen und Lebensweisen, wie sie im Diskurs von Navid Kermani, dem Friedenspreisträger, und Jochen Buchsteiner in der FAZ vom 26. August und 1. September 2021 so anschaulich wie lesenswert beschrieben wurden. Zum "Clash of Civilizations" ist es zwar nun anders gekommen, als es 1996 Samuel Huntington recht grob vorausgesagt hatte, leider aber nicht weniger dramatisch.
Das alles kann hier nur erwähnt, nicht detailliert dargestellt und mit seinen zahlreichen und gravierenden Auswirkungen diskutiert werden. Heute seien dazu nur zwei mir wichtige Anmerkungen gestattet: Erstens sollten all diese Ereignisse und Entwicklungen in der Welt, schon in Deutschland und erst recht in Europa nicht – manchem Zeitgeist, so einer autokratischen Sehnsucht auf der einen oder einer deliberativen bis basisdemokratischen Träumerei auf der anderen Seite folgend – nicht zu einer Relativierung der Idee einer liberalen, repräsentativen Demokratie führen, ihre konstitutiven Regeln und ihre Institutionen schwächen. Denn diese Demokratie ist zwar anspruchsvoll und mängelbehaftet, aber doch die bessere aller denkbaren Gesellschafts- und Staatsformen, auch wenn ihre Schwächen nicht nur in Amerika, sondern auch bei uns in Deutschland immer offensichtlicher werden. Und zweitens wird mit den geschilderten Ereignissen und Entwicklungen überdeutlich, dass wir für Frieden und Wohlfahrt hier und in der Welt ein starkes, das heißt ein wesentlich stärkeres Europa brauchen. Und um dessen künftige Form geht es.
Und damit komme ich zum Subsidiaritätsprinzip. Dieses Prinzip geht – wie die Demokratie – von der Freiheit und Würde des Menschen aus, ist einfach, aber auch anspruchsvoll. Der Einzelne, jeder Bürger, soll das tun, was er selbst kann. Die nächsthöheren sozialen Gruppen und politischen Ebenen nur das, was den Einzelnen überfordert, diese also besser können, und so fortlaufend durch alle weiteren Hierarchien. In einer so gestaffelten, aufgestuften Ordnung stärkt die Handlungs-Legitimation an der Basis das Bürgerrecht, sichert Freiräume, auch für Experimente, ermöglicht demokratische Mitbestimmung nach Leistungsfähigkeit und gewährleistet zugleich die Gestaltungskraft der höheren Ebene für die jeweils größere gemeinsame Aufgabe. Auf jeder Stufe kann sich damit Gemeinsinn und Solidarität auch in einer vielfältigen Gesellschaft entwickeln, worauf der Politikwissenschaftler Herfried Münkler zu Recht hingewiesen hat.
Und so verwundert es nicht, dass dieses Prinzip uralt ist. Auf den beiden anderen der drei vorgenannten Hügel des Abendlandes, im Alten Testament [6] schon, und bei Aristoteles [7] finden Sie die Wurzeln des Prinzips. Von da ging es einerseits über zwei Enzykliken in die katholische Soziallehre und andererseits mit Immanuel Kant über den aufgeklärten Liberalismus in die westlichen föderalen Strukturen ein. Erprobt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und seinen Nachfolgern entwickelten sich im Staatsrecht verschiedene Formen des Föderalismus, so in Deutschland die Bundesrepublik mit den Exekutiven der Bundesländer im Bundesrat, in Amerika die Vereinigten Staaten mit dem direkt vom Volk gewählten Senat.
Das Subsidiaritätsprinzip ist aber – wie gesagt – anspruchsvoll und damit stets gefährdet. Und so verwundert es nicht, dass es selbst dort, wo es normativ fixiert ist, mit den Machttrieben der höheren Hierarchie zu kämpfen hat. So auch in Deutschland, wo – euphemistisch als Föderalismusreform verkleidet – der Bund den Ländern Gesetzgebungshoheit schlicht "abgekauft" hat und nun sogar die neue Bundesbildungsministerin mit einem "Kooperationsgebot" (!) für Länder und Kommunen deren Gestaltungskompetenz zur Bildungspolitik lahmlegen will. Und gleichermaßen in Europa mit der vom Staatsrechtler Rupert Scholz sogenannten "Expertokratie" gegenüber den Mitgliedstaaten, gestützt und erkauft mit Förderprogrammen für die Mitglieder. Und so verwundert es auch nicht, dass die heftigsten Feinde dieser Schwester der Demokratie die Autokraten der Vergangenheit und der Gegenwart sind, die sich dazu monotheistischer oder fiktiver Religionen bedienen, so Erdogan mit einem sunnitischen Staatsislam und Xi Jinping mit der vom "Hof"-Philosophen ZhaoTingyang [8] kürzlich publizierten neo-konfuzianistischen Harmonie-Lehre der "Großen Eintracht", nach der eine inclusive Koexistenz Voraussetzung der Existenz sei.
Nach diesem im Lauf der Geschichte bewährten und mit dem Unionsvertrag bindenden Subsidiaritätsprinzip sollten die Organe der Union die Vielfalt der gesellschaftlichen und politischen europäischen Wertprägungen und Kulturen berücksichtigen und dazu die Gestaltungssouveränität, die Rechtsautonomie der Mitgliedstaaten und die dort getroffenen demokratischen Entscheidungen respektieren. Das gilt zum Verfassungsrecht in Deutschland wie zur Auffassung von Rechtsstaatlichkeit in Polen, aber auch zu den Diskussionen mit Ungarn über LGBTQ. Erinnern wir uns doch bitte daran, dass in unserer Bundesrepublik die Strafbarkeit von Homosexualität endgültig erst 1994 abgeschafft und die gleichgeschlechtliche Ehe, die "Ehe für alle", erst durch eine namentliche Abstimmung im Bundestag am 30. Juni 2017, also weit später als in den Niederlanden und in Frankreich, zugelassen wurde. Wandel braucht eben Zeit!
Umgekehrt aber verpflichtet dieses Prinzip die Organe der Union, sich um die großen gemeinsamen Aufgaben zu kümmern, welche die Gestaltungskraft der Mitgliedstaaten übersteigen. Und da gibt es genug gewichtige und schwierige geopolitische und geoökonomische Themen in unserer multipolaren Welt. Denken Sie nur an die Außen- und Sicherheitspolitik, an die Asyl-, die davon zu unterscheidende Migrations- und die Entwicklungspolitik, an die Umwelt- und Klimapolitik, all dies mit ihren erwähnten großen demographischen Herausforderungen. Denken Sie weiter an die digitale Revolution und die Oligopol-Plattformen, die zu 90 Prozent (nach Marktkapitalisierung) in den USA und China sitzen, schon jetzt den Konzernen eine tiefgreifende Steuerung der Gesellschaft und des Individuums ermöglichen und nun an einem "Metaversum" vernetzter analoger und virtueller Realitäten bauen. Auch könnte sich, worauf Clemens Fuest kürzlich hinwies, die Kommission um eine bessere Koordination zu öffentlichen Gütern und zu Engpässen in Krisen kümmern, womit sie dann auch bei den Bürgern die oft fehlende Akzeptanz europäischen Handelns erhöhen würde. Das ist gewiss sehr gut gedacht vom Präsidenten des ifo-Instituts, aber bei 27 Kommissionsmitgliedern und mit den Erfahrungen bei der Impfstoffbeschaffung und der anfänglichen Blockade eines Covid-19-Therapeutikums bezweifle ich die erforderliche Gestaltungsfähigkeit der europäischen Organe.
Vor allem aber sind zu den genannten großen und schwierigen globalen Themen allenfalls schwache Ansätze in der Union zu erkennen, schlimmer noch: findet dort Europa gar nicht statt.
So in der Außen- und Sicherheitspolitik, die nicht nur in Afghanistan so eklatant gescheitert ist, gescheitert mit der noch von der letzten EU-Außenbeauftragten für diese Politik Federica Mogherini so hoch gelobten "soft power" einer erhofften kulturellen Anziehungskraft der liberalen, regelbasierten westlichen Demokratien zu einem "nations building" auch in Afghanistan. Während dort die Amerikaner nach ihrem Rückzug mehrere zehntausend Menschen ausflogen, schaffte es unsere so oft gescholtene und schwach ausgerüstete Bundeswehr, alleingelassen von ihren europäischen Freunden – die Franzosen hatten sich schon 2014 vom Hindukusch zurückgezogen – immerhin mehr als fünftausend Menschen zu retten.
Nun legte erfreulicherweise der neue EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erstmals ein zurückhaltend als "Kompass" bezeichnetes Konzept zur "hard power" vor, das auf eine hybride Kriegsführung, wie Cyberangriffe, Instrumentalisierung von Migranten, Söldnertruppen, auch auf geoökonomische Attacken der Aggressoren dieser Welt, Reaktionen der Union ergänzend zur Nato erlauben sollen; spät zwar, aber doch immerhin.
Für ein gemeinsames europäisches Handeln bei diesen großen Themen hinderlich sind gewiss die oft weit auseinanderliegenden Interessen der 27 Mitgliedländer, die ihren Kern in den dort unterschiedlichen kulturellen Prägungen haben. Und da jedes Mitglied bei diesen Themen zustimmen muss, also ein Vetorecht hat, geht nichts wirklich voran, ist es auch unrealistisch zu glauben, dass sich daran bald etwas ändern wird.
Diese beklagenswerte Untätigkeit, ja Blockade der Union kann wohl nur dadurch überwunden werden, dass sich die Organe auf einen kleinen "Kreis der Willigen" konzentrieren. Damit wird die Union zwar differenzierter und unübersichtlicher. Doch funktioniert hat so etwas bisher schon, wie uns – ein gutes Beispiel – der Schengen-Raum mit seiner Freizügigkeit und nur 22 Mitgliedern und – zugegeben ein gut gedachtes, aber letztlich missratenes Unterfangen – die Währungsunion mit nur 19 lehren.
Dieses Modell "der Willigen" vermeidet den Streit, die fruchtlosen Diskussionen über die nächsten Schritte zu "einer immer engeren Union", gibt den Zögernden Zeit zum Wandel, setzt Anreize bei Erfolgen den Schrittführern zu folgen und so mit ihnen auf der Integrationstreppe die Union weiter zu vertiefen.
Zum Schluss: Oft gab es in der Geschichte der Menschheit glanzvolle Ideen und Ereignisse und danach diese klug aufgreifend eine gute Entwicklung, nennen wir sie plakativ Formatio. Doch folgte ihr nicht selten eine törichte Deformatio und auf diese manchmal – Gott sei Dank – auch eine heilsame Reformatio. Eine solche Reformatio stieß im Jahr 2017 Emmanuel Macron an der Sorbonne mit seiner bemerkenswerten "Initiative für Europa" an, sprach sich dort für eine Neujustierung der Union aus, und zwar – für einen Franzosen überraschend – "unter Wahrung der Einheit in Vielfalt", plädierte für eine europäische Souveränität neben der nationalen, also kein binäres Entweder-Oder, sondern eine geteilte, verbindende. Folgerichtig plädierte er auch für eine "strategische Autonomie" bei Sicherheit und Verteidigung und damit für eine gemeinsame Sicherung der Außengrenzen.
Und er legte kürzlich nach, sprach sich auch für eine europäische Einwanderungs-, Asyl- und Rückführungspolitik sowie für grenzüberschreitende Zukunftsinvestitionen aus, warb aber zugleich um ein größeres Verständnis für die "Geschichte" und die nationalen Besonderheiten der osteuropäischen Mitgliedsländer. Und lassen Sie mich hinzufügen: endlich eine wirkliche Entbürokratisierung in Brüssel, beginnend mit einer – wie im Vertragsrecht vorgesehen – deutlichen Reduzierung der Anzahl der Kommissare. Und schließlich war es nicht nur für Macron folgerichtig, dass er als Antwort auf die von den USA einseitig ausgesprochene Kündigung des Vertrags mit Russland zum Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen, die zuvörderst Europa treffen würden, Verhandlungen der Union mit dem möglichen Aggressor forderte.
Dass auf all diese "Initiativen zu Europa" Deutschland, ein Kernland der Union und mit seiner Größe und Mittellage in besonderer Verantwortung, nicht antwortete ist genauso unverständlich wie die Tatsache, dass schon im Bundestagswahlkampf Europa und die großen weltpolitischen Herausforderungen nicht stattfanden, die Kandidaten lieber den hiesigen Kleingarten pflegten.
Und so nun auch im Koalitionsvertrag der "Ampel", wo erst ganz hinten Europa, erst ganz am Schluss, zusammen mit der ebenfalls nicht ganz unwichtigen und sehr wagemutigen Finanzierung der vielen innenpolitischen "Wir wollen …" und "Wir werden …", Europa mit den großen weltpolitischen Themen zu finden ist, und dort – wie es Björn Finke in der Süddeutsche Zeitung am 29. November 2021 formulierte – mit "vagen … Visionen". Dabei beließ es die neue Regierung auch bei ihren Antrittsbesuchen in Paris und Brüssel.
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Und sie entfaltet immer dann Wirkung, wenn die äußere Bedrohung und der innere Schmerz besonders groß sind. Dann wecken diese beiden – manchmal und auch rechtzeitig – die Einsicht, handeln zu müssen, und mit dieser Einsicht einen wirkungsvollen Einsatz. Das älteste mir bekannte Beispiel liegt genau 2500 Jahre zurück. Als die Akropolis in Athen von den Persern schon zerstört war, verjagten die vordem heillos zerstrittenen griechischen Stadtstaaten in der Meerenge von Salamis die weit an der Zahl überlegenen Aggressoren mit einer cleveren Technik, einer cleveren Strategie und einem cleveren Führer auf Zeit, retteten damit das Abendland und damals auch die Demokratie. Heute, da die Bedrohungen offenkundig sind, der Schmerz aber ebenso offenkundig als noch zu gering empfunden wird, hoffe ich auf eine rasch wachsende Einsicht und einen ihr folgenden wirkmächtigen Einsatz für unser Europa!
Und nur wenige Tage nach meinem Vortrag kam die bittere Erfahrung, dass erst die brutale Gewalt des Aggressors und das unermessliche Leid der Menschen in der Ukraine die Staatslenker Europas und der westlichen Welt zur Einsicht und zum gemeinsamen Handeln bewegten; eine besonders bittere Erfahrung, zu der selbst die spontane, überwältigende Welle der Hilfsbereitschaft der Menschen in Europa und der westlichen Welt nicht trösten kann.
Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Vortrag, den der Autor vor dem Rotary Club München-Mitte hielt. Nach dem Ausbruch des Krieges ergänzte er den letzten Absatz.
[1] Andreas Rödder: 21.0 Eine kurze Geschichte der Gegenwart. 2017, Seite 279
[2] Theodor Heuss: Reden an die Jugend. 1956, Seite 32
[3] Ebenda, Seite 299
[4] Karl Engisch: Einführung in das juristische Denken. 12. Auflage 2018 von Thomas Würtenberger und Dirk Otto, Seite 269
[5] Dietrich Murswiek: Die Mehrebenendemokratie – ein Ding der Unmöglichkeit? im Sammelband "Die Zukunft der Demokratie", 2018 von Friedrich Wilhelm Graf und Heinrich Meier, Seite 321
[6] Quelle nicht nur der Christen, davor der Juden und danach des Islam; dort im 2. Buch Mose, Kapitel 18, Sätze 17-23
[7] Aristoteles: Politik. 1. Buch, 2. Kapitel
[8] Zhao Tingyang: Alles unter dem Himmel, Vergangenheit und Zukuft der Weltordnung. 5. Auflage 2021, Seite 19
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