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Finnland: Nato oder Neutralität?

Forum - Finnland: Nato oder Neutralität?
Helsinki, 1963: Finnlands Staatspräsident Urho Kekkonen (r.) im engen Austausch mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow. Damals war Finnland der Sowjetunion deutlich näher als dem Westen. © picture alliance/sobolev valentin/tass

Die Tatsache, dass nur eine kleine Minderheit ihr Bedauern über die Abkehr von der ideologischen Tradition der Neutralität zum Ausdruck brachte, zeugt davon, dass die alte politische Elite die Wünsche der Massen falsch einschätzte.

Antero Holmila01.07.2023

In einer Rede, die er im Herbst 1961 im National Press Club in Washington, D. C., hielt, verglich der finnische Präsident Urho Kekkonen (im Amt von 1956 bis 1982) die außenpolitische Position Finnlands mit George Washingtons Abschiedsrede von 1796. Washington hatte den Kurs der Neutralität befürwortet, mit dem Ziel, wie auch Kekkonen betonte, „Treu und Glauben und Gerechtigkeit gegenüber allen Nationen zu wahren, Frieden und Harmonie mit allen zu pflegen“. Was Kekkonen seinen Zuhörern verdeutlichte, war die ideologische Haltung der finnischen Neutralität – Frieden, Harmonie und Gerechtigkeit gegenüber allen Nationen. Warum also glaubte Finnland bis Februar 2022 so leidenschaftlich an die Neutralität, und warum vollzog es innerhalb weniger Monate und mit großer öffentlicher Begeisterung eine komplette Kehrtwende?

Die flüssige Neutralität

Finnland befand sich nach dem Zweiten Weltkrieg in einer prekären Situation. Durch das Bündnis mit Hitler (1941–1944) wurde Finnland in die Kategorie der Besiegten eingeordnet, obwohl es souverän und unbesetzt blieb. Aus westlicher Sicht erschien die Sowjetmacht gewaltig und expansiv, und Finnland schien in eine Grauzone des Kalten Krieges gefallen zu sein – geopolitisch mit der sowjetischen Sphäre verbunden, kulturell und wirtschaftlich mit dem Westen. Doch auch Stalins UdSSR war durch den Krieg schwer gezeichnet und gab sich mit einer demokratischen, aber freundlichen Regierung in Helsinki zufrieden. Im Wesentlichen folgte die Politik dem Kurs, den die Großen Drei im Februar 1945 in Jalta festgelegt hatten. Die von Kekkonen in Washington gepriesene Neutralität des Kalten Krieges entsprang diesen historischen Gegebenheiten.

Die Neutralität, kodifiziert im finnisch-sowjetischen Vertrag von 1948 (Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand), war die Zukunft. Allmählich formte sie sich zur finnischen Identität. Die historische Weisheit, die von Kekkonen, seinen Nachfolgern und dem Kreml vertreten wurde, besagte, dass immer, wenn Finnland sich verbündet hatte, nichts Gutes dabei herausgekommen war. Diese Behauptung war historisch umstritten, aber das Gewicht der Zeit – die Atmosphäre der Finnlandisierung – sorgte dafür, dass die Ge schichts inter pre ta tion des Präsidenten kaum infrage gestellt werden konnte. Unter dem Radar der Öffentlichkeit nahm die finnische Neutralität jedoch die Form einer „flüssigen Neutralität“ an. Die Position war nicht starr und dogmatisch, sondern flexibel und pragmatisch und wurde auf der Ebene der militärischen Käufe aus dem Westen sowie der Vertiefung der Beziehungen in den Bereichen Bildung, Volkskultur und Wissenschaft praktiziert. Die Nato selbst wurde jedoch als offensiv, als zu Kriegstreiberei neigend und als destabilisierender Faktor in der europäischen Politik angesehen. Diese Sichtweise überdauerte den Kalten Krieg.

Die Ordnung nach dem Kalten Krieg

Als Präsident Mauno Koivisto 1992 Nato-Generalsekretär Manfred Wörner in Brüssel besuchte, begannen Spekulationen über eine mögliche Mitgliedschaft Finnlands in der Nato. Diese Gerüchte wurden jedoch umgehend zurückgewiesen und jedes Mal, wenn sie in den Medien auftauchten, konsequent dementiert. „Die Nato-Frage wurde als nicht relevant angesehen“ wurde zum neuen Mantra der Außenpolitik nach dem Kalten Krieg. Einer Umfrage aus dem Jahr 1992 zufolge befürwortete etwa ein Drittel der Finnen die Bündnismitgliedschaft, während weniger als die Hälfte dagegen war.

Gemäß dem Paradigma der flüssigen Neutralität trat Finnland 1994 dem NatoProgramm „Partnerschaft für den Frieden“ (PfP) bei und begann, die Kompatibilität mit der Nato zu verbessern, hielt sich aber von verbindlichen Verpflichtungen fern. Der rhetorische Schwerpunkt lag auf der EU und ihren politischen und wirtschaftlichen Strukturen, während verteidigungspolitische Fragen kaum erwähnt wurden. Gleichzeitig irritierte Helsinki die Tatsache, dass die Visegrád-Staaten und die baltischen Staaten rasch der Nato beitraten. Es gehört zum Erbe der Finnlandisierung, dass die politische Elite in Helsinki der Meinung war, die Balten und Polen litten unter einem antirussischen Komplex und destabilisierten mit ihrer Mitgliedschaft in der Nato die gesamte Ostseeregion.

Während der gesamten 2000er Jahre wurde die politische Debatte über die Beziehungen Finnlands zur Nato im Keim erstickt. Von den großen politischen Parteien vertrat nur die konservative Nationale Koalition (Kokoomus) 2006 eine Politik der Befürwortung der Mitgliedschaft, aber auch sie sprach sich nicht für eine öffentliche Diskussion aus. Die anderen Parteien, von der Mitte bis zur Linken, begnügten sich mit der sogenannten „NatoOption“, was hieß: Im Prinzip könnte Finnland irgendwann der Nato beitreten, aber in der Praxis wurde sogar die Debatte über das Für und Wider unterbunden.

In Ermangelung ernsthafter Diskussionen begnügten sich die Finnen mit der Formulierung „keine verwickelnden Bündnisse“, die der Neutralitätsposition George Washingtons nach dem Kalten Krieg entsprach. Jahr für Jahr bewiesen die Umfragen, dass die finnische Öffentlichkeit die Nato nicht befürwortete, während gleichzeitig akzeptiert wurde, dass sich das Militär immer mehr dem Nordatlantikpakt annäherte. Dennoch litten die Meinungsumfragen unter einer Bestätigungsverzerrung. Als die Frage nach der öffentlichen Unterstützung in der Weise umformuliert wurde, dass sie lautete: „Würden Sie die Nato-Mitgliedschaft unterstützen, wenn die Politiker sie unterstützen würden?“, waren die Finnen weitaus offener für einen Beitritt, aber die Unterströmung war deutlich. Die Frage der Mitgliedschaft war nicht zeitgemäß. Diese Situation blieb bis Februar 2022 bestehen.

Die Aufnahme Finnlands in die Nato erfolgte mit erstaunlicher Geschwindigkeit und überraschte alle, die Finnen, Putin und die Nato-Mitglieder, was durch die Analogie des US-Präsidenten Joe Biden unterstrichen wurde, wonach die Finnlandisierung auf den Kopf gestellt wurde: „Putin wollte eine finnisierte Nato, aber er bekam ein natoisiertes Finnland.“ Aus finnischer Sicht war das Bemerkenswerteste, dass es die breite Masse war, die Finnland in das Bündnis drängte. Da die politische Elite jahrzehntelang eine offene Debatte verhindert hatte, sah sie sich plötzlich in ihrer eigenen Trägheit gefangen. Selbst nachdem die Meinungsumfragen im März 2022 eine entscheidende Wende anzeigten, erklärte die Zentrumspartei – die Partei Kekkonens – nonchalant, dass die Frage der Nato-Mitgliedschaft auf dem für den Sommer anberaumten Parteitag behandelt werden würde. Diese Äußerung zeugt von der völligen Unkenntnis der seismischen Verschiebung, die sich durch die russische Eskalation des Krieges vollzog. Als bald klar wurde, dass die Finnen mit überwältigender Mehrheit den Nato-Beitritt befürworteten, vollzogen die Politiker eine Kehrtwende und reichten gemeinsam mit Schweden den Antrag ein. Die Tatsache, dass nur eine kleine Minderheit ihr Bedauern über die Abkehr von der ideologischen Tradition der Neutralität zum Ausdruck brachte, zeugt davon, dass die alte politische Elite die Wünsche der Massen falsch eingeschätzt hatte.

Antero Holmila
Antero Holmila ist Autor und außerordentlicher Professor für Geschichte an der Universität von Jyväskylä, Finnland. Er hat sich hauptsächlich mit der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und den Erinnerungen an den Krieg beschäftigt.

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